Es war ein Abend der endlosen eurovisionären Überforderung, der gestrige Supersamstag, an dem gleich acht Vorrunden und ein nationales Finale gleichzeitig um die Aufmerksamkeit des Grand-Prix-Fans rangen. Darunter mit den Semis der slowenischen EMA und der Eesti Laul diejenigen aus gleich zwei meiner liebsten Perlen-vor-die-Säue-Ländern, in denen jedes Jahr die allerschönsten Lieder unter die Räder kommen und stattdessen (fast) immer der größte Mist zum Song Contest geschickt wird. Die Esten trugen ihre Finalchancen ja bereits vergangenen Samstag zu Grabe (und vergaben gestern eine weitere Gelegenheit), in Ljubljana hingegen rettete man zu meinem großen Erstaunen gleich mehrere vielversprechende Titel ins EMA-Finale. Dennoch musste die Hälfte der 16 im EMA-Semi vorgestellten Songs draußen bleiben, und auch unter ihnen fanden sich Musterbeispiele dafür, was den Vorentscheid des ehemals jugoslawischen Bundeslands so wertvoll macht: der unerschütterliche Glaube nämlich an essentielle eurovisionäre Grundgerüste wie die Synchrontanz-Choreografie, die Windmaschine und das Bühnenrequisit, vor allem aber an musikalische Tugenden wie zügiges Tempo und eine Melodie.
Nuša Derenda hat angerufen und will ihr Bühnenoutfit zurück: die komplementärfarbene Anabel (SI).
So auf das Beispielhafteste zu beobachten bei der herausgewählten Anabel (aus Gründen der Handhabbarkeit muss ich mich hier auf die Ausgeschiedenen beschränken), deren uptemporäres ‘Pozitiva’ sicher nicht zu den Meilensteinen innovativen Songwritings zählt, in Punkto Eingängigkeit und Präsentation jedoch locker alles in den Schatten stellte, was bis dato beim so hochgelobten Melodifestivalen zu sehen und zu hören war. Auch Nika Zorjan demonstrierte mustergültig, wie man einen Eurovisionstitel auf der Bühne stringent präsentiert. Ihr Lied hieß ‘Uspavanka (Lullaby)’, also räkelte sie sich folgerichtig auf einem drehbaren Bett, umsprungen von zwei anmutigen, barfüßigen Tänzern in weißen Unterhemden, zwischen welchen sie sich verständlicherweise nicht entscheiden konnte. Hätte jede pflichtbewusste Schwuppe dieses Problem durch ein Sandwich gelöst, so ließ sich die müde getanzte Nika schließlich von ihren Galanen zudecken, die beide auf dem harten Bühnenboden übernachten mussten. Vermutlich schied sie deswegen aus. Kein Weiterkommen gab es auch für die ehemaligen slowenischen Vertreterinnen Tanja Ribič (1997) und ManuElla Brečko – ironischerweise, denn deren Song ‘Glas’ war zwar kein Kracher, aber allemal besser als das schreckliche ‘Blue und red’ von 2016.
Bei zwei solchen Kerlen könnte ich auch nicht einschlafen: Nika Zorjan (SI).
Vorentscheid SI 2018 (Semi)
EMA. Samstag, 17. Februar 2018, aus dem RTV SLO-Fernsehstudio in Ljubljana. 16 Teilnehmer/innen. Moderation: Vid Valič.# | Interpret/in | Titel | TV | Jury | Platz |
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01 | Anabel | Pozitiva | x | ||
02 | Tanja Ribič | Ljudje | x | ||
03 | King Foo | Žive sanje | x | ||
04 | Ina Shai | V nebo | Q | ||
05 | Indigo | Vesna | Q | ||
06 | ManuElla | Glas | x | ||
07 | Mila | Svoboda | x | ||
08 | Lara Kadis | Zdaj sem tu | Q | ||
09 | BQL | Ptica | Q | ||
10 | Proper | Ukraden cvet | Q | ||
11 | Nika Zorjan | Uspavanka | x | ||
12 | Marina Martensson | Blizu | Q | ||
13 | Nuška Drašček | Ne zapusti me zdaj | Q | ||
14 | Orter | Tisoč let | x | ||
15 | Gregor Ravnik | Zdaj je čas | x | ||
16 | Lea Sirk | Cirque | Q |
Jepp, der niedliche Blonde rechts ist als Schachbrett verkleidet. Das ist aber noch nicht das Schrillste am Auftritt von Dilemma (UA).
Doch auch die Ukraine, wo gestern Abend das letzte Semi der Vidbir stattfand, verfügt über ein untrügliches Gespür dafür, potentielle Hits wegzuwerfen und stattdessen den größten Driss weiterzuwählen. So schied am Samstag mit den Feierschwein-Blendgranaten von Dilemma und ihrer unwiderstehlich schubigen Atzenmusik-Nummer ‘Na Party’ eine kribbelbunte Spaßmachergruppe aus, die nicht nur durch lustige Kostüme wie z.B. einen rosa Pudel punktete, sondern auch durch so lässig wie perfekt zelebrierte Dance-Moves und dennoch sauber sitzende Töne. Aber Fun, so schwer mir das fällt, zu akzeptieren, ist ja beim Eurovision Song Contest schon lange verboten. Keinen Spaß verstehen auch bekanntlich viele Gläubige mit den Symbolen ihrer Religion, und so sorgte die Band Yurcash vermutlich für die ein oder andere erhobene Augenbraue. Verkleideten sich die Musical-Rocker doch als so eine Art von Beduinen, wobei der Frontmann mit seinen langen, offenen Wallehaaren nicht nur ein bisschen aussah wie Jesus, sondern auch stilisierte Dornen um seinen Ständer gewickelt hatte. Also, den vom Mikro. ‘Stop killing Love’, ihr Song, war sicher gut gemeint, jedoch ein einziges unverdauliches musikalisches Durcheinander.
Ist beim Waldspaziergang mal wieder im Geäst hängen geblieben: Illaria (UA).
Einen erbitterten Zweikampf um den auffälligsten Haarschmuck lieferten sich die familiennamenfreien Kontrahentinnen Illaria und Julinoza. Erste flocht sich, passend zu ihrem esoterischen Ethno-Klopfer ‘Syla’, ein naturnah anmutendes Geflecht aus dünnem Reisig, vergoldeten Vogelfedern und recyceltem Christbaumschmuck in die hennarote Mähne, so eine Art Waldfeenkrone. Pittoreske Instrumente, dreadlockige Backings und mystische grafische Elemente rundeten das Ganze ab, und hätte Illaria es unterlassen, zweisprachig auch in holprigem Englisch zu singen und operettenhaft zu jodeln, wäre daraus etwas Ansprechendes geworden. Mit sehr viel weniger Materialeinsatz, aber einer visuell eindrücklicheren Idee übertrumpfte jedoch Julinoza ihre Konkurrentin: sie hatte sich aus Bauschaum einen stilisierten Zipfelhut gebastelt, der in seiner schrägen Faszination sämtliche Aufmerksamkeit fesselte. Denn man überlegte unentwegt, ob sie nun die verschollene Mutter der Teletubbies sei oder bei ihr schlicht eine Sprungfeder locker. Darüber vergaß man völlig den schrecklichen Song, ein unfassbar zielloses, freejazziges Geklimper und Gejaule, das beim Zuhörer ohne die erfolgreiche visuelle Ablenkung sicher für aggressive Ausbrüche gesorgt hätte.
Die Hohepriesterin der Aluhut-Fraktion: Juli Noza (UA).
Vorentscheid UA 2018 (2. Semi)
Vidbir. Samstag, 17. Februar 2018, aus dem Kulturpalast der Technischen Universität in Kiew, Ukraine. 9 Teilnehmer/innen. Moderation: Serhiy Prytula.# | Interpret | Titel | TV | Jury | Gesamt | Platz |
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01 | Ingret Kostenko | Save my Planet | 03 | 02 | 05 | 07 |
02 | Mélovin | Under the Ladder | 09 | 08 | 17 | 01 |
03 | Julinoza | Hto ya? | 04 | 01 | 05 | 08 |
04 | Tayanna | Leyla | 07 | 09 | 16 | 02 |
05 | Kadnay | Beat of the Universe | 08 | 07 | 15 | 03 |
06 | The Yurcash | Stop killing Love | 03 | 05 | 08 | 06 |
07 | Mountain Breeze | I see you | 06 | 06 | 12 | 04 |
08 | Illaria | Syla | 04 | 05 | 09 | 05 |
09 | Dilemma | Na Party | 02 | 01 | 03 | 09 |
Krystle Carrington hat angerufen und will ihre Frisur zurück: Marju Länik (EE).
Nach der massiven Publikumsbeschimpfung letzte Woche möchte ich den Est/innen heute versöhnlich zurufen, was sie diesmal gut gemacht haben im zweiten und letzten Semi der Eesti Laul: die 60jährige Schlagersängerin Marju Länik zurückzuweisen, das war richtig. Obwohl jemand, der sich mit einer solchen Aufopferungsbereitschaft Verdienste um die klassische Achtzigerjahre-Haarhelm-Frisur erwirbt, eigentlich einen goldenen Elnett-Orden verdient. Wo wir gerade in den vergangenen Jahrzehnten meiner Jugendzeit herumschwärmen: was für ein sensationelles Stück Dance-to-Disco-Nostalgika lieferte der legendär tragische Eesti-Laul-Dauerpartizipant Rolf Roosalu denn da bitte mit ‘Show a little Love’ ab? Ob die Pet Shop Boys, George Michael, Bad Boys Blue, Jimmy Somerville, Erasure, Anita Ward oder Fancy: von allem, was die drei letzten Jahrzehnte des alten Jahrhunderts so geil machte, stecken winzige Spurenelemente in Rolfs Euroclub-Kracher. Der es vielleicht auch geschafft hätte, wenn man das Stück dem kompetenten, silberjäckchenbehangenen Fröhliche-Hausfrauen-Chor überlassen und diesen unsympathischen Typen mit dem wütend machenden Rüschenkragenhemd von der Bühne entfernt hätte.
Der Mann liefert ein Guilty Pleasure nach dem anderen ab. Und dennoch ist ihn sehen und “Bäh, geh weg”-denken eins: Rolf Roosalu (EE).
Doch leider musste ich auch gestern wieder die Hasskappe aufsetzen und meine Forderung nach kollektiver Entmündigung der Baltenbewohner/innen erneuern. Wieso zur Hölle ist das fabelhafte Gesamtkunstwerk ‘Tempel’ von Indrek Ventmann nicht im Finale? Ein knuffiger Blonder, der zu gechillt-verspielten Steeldrums und einem treibenden Beat stoisch und mit bewundernswerter Gelassenheit ein die Nerven beruhigendes Mantra vor sich hin singt, während ein Haufen aufgescheuchter Menschen nichts unversucht lässt, ihn aus der Fassung zu bringen, sei es durch Schubsen, Anschreien, das Zerschneiden des T‑Shirts, ungefragte Selfies oder – und dies würde vermutlich die meisten Grand-Prix-Fans in Nullkommanichts zu Hyänen machen – dem Verwuscheln der Haartolle? Wie nur kann man sich schon wieder die Chance entgehen lassen, durch eine spektakulär und stimmig erzählte Geschichte im Kollektivgedächtnis zu bleiben und sich so den Finalplatz beim Contest zu sichern? Ich zweifle mittlerweile nicht nur am Geschmack der Esten, sondern auch an ihrem Verstand.
“Mein Körper ist ein Tempel” – “Ja, steinalt und Tag und Nacht für jedermann offen” (Golden Girls): Indrek Ventmann (EE).
Vorentscheid EE 2018 (2. Semifinale)
Eesti Laul. Samstag, 17. Februar 2018, aus den ERR Studios, Tallin. 10 Teilnehmer/innen. Moderation: Kristel Aaslaid und Martin Veisman.# | Interpret | Titel | TV | Jury | Gesamt | Platz |
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08 | Metsakutsu | Koplifornia | 03 | 0734 | 02 | 030 | 05 | 09 |
01 | Marju Lanik | Täna otsuseid ei tee | 01 | 0566 | 04 | 039 | 05 | 10 |
05 | Indrek Ventmann | Tempel | 06 | 0957 | 03 | 038 | 09 | 08 |
02 | Rolf Roosalu | Show a little Love | 04 | 0862 | 06 | 056 | 10 | 07 |
04 | Eliis Pärna + Gerli Padar | Sky | 10 | 1303 | 01 | 022 | 11 | 06 |
09 | Girls in Pearls | Spellbound | 02 | 0705 | 10 | 091 | 12 | 05 |
06 | Evestus | Welcome to my World | 05 | 0873 | 08 | 075 | 13 | 04 |
10 | Nika | Knock Knock | 08 | 1019 | 07 | 058 | 15 | 03 |
07 | Karl Kristjan Kingi, Karl Killing, Wateva | Young | 12 | 1791 | 05 | 050 | 17 | 02 |
03 | Frankie Animal | (Can’t keep calling) Misty | 07 | 0972 | 12 | 112 | 19 | 01 |
Oh, und was ist mit den gestrigen Semis in Schweden, Lettland und Island? Bitte → hier entlang!
Besonders bemerkenswert an Indrek Ventmann: Seine Performance war eine Hommage an Yoko Onos “Cut Piece”. Ich werde ihn neben den fantastischen Girls in Pearls, die (leider?) ihren langsamsten 80er-Clubtrack ins Rennen gebracht haben, schmerzlich im Finale vermissen. Ich wette, ihre anderen beiden Singles hätten deine Aufmerksamkeit an sich gezogen.
Oh ja, es gab zwar mit Evestus, Frankie Animal und Nika ausgesprochen erfreuliche Nummern für das Finale, wovon hoffentlich eine dieses elende Opern-Geknödel schlagen kann , aber warum der Tempel die sich vor Angst auf der Bühne einnässenden Welpen oder die Kitschnummer von dem Padar seiner Schwester nicht hinter sich lassen konnte, erschließt sich wohl niemandem.
#Tempelgate!