Bin ich mittlerweile einfach zu verwöhnt, zu überkritisch? Ist es vermessen von mir, zu verlangen, dass das Rad mit jeder Performance neu erfunden wird? Kann ich mich mit meiner ständigen Originalitätserwartung einfach nicht mehr erfreuen an solide gemachten Liedern und Auftritten? Oder woran liegt es, dass mir das Melodifestivalen, der heilige Gral der Eurovisionsvorentscheidungen, in diesem Jahr so über die Maßen lahm vorkommt, die Songs so schwach, die Darbietungen so uninspiriert? So, als läge eine einzige, abgrundtiefe Müdigkeit über dem schwedischen Vorauswahlverfahren, ein Mehltau, über den keine Choreografie, kein Glanz und Glitter mehr hinwegtäuschen kann? Am augenfälligsten wehte dieser Eindruck am gestrigen Samstagabend beim Auftritt der im dritten MF-Semi Letztplatzierten Barbi Escobar herüber, die ein wenig aussah wie Sabrina Setlur (→ Vorentscheid DE 2004) nach exzessivem Schlafentzug: so fahl und ausgezehrt, dass man sich nicht wunderte, warum sie für ihren Titel ‘Stark’ das wichtigste Requisit vergaß, nämlich einen Refrain. Da half es auch nichts mehr, dass ihre Tänzer/innen versuchten, auf der Mello-Bühne neue Langstreckenrekorde aufzustellen.
Lass mich raten, Barbi: Dein Kind ist jetzt vier Monate alt und Du hast seit der Geburt kein Auge mehr zugemacht (SE)?
Ein berechtigtes Aus ereilte auch eine Sängerin namens Dotter, deren Beitrag nun wirklich nicht als das Gelbe vom Ei bezeichnet werden konnte; sowie die in jedem Mello-Jahrgang offensichtlich vom schwedischen Heimatministerium fest vorgeschriebene Brauchtumsnummer, diesmal dargeboten von einem halslosen Mann namens Kalle Moraeus und einer Trachtentanzgruppe, die Das große Kitschfest der heteronormativen Spießigkeit inszenierte. Hoffentlich kommt Horst Seehofer jetzt nicht auf dumme Gedanken hinsichtlich des deutschen Vorentscheids 2019! Natürlich ging der ‘Despacito’-Trend auch am Mello nicht vorüber: neben der Escobar und einem mittelmäßigen Alkoholverherrlichungsliedchen namens ‘Cuba Libre’ sorgte der gebürtige Chilene Leopoldo Mendez für einen moderaten Lateinamerika-Flavour. Wobei der glatzköpfige Endvierziger, der mit seinen Tätowierungen, einer fetten goldenen Prolex am Arm und seiner Türsteher-Statur wirkte, als sei er der Zuhälter von Barbi Escobar, das Kunststück fertig brachte, abwechselnd in gleichermaßen schlechtem Englisch und Spanisch zu gruscheln. Sprich: seinen Text zugleich zu gröhlen und zu nuscheln.
Erstaunlich: trotz seiner Wurzeln wirkte Mendez in etwa so authentisch südamerikanisch wie Guri Schankes ‘Ven a Bailar conmigo’ (NO 2007).
Vorentscheid SE 2018 (3. Semi)
Melodifestivalen. Samstag, 17. Februar 2018, aus der Arena in Malmö. Sieben Teilnehmer/innen. Moderation: David Lindgren.# | Interpret/in | Titel | Punkte | Platz |
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01 | Martin Almgren | A bitter Lullaby | 944.532 | 01 |
02 | Barbi Escobar | Stark | 426.768 | 07 |
03 | Moncho | Cuba Libre | 616.069 | 04 |
04 | Jessica Andersson | Party Voice | 890.828 | 02 |
05 | Kalle Moraeus + Osa Spelmän | Min Dröm | 596.480 | 05 |
06 | Dotter | Cry | 511.718 | 06 |
07 | Mendez | Everyday | 793.110 | 03 |
Ein Haus weiter, im zweiten Semifinale des isländischen Söngvakeppnin, feierten unterdessen die goldenen Jahre der Disco-Ära ihre hoch willkommene Wiederauferstehung. Und zwar mit dem Titel ‘Svaka stuð’, den ich mangels Sprachkenntnissen mit “Schweinischer Hengst” übersetzt hätte, Google jedoch vielsagend mit ‘Schwache Beulen’. Nun denn. Stefanía Svavarsdóttir, Agnes Marinósdóttir und Regína Magnúsdóttir schmissen sich jedenfalls in ihre feinsten Glitzerfummel und lieferten eine liebenswert amateurhaft aussehende Synchron-Choreografie ab. Ein wenig verstörend hingegen der schmalzhaarige DJ, der sich im letzten Drittel des Songs als Vortänzer in die Meute schmiss und von dem ich schwören würde, dass es derselbe Typ ist, der schon Andrea Demirovićs Darbietung von ‘Just get out of my Life’ (→ ME 2009) versaute. Natürlich schieden die drei Dóttirs vom Grill aus, womit man auch das Finale des Söngvakeppnin 2018 getrost zu den Akten legen kann, das nun mehr oder minder ausschließlich aus hübschen Blondinen beiderlei Geschlechts mit völlig belanglosen Liedlein besteht.
Bronze, Silber und Gold / hab ich nie gewollt / ich will nur Fisch: die drei Dóttirs (IS).
Vorentscheid IS 2018 (2. Semi)
Söngvakeppnin. Samstag, 17. Februar 2018, aus dem Háskólabíó Kino in Reykjavik, Island. 6 Teilnehmer/innen. Moderation: Ragnhildur Steinunn Jónsdóttir.# | Interpret | Titel | Televoting | Platz |
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01 | Aron Hannes | Golddigger | Q | |
02 | Áttan | Hér með þér | Q | |
03 | Dagur Sigurðsson | Í stormi | Q | |
04 | Stefanía Svavarsdóttir, Agnes Marinósdóttir, Regína Lilja Magnúsdóttir | Svaka stuð | x | |
05 | Þórir Geir Guðmundsson + Gyða Margrét Kristjánsdóttir | Brosa | x | |
06 | Rakel Pálsdóttir | Óskin mín | x |
Spoileralarm: Jenny konnte sich innert ihrer drei Minuten aus den Fesseln des Kapitals befreien (LV).
Im dritten und letzten Semifinale der Supernova scheiterte am gestrigen Samstag eine lettische Budget-Shakira namens Jenny May, die mit ‘Soleyoh’ ‘Soledad’ einen weiteren der mittlerweile gefühlt vierhundert ‘Despacito’-Klone der laufenden Vorentscheidungssaison darbot. Und dabei unter Beweis stellte, dass phonetisch eingeübtes Spanisch genau so wenig authentisch klingt wie radebrechendes Ostblock-Englisch. Nicht ins Finale schaffte es auch der unverzichtbare jährliche Beitrag aus der Feder von Aminata Savadogu (→ LV 2015), den sie diesmal einem blassen Jüngelchen namens Ed Rallidae anvertraute, nachdem ihr vorhergehendes blasses Bübchen Justs Sirmais (→ LV 2016) heuer die Supernova moderierte und daher nicht mehr als Interpret zur Verfügung stand. Eine schlechte Wahl: der extrem kurzatmige (und noch nicht mal niedliche) Ed vernuschelte seinen Text so hart, dass ich mich wunderte, weswegen er an einer Stelle ein ums andere Mal wie in höchster Not das Wort “Ballerina!” hervor stammelte. Aber nein: er sei “barely breathing”, sollte das heißen. Ach so: psychisch bedingtes Asthma! Okay, das erklärt den keuchenden Gesang.
Oder wie Helene Fischer sagen würde: “Atemlos / Durch die Nacht”: Ed Rallidae (LV).
Ein wenig verstörend auch der Auftritt des Duos Kris & Oz, eines allem Anschein nach gerade heftig trippenden Gitarristen und einer aparten, als Ananas angezogenen Mulattin, die zu einer entspannten Airport-Hintergrundbeschallungsmusik von ihrem Frühflug nach “Bambadiboo” (ein mir bislang nicht bekanntes Südsee-Atoll, gleich neben Atlantis?) berichtete. Und dabei mit einem derartigen Weltekel in die Kamera schaute, als sei sie dorthin mit Trump Air geflogen und dabei das Opfer einer der berüchtigten “Grab ‘em by the Pussy”-Angriffe des seinerzeitigen Eigners der längst insolventen Linie geworden. Ohne Befund blieben die ebenfalls am gestrigen, heftigen Super-Samstag zeitgleich gelaufenen Vorrunden in Ungarn und Litauen, wo in der jeweils drölfundsiebzigsten Runde von A Dal und Eurovizija noch ein paar komplett egale Beiträge herausflogen und ein paar noch egalere Beiträge drin blieben. Lustig allenfalls ein spektakulärer Stimmensplit im baltischen Nachbarland, wo die singende Kröte Marija null Punkte von der Jury erhielt und die Höchstwertung der Zuschauer/innen. Beides übrigens zu Unrecht.
Just say no: Kris & Oz (LV).
Vorentscheid LV 2018 (3. Semi)
Supernova. Samstag, 17. Februar 2018, aus dem Rīgas Kinostudija, Riga, Lettland. 7 Teilnehmer/innen. Moderation: Justs Sirmais + Dagmāra Legante.# | Interpret | Titel | TV | Jury | Platz |
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01 | Jenny May | Soledad | 6. | 7. | 07 |
02 | Ed Rallidae | What I had with you | 3. | 5. | 04 |
03 | Katrīne Lukins | Running red Lights | 5. | 6. | 06 |
04 | Lauris Valters | Lovers Bliss | 4. | 2. | 02 |
05 | Mionia | You | 7. | 3. | 05 |
06 | Kris & Oz | Morning Flight | 2. | 4. | 03 |
07 | Laura Rizzotto | Funny Girl | 1. | 1. | 01 |