So, heute Abend gilt’s. In gut vier Stunden beginnt er, der deutsche Vorentscheid 2018 unter dem schönen Titel Unser Lied für Lissabon. Fleißig schraubte der NDR nach den wenig ruhmreichen Ergebnisse der Vorjahre an der Vorauswahl der sechs Teilnehmer/innen der heute Abend aus Berlin-Adlershof gesendeten und sowohl im Ersten wie auf dem Digitalsender One übertragenen Show. Eine aus jungen Fans plus eine aus internationalen ESC-Juroren und ‑Teilnehmer/innen wie z.B. Margaret Berger (NO 2013) zusammengesetzte Jury waren an der Auswahl beteiligt und dürften auch beide in der heutigen Sendung zu jeweils einem Drittel mitstimmen. Ausdrücklich suchte der NDR-Verantwortliche Thomas Schreiber diesmal „kantige“ Acts, um den in den letzten Jahren unweigerlichen letzten Plätzen mit miserabler Mainstream-Mucke endlich zu entkommen. Daneben veranstaltete der NDR ein Songwriting-Camp, bei dem international erfolgreiche Komponisten (unter ihnen der finnische ESC-Teilnehmer von 2011, Paradise Oskar) und Produzenten den ausgewählten Super Sechs zur Seite standen. Bei der Hälfte der Titel schrieben sie letztlich mit. Ob es was gebracht hat? Urteilen Sie selbst: Das sind unsere Lieder für Lissabon in Startreihenfolge.
#1: Natia Todua – My own Way
Bei der aktuellen The-Voice-Siegerin ist von der neuen Kantigkeit noch nicht all zu viel zu spüren. Ihr Beitrag ‚My own Way‘ ist klassischer, gutgemachter Radiopop und gewinnt allenfalls durch Natias besondere Stimme an Format. Und die mag man oder man mag sie nicht: von Lou (→ DE 2003) bis Erykah Badu reichten die Vergleiche schon. Ob wir uns mit ihr aus der “angestrengtes Popmädchen”-Schiene der letzten Jahre befreien können, mag dahingestellt bleiben.
#2: Ryk – You and I
Rick Jurthe zählt sicherlich zu den kontroversen Acts des Abends. Seine für meine Ohren einfach nur völlig depressiv stimmende Ballade schläfert die meisten Zuhörer/innen innerhalb von Sekunden ein. Es soll aber auch Menschen geben, die Feuer und Flamme für das Lied sind, das aber auch angeblich erst nach mehrfachem Hören zündet. Das ist in solchen Wettbewerben aber zu spät.
#3: voXXclub – I mog Di so
Und der nächste kontroverse Act gleich hinterher. Die Vorstellung, eine eine bajuwarisierte Skihütten-Schlager-Boyband für Deutschland zum Song Contest zu schicken, erfüllt feinfühligere Menschen meist mit Abscheu und Entsetzen. Andere (wie ich) finden’s toll: der Song fetzt, der Refrain bleibt im Ohr und der Text kommt sogar recht grandprixesk daher, mit einer schönen Inklusionsbotschaft und globalem Anspruch. Ob das international funktioniert? Warum nicht: Laune verbreiten die kernigen Burschen, und eine gute Choreografie hat noch geschadet. Es wäre jedenfalls mal etwas radikal Anderes.
#4: Xavier Darcy – Jonah
Nach den eher derben Volksmusikanten dürfte der handgemachter Singer-Songwriter-Poprock des Bayern Xavier Darcy für manche wie eine Erholung wirken. Für andere vielleicht aber auch vergleichsweise unauffällig. Wobei ‘Jonah’ sowohl mit zügigem Tempo als auch mit Darcys wunderbar rauen Stimme punkten kann. Ob das reicht?
#5: Ivy Quainoo – House on Fire
Und hier sind wir wieder zurück in alten Gefilden: netter Radiopop, der sich wunderbar weghören lässt und bei dem die Berlinerin auch ihre versatile Stimme bestens präsentieren kann. Was mir allerdings fehlt, ist die Leidenschaft: davon, dass das „Haus in Flammen“ stehen soll, lässt sich leider nicht wirklich etwas vernehmen. Ob Ivy das mit ihrer Ausstrahlung wettmachen kann?
#6: Michael Schulte – You let me walk alone
Auf dem letzten Startplatz schließlich der Favorit in den meisten Fan-Umfragen. Der norddeutsche Liedermacher Michael Schulte erinnert zwar gelegentlich ein bisschen an das liedgewordene Grauen James Blunt. Sein Beitrag aber funktioniert über die Lyrics: es ist eine Liebeserklärung an seinen Vater, und wie ich auch, können es viele Menschen nicht hören, ohne in Tränen der Rührung auszubrechen. Sein Plus: er klingt echt und zutiefst persönlich.
Es moderieren die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis und der Quizshow-Dauerpanelist Elton. Als Pausenprogramm stellt das The-Voice-Kids-Sternchen Mike Singer seine neue Single ‚Déjà vu‘ vor. Die Abstimmung erfolgt dreigeteilt: Televoting, das deutsche Eurovisionspanel und die internationale Jury geben immer abwechselnd ihre Punkte von 5 von 12 durch, die jeweils zu einem Drittel für das Endergebnis zählen. Sollte ich eine Prognose wagen, so tippe ich auch Michael Schulte oder die Buam vom voXXclub (die allerdings am ehesten an der internationalen Jury scheitern könnten). Mit beiden Acts wäre ich in höchstem Maße einverstanden. Eine Nachberichterstattung wird hier übrigens frühestens Freitagnachmittag zu finden sein. Bis dahin bitte ich um ein wenig Geduld. Viel Spaß heute Abend!
Ich bin gespannt ?
Es gibt aber auch Menschen, die Feuer und Flamme für Ryks Lied sind, und das schon beim ersten Hören! ?♂️
Ryk’s Lied klingt in meinen Ohren wie die Vollzugsaufforderung für depressive Selbstmordkandidaten.
Müsste ich das öfter hören, würde es mich krank machen.
Also bitte nicht im Radio spielen. Ich will das nicht hören.
“Sein Beitrag aber funktioniert über die Lyrics”
Naja… das eben gerade nicht. Ich weiß ja nicht, welche Sprache er da knödelt, aber Englisch ist das nicht. Gerade hier in diesem Blog macht man sich oft (mit vollem Recht!) über das schlechte Englisch einzelner Barden lustig. Der Herr Michael wär da eine sehr dankbare Zielscheibe für solche Kritik.