Sie ist eingetreten, die einerseits erwartete und andererseits undenkbare Katastrophe. Mit, wie man hört, 70% der Anrufe und der vollen Jury-Unterstützung schickt mein einstmals geliebtes Estland, der kleine, heldenhafte Baltenstaat, die Nation des unnachahmlichen “Estonian Cool” das vielleicht schlimmste Machwerk aus der furchtbarsten Musikgattung der Welt zum Eurovision Song Contest 2018. Die Sopranistin Elina Netšajeva (englische Schreibweise: Nechayeva), im Vorjahr noch Moderatorin des Eesti-Laul-Semis, gewann gestern mit dem pompösen Popera-Stück ‘La Forza’ den Vorentscheid ihres Heimatlandes und spaltet nun die Fan-Nation in zwei erbittert sich gegenüberstehende Lager: während (erstaunlich viele) Menschen mit einer chronischen Geschmacksbehinderung bereits die Hotelzimmer für Tallinn im Mai 2019 reservieren, winden sich andere, so wie der Rezensent, mit krampfenden Eingeweiden auf dem Boden und hoffen auf die Gnade eines Hörsturzes. Denn natürlich, langjährigen Leser/innen dieses Blogs muss ich es nicht erläutern, ist Popera des Teufels, außer, sie kommt als selbstironischer, augenzwinkernder Trash daher wie bei ‘La Voix’ (→ SE 2009) oder ‘Cvet z Juga’ (→ SI 2007). Die ehemalige Estland-sucht-den-Superstar-Absolventin liefert ihre lose Auflistung zusammenhangsloser italienischer Opernzitate jedoch mit heiligem Ernst ab.
Verpasste vor ihrem Auftritt anscheinend schnell noch Disco Stu einen Handjob: Elina.
Noch nicht einmal unfreiwillig lustig ist ihr Lied, so wie beispielsweise das in seiner hemmungslosen Schlagerhaftigkeit und selbstverliebten Grandezza schon wieder amüsante Guilty Pleasure ‘Grande Amore’, der Publikumssieger von 2015. Oder der legendäre Nilpointer ‘Opera’ (→ TR 1983). Und wiewohl ich mir sehnlichst wünschte, dass ‘La Forza’ alleine schon aus Gründen der geschmacklichen Erziehung der Esten mit demselben Ergebnis nach Hause zurückkehren möge wie dereinst Çetin Alp, so fürchte ich doch, dass das tatsächliche Ergebnis näher bei Il Volo liegen wird. Denn bekanntlich darf beim Song Contest nur die Jury hassvoten, nicht aber die Zuschauer/innen. Es ist zum Verzweifeln! Nun hatten die Baltenbewohner bereits in den beiden Vorrunden des Eesti Laul alle halbwegs brauchbaren Titel gnadenlos ausgesiebt, im gestrigen Finale blieb Elina kein würdiger Gegner mehr. Auch der in der ersten Wertungsrunde zweitplatzierte possierliche Jüngling Vajé, welcher der noch immer verloren in Verona umherirrenden ‘Laura’ gesanglich seine Hilfe anbot und auf den ich bis zuletzt all meine Hoffnungen setzte, konnte ihr nicht gefährlich werden. Er musste sich im superfluiden Superfinale gar mit dem Bronzeplatz zufrieden geben, auf den letzten Metern überholt vom schwarzgefärbten Pudel Stig Rästa (→ EE 2015).
The grabbing Hands / grab all they can: Vajé.
Dabei hätte es das estnische Publikum in der Hand gehabt: bis auf die Netšajeva votete es alle Jurylieblinge gezielt soweit herunter, dass sie den Einzug ins Superfinale verpassten, sowohl das eigentlich ganz hübsche ‘Misty’ der Band Frankie Animal, bei dem noch mal ein letztes leises Aufglimmen des bereits oben betrauerten Estonian Cool durchschimmerte, als auch das rundheraus furchtbare ‘Thousand Words’ von Sibyl Vane, die sich angezogen hatte, als wolle sie gleich nach dem Eesti-Laul-Auftritt wieder mit dem Wachtturm in der Hand Aufstellung in der Fußgängerzone beziehen. Krachend scheiterte das aufwändig in Szene gesetzte ‘Welcome to my World’, dessen Endzeit-Bühnenbild eigens eine verlängerte Umbaupause beanspruchte, welche der Sender ERR mit einem seiner zahlreichen gefilmten Sketche überbrückte. Leider konnte Estevus’ müdes Emo-Gejaule, das klang, als habe ein hochdepressiver, ausgebrannter Marylin Manson auf Valium einen Song geschrieben und dann zu Recht weggeworfen, musikalisch nicht mit der Inszenierung mithalten. Immerhin zeichnete sich der Beitrag durch Kürze aus.
Nee, an seiner Welt möchte ich nicht teilhaben. An der des Keyboarders schon eher!
Vorentscheid EE 2018 (Finale)
Eesti Laul. Samstag, 3. März 2018, aus der Saku Suurhall, Tallin. 10 Teilnehmer/innen. Moderation: Meelis Kubo und Ott Sepp.# | Interpret | Titel | TV | Jury | Gesamt | Platz | Super |
---|---|---|---|---|---|---|---|
01 | Karl Kristjan Kingi, Karl Killing, Wateva | Young | 08 | 05.786 | 03 | 047 | 11 | 06 | – |
02 | Eliis Pärna + Gerli Padar | Taevas | 03 | 02.308 | 01 | 034 | 04 | 10 | – |
03 | Nika Prokopjeva | Knock Knock | 01 | 01.991 | 04 | 050 | 05 | 09 | – |
04 | Sibyl Vane | Thousand Words | 04 | 02.898 | 10 | 086 | 14 | 04 | – |
05 | Stig Rästa | Home | 07 | 05.714 | 07 | 079 | 14 | 03 | 02 | 09.686 |
06 | Vajé | Laura (Walk with me) | 10 | 05.995 | 05 | 051 | 15 | 02 | 03 | 08.506 |
07 | Elina Netšajeva | La Forza | 12 | 37.628 | 12 | 113 | 24 | 01 | 01 | 43.445 |
08 | Frankie Animal | (Can’t keep calling) Misty | 02 | 02.031 | 08 | 085 | 10 | 07 | – |
09 | Iiris Veski + Agoh | Drop that Boogie | 06 | 03.427 | 06 | 052 | 12 | 05 | – |
10 | Evestus | Welcome to my World | 05 | 02.977 | 02 | 041 | 07 | 08 | – |
Liebe Esten, könnt ihr anstelle von Elina nicht einfach ihn nach Lissabon schicken? Mein ewiger Dank würde Euch verfolgen, versprochen!

“Grande Amore” hatte wenigstens eine erkennbare Melodie und “La Voix” wurde, dank Malena, mit einer gesunden Portion Selbstironie vorgetragen. “La Forza” ist einfach nur kalt und steril. Estland hat im Lauf der Jahrzehnte mehrere exzellente Beiträge gehabt (1997, 1999, 2009, 2012, 2015), aber leider auch mit einem grottigen Lied gewonnen (2001). Hoffentlich wiederholt sich eine solche Tragödie nicht mit diesem kalkulierten Geschrei.
Grau! en! voll!
Man kann eigentlich nur hoffen, dass der Fummel mitten im Vortrag einen Kurzen verursacht. 😛
Als musikalischer Allesfresser find ich erstmal alles gut was aus dem öden Einheitsbrei belangloser Popliedchen heraussticht, und da gehört diese melodiearme, sterile aber gut präsentierte Nummer auch dazu.
So gesehen bin ich z.B. von Azerbajian mehr enttäuscht als von der Wahl Estlands…
Immerhin gabs mit NL, MD und HU auch ein paar Highlights in dieser sonst drögen Woche
Elina hat da was falsch verstanden: “Wer schön sein will, muss leiden” bezieht man auf sich selbst, das Publikum soll eben NICHT leiden müssen!
Aber immerhin endlich mal was zum Mitschunkeln.
Ist zwar nicht mein Musikgeschmack, aber ich finde es immer gut, wenn mal was anderes kommt als das Einheits-Popgedudel. Sonst wird doch hier auch immer dafür plädiert, dass eine Nummer polarisieren sollte, und das tut sie ohne Zweifel. Außerdem kann die Dame wirklich singen. In meinem persönlichen Ranking immerhin Platz 13 von bislang 28.
Ich bin eine schreckliche Person dafür, aber hier konnte ich es mir einfach nicht verkneifen ironisch abzustimmen: Tallinn 2019!!!! (nicht)
Ich stimme Def insoweit zu. Letztes Jahr wurde die Vielfalt propagiert, die es fast (bis auf Portugals Sieg) nicht gab und dieses Jahr bekommen wir einiges davon serviert, nach Ungarn jetzt Estland. Ich würde mir “La Forza” außerhalb des ESC nicht anhören, setze es aber mal so in die Mitte des Feldes und bewerte mit 4/10, mir klingt es auch eine Spur zu steril.
Was die Vielfalt betrifft: natürlich ist das noch nicht entgültig entschieden, aber es soieht tatsächlich so aus, als ob wir dieses Jahr erfreulicherweise wieder mehr Beiträge bekommen, die NICHT auf Englisch (oder was manche dafür halten) gesungen werden (momentan immerhin 13).
Das war zumindest nach Salvadors Sieg ein ganz großer Wunsch von mir und würde dem ESC wieder gut zu Gesicht stehen. Mit Georgien wären es dann 13 Beiträge in anderen Sprachen.
Laura Pinski hat angerufen und will ihr LED-Kleid zurück!!!
http://www.myspass.de/shows/tvshows/unser-lied-fuer-stockholm/Laura-Pinski-Under-The-Sun-We-Are-One–/25512/