Mit dem erwarteten Sieg des Favoriten Benjamin Ingrosso ging am gestrigen Samstagabend das Finale des schwedischen Melodifestivalen zuende. So überraschungsarm das Ergebnis, so unspannend sein Song ‘Dance you off’: ein gemächlich vor sich hin pluckerndes, dampfstrahlgebügeltes Musikbett, über dem eine infantil hochgepitchte, komplett emotionslose Stimme schwebt. Mit anderen Worten: die Art von Track, die ein DJ am frühen Abend auflegt, wenn das Personal die Überzahl der Menschen im Club stellt und die zahlenden Gäste erst tröpfchenweise eintrudeln; wenn es also Verschwendung wäre, bereits jetzt einen echten Tanzflächenfüller aufzulegen. Dazu bewegt sich ein charismafreies Milchbübchen halbherzig vor einem Hintergrund aus bunten, leuchtenden Neonröhren: was womöglich als Reverenz an den Achtzigerjahre-Trash-Film Tron gedacht war, erinnert allerdings mehr an das Innenleben eines Assi-Toasters oder UV-Lichtsarges. Und so unecht wie Solariumsbräune wirkt auch der diesjährige schwedische Eurovisionsbeitrag.
So steril, man könnte glauben, er käme aus Dänemark: der schwedische Kaufhausmusik-Track von Benjamin Inkasso.
Ingrosso siegte mit sehr deutlichem Abstand im Votum der internationalen Jurys, beim Publikum lag er indes lediglich drei Zähler vor dem Ergebnis des Zweitplatzierten Felix Sandmann, der seine Trennungsschmerzballade ‘Every single Day’ in einem aggressiv stimmend weinerlichen Tonfall dahinjammerte und den offensichtlich derartig starke Depressionen quälten, dass er anstelle eines Mikrofons in einen Fön sang: ein deutliches Suizid-Warnzeichen. Schaut mal bitte jemand nach, wie es ihm geht? Das App-basierte Publikumsvoting erwies sich erneut als obsolet: so eng lagen die Abstimmungsergebnisse beieinander (Benjamin erhielt gerade 1,81 mal so viele Voten wie das berechtigte Schlusslicht Jessica Andersson), dass de facto erneut die Jury im Alleingang entschied. Bei der lag das Verhältnis zwischen letztem und erstem Platz beim 57-fachen. Das zeigte sich besonders schön beim einzigen Fall, wo das Ranking deutlich voneinander abwich, bei dem gebürtigen Chilenen Leopoldo Méndez nämlich, dem “aus der langjährigen Haft entlassenen Onkel, dessen Vergangenheit als Drogendealer keiner in der Familie mehr mit auch nur einer einzigen Silbe erwähnt”, wie jemand im ESCN-Forum so schön spottete.
Okay, das Singen ist nicht so Méndez’ Stärke. Dafür kann er aber auch nicht tanzen.
Das Publikum nämlich sah das Ganzkörper-Bauernmalerei-Model trotz leichter stimmlicher und tänzerischer Schwächen dank eines süffigen Refrains und der unbestreitbaren, vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden Ausstrahlung des Mittvierzigers auf dem Bronzemedaillenrang, während die Juroren ihn mit gerade mal zwei Trostpünktchen zornig auf den letzten Platz verdammten. Wo er dann auch im Gesamtranking landete. Lediglich zu einem Mittelfeldresultat reichte es für die polnische Sirenenquetsche Margaret (→ Vorentscheid PL 2016) und ihren erfrischend billigen Strandhüttenschlager ‘My Cabana’ sowie für die beiden schwedischen Nacktbader Viktor & Samir mit ihrem nicht minder billigen Elektro-Stampfer ‘Shuffla’. Den beiden bollerigen Buben dürfte ob des Ergebnisses ein Stein vom Herzen gefallen sein: im Vorfeld hatte Viktor erklärt, dass sein bereits ausgebuchter Terminkalender mit dem Eurovision Song Contest kollidiere. Ein – aufgrund der Verkaufszahlen nicht völlig unwahrscheinlicher – ‘Shuffla’-Sieg hätte so wohl ein weiteres Kümmertgate provoziert. Noch mal Glück gehabt!
‘Shuffla’ nimmt ganz entfernt Bezug auf den rundheraus fantastischen 2014er belgischen Vorentscheidungsbeitrag ‘She’s after my Piano’ von 2Fabiola + Loredana, einer der größten Verluste in der Grand-Prix-Geschichte.
Vorentscheid SE 2018 (Finale)
Melodifestivalen. Samstag, 11. März 2018, aus der Friends Arena in Stockholm, Schweden. 12 Teilnehmer/innen. Moderation: David Lindgren.# | Interpret/in | Titel | TV | Jury | Gesamt | Platz |
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01 | Mendez | Everyday | 062 | 1.351.896 | 002 | 064 | 12 |
02 | Renaida | All the Feels | 051 | 1.116.740 | 030 | 081 | 09 |
03 | Martin Almgren | A bitter Lullaby | 041 | 899.049 | 043 | 084 | 08 |
04 | John Lundvik | My Turn | 062 | 1.349.766 | 066 | 128 | 03 |
05 | Jessica Andersson | Party Voice | 037 | 809.262 | 033 | 070 | 11 |
06 | Liamoo | Last Breath | 053 | 1.171.247 | 052 | 105 | 06 |
07 | Samir & Viktor | Shuffla | 060 | 1.314.016 | 054 | 114 | 04 |
08 | Mariette | For you | 049 | 1.080.546 | 064 | 113 | 05 |
09 | Felix Sandman | Every single Day | 064 | 1.401.767 | 094 | 158 | 02 |
10 | Margaret | In my Cabana | 041 | 904.893 | 062 | 103 | 07 |
11 | Benjamin Ingrosso | Dance you off | 067 | 1.469.808 | 114 | 181 | 01 |
12 | Rolandz | Fuldans | 051 | 1.124.955 | 024 | 075 | 10 |

Der Gegenentwurf zu Salvador Sobral. Man stelle sich vor, Schweden gewinnt damit (Monz-Ergebnis reloaded?). Könnte lustig werden, wenn Salvador sich weigert, die Trophäe zu übergeben.
Danke für diesen, wie ich finde, schönsten Text der diesjährigen Saison! Besser geht kaum. Was für ein doofes Liedchen von dem Ingresso. Schlimm übrigens auch noch die George Michael Gedächtnis-Lederjacke mit dazugehörigem, kecken Augenaufschlag.
Super geschrieben mit dem Herzblut und der Originalität, die dieser Reißbrett-Nummer fehlt, danke!
Bin sehr gespannt, wie es in Lissabon ohne Vollplayback klingt.