So, höchste Zeit, dass dieser Blog aus seinem Dornröschenschlaf erwacht: am gestrigen Sonntag eröffnete das – angereisten Schwurnalisten zufolge viel zu kleine – Pressezentrum in der Lissabonner Altice-Arena zur Übertragung der ersten Kameraproben für das in acht Tagen angesetzte erste Semi des Eurovision Song Contest 2018. 19 Songs buhlen in diesem bekanntlich um einen der knappen zehn Plätze für das Finale. Und auch wenn diese hauptsächlich für die Kameraeinstellungen und den Soundcheck gedachten Proben noch keinen umfassenden Aufschluss über die endgültige Performance in den beiden Shows geben, in denen es zählt – nämlich dem Juryfinale am kommenden Montag und der TV-Show am 8. Mai, – so lässt sich doch zumindest ein Blick auf die Choreografie- und Outfit-Ideen der Delegationen erhaschen. Und da scheint sich in diesem Jahr ein kleiner Trend zurück zum Flatterlappen zu entwickeln, also zur Bühnenklamotte mit langen, keinem unmittelbaren Bekleidungszweck dienlichen Extensions, die man wunderbar effektiv im Sturm der Windmaschine wehen lassen kann, um auch ohne LED-Wände etwas Dynamik in den Auftritt zu bekommen.
Jeden Moment hebt sie ab: Aserbaidschans Aisel trotz der stürmischen Hochsee.
Gleich der Eröffnungsact der diesjährigen Festspiele, Aisel Mammadova, bedient sich eines solchen Textils, in Anlehnung an das offizielle maritime ESC-Leitthema All aboard eingebettet in eine Titanic-Inszenierung. Gemeinsam mit ihren vier Chorsänger/innen steht das aserbaidschanische Goldkehlchen nach dem offensichtlichen Zusammenstoß ihres Erdöltankers mit einem feindlichen Eisberg auf neon-illuminierten, aus der in Tiefseeblau getauchten Bühne aufragenden spitzen Eisschollen, während ein rauer Seewind ihr das arg durchsichtige, flatterlappige weiße Hochzeitskleid zerzaust. Auch die deutlich ans Synchronschwimmen erinnernde Armchoreografie nimmt diese Erzählung auf. Macht alles in allem einen visuell hübschen Grand-Prix-Opener, den man – nicht zuletzt aufgrund des sehr beliebigen Pop-Gesäusels von ‘X my Heart’ – am Ende des Abends aber vermutlich schon wieder vergessen haben wird. Dass Island, echte Heimat der Eisberge, den bekanntermaßen hoffnungslosen Startplatz 2 zugeschustert bekam, macht Sinn, gehört Ari Ólafssons altmodische Weltfriedensballade ‘Our Choice’ schließlich zu den wenigen absolut sicheren Nicht-Qualifikanten. Seine ebenso klassisch einfallslose Inszenierung unterstreicht dies.
Der leicht orientierungslose kleine Ari ließ sich zur Sicherheit den Lissabonner U‑Bahn-Streckenplan aufs Jackett drucken.
Eine stimmlich beeindruckende Probe – auch wenn es hierfür in diesem Durchgang eigentlich noch viel zu früh ist – lieferte nach übereinstimmenden Berichten aus Lissabon der knuffige Albaner Eugent Bushpepa (seines Zeichens übrigens angehender Zahnarzt, wie die Prinzen herausfanden, und damit ein Kollege von Amir) ab. Er trug dabei ein Jackett, dem Teile des rechten Ärmels (zum Zwecke des Vorzeigens seiner Unterarmtatöwierungen) und des Rückens fehlten, dafür hing ihm hinten ein semitransparentes Flatterläppchen heraus. Was ein bisschen so aussah, als wische er sich – Rockstar, der er ist – den Popo mit Seidentüchern statt mit gewöhnlichem Klopapier ab und habe ein solches beim Wiederanziehen der Buxe unglücklicherweise miteingeklemmt. Ups! Halbdurchsichtig auch das leider wie ein drei Nummern zu großer Müllsack an Sennek hängende schwarze Kleid der Belgiern, eine erste ernsthafte Anwärterin für den Barbara-Dex-Award 2018. Passend zu den musikalischen James-Bond-Vibes ihres Titels ‘A Matter of Time’ (den ich jedesmal nachsehen muss, mein Gedächtnis hat das Lied unter “Echoes, Echoes” gespeichert) befindet sich die langhaarige Sängerin permanent auf der Flucht – leider vor der Kamera, mit der sie keinerlei Verbindung herzustellen vermag. Versteckt haben sich auch ihre gleich drei Backgroundsängerinnen.
Sennek arbeitet bekanntlich hauptberuflich bei IKEA. Aus der dortigen Lampenabteilung stammt auch die Idee für ihren Bühnenfummel.
Ein erstes Opfer forderten die sonntäglichen Proben in Form des tschechischen Kameleons Mikolas Josef, der sich bei einem Salto den Rücken verstauchte und in ein Lissabonner Hospital eingeliefert werden musste. “Kann zurzeit noch nicht mal gehen,” postete er am Abend auf Instagram, zeigte sich aber zuversichtlich, bis zum Semi wieder fit zu sein. Bereits zu Anfang der Probe stoppte er und beschwerte sich über die unstabilen Bühnenaufbauten, auf denen er und zwei Breakdancer eine allgemein als ziemlich chaotisch beschriebene Performance ablieferten, in deren Verlauf auch sein Wahrzeichen, der Rucksack, eine eigene choreografische Rolle erhält. Interessanterweise arbeitet die tschechische Delegation für den ESC mit (nicht sichtbaren) weiblichen Chorsängerinnen, die nicht unerhebliche Teile von ‘Lie to me’ übernehmen. Kann man machen, wirkt aber ein bisschen merkwürdig, und nicht auf die gute Art. Bleibt zu hoffen, dass Mikolas’ Genesung schnell vonstatten geht, denn sein Auftritt bedarf noch etlicher Feinarbeit. Am Sonntag jedenfalls stieg er (leider) vom Thronanwärter zum unsicheren Qualifikanten ab.
Fans dürfen in Portugal keinen Rucksack mit in die Halle nehmen, Mikolas darf das schon.
Ganz im Gegensatz zur Zasi-Maus Ieva aus Litauen. Deren fragile Beziehungsballade ‘When we’re old’, die beim ersten Hören noch unsäglich langweilig auf mich wirkte, wuchs mir zwischenzeitlich klammheimlich ans Herz. So zerbrechlich und scheu das Lied und Ievas Stimme in der Studioversion klingen, gestaltet sich ihr unspektakulärer, aufrichtig wirkender Auftritt. Den größten “Ach, wie süß”-Moment hebt sie sich, wie beim Vorentscheid, für den Schluss auf, wo sie, über die von der Hauptbühne wegführenden Brücke wandelnd und die letzten Zeilen in Landessprache intonierend, auf ihren im Beitrag besungenen realen Ehemann Marius trifft und ihm ein scheues Küsschen gibt. Klingt kitschig, wirkt aber unaufgesetzt und herzerwärmend. Auch die zweite Top-Favoritin neben Mikolas musste am Sonntag Federn lassen: zuerst dauerte es Stunden, Netta Barzilais Looper fachgerecht aufzubauen und anzuschließen, dann wirkte ihre Bühnenshow, obwohl begleitet von den drei Tänzerinnen aus dem Video, weit weniger spektakulär als nämliches Filmchen. Was aber auch daran lag, dass die kluge Israelin weiß, für was diese Proben gut sind und sich – im Gegensatz beispielsweise zum Albaner – in den ersten Durchgängen noch nicht verausgabte.
Ja, ganz recht: das sind zwei Wandschränke voller goldener Winkekatzen, die hinter Netta stehen und, nunja, winken.
Im dritten Durchlauf wirkte die Darbietung dann nach übereinstimmenden Berichten deutlich aufgeräumter. Und wer sich wie ich wundert, warum da Hunderte von Katzen aus dem 99-Cent-Asia-Shop hinter Netta winken, wo sie doch das verrückte Huhn gibt: die sollen den K‑Pop-Charakter des Songs betonen, wie ihre Delegation auf der Pressekonferenz bekannt gab. Wie auch ihr pink-und-lilafarbener Kimono, mit dem sie sich ebenfalls in die Phalanx der Flatterlappenträgerinnen einreiht. Genau so wie der für Weißrussland singende Ukrainer Alekseev, der den unfreiwilligen Komik-Höhepunkt des Semis abliefert. Er singt (oder genauer: murmelt) zunächst in eine Rose, die er dann an die Kamera heftet, welche sie an eine rotgewandete Tänzerin weiterreicht, die sie als Pfeil verwendet und Alex in die Hand schießt. Der dreht sich schließlich um und offenbart durch sein zerrissenes T‑Shirt ein großflächiges Rosen-Tattoo, das allerdings mehr an eine schlimme Fleischwunde erinnert, so als sei sein Rücken bei einem Angriff zermörsert worden. Immerhin erfüllt das ganze Brimborium seinen Zweck: es lenkt zuverlässig vom winselnden Gesang und dem furchtbaren Lied ab und sorgt für beste Unterhaltung. I love Belarus!
Alekseevs Tänzerin sollte vielleicht ihre Medikamente etwas zurückhaltender dosieren.
Zu nun wirklich niemandes Überraschung konnte die estnische Delegation doch noch die nötigen finanziellen Mittel für die Miete der Projektoren auftreiben, mit denen Elinas Trickkleid bespielt wird. Und natürlich legte man visuell gegenüber dem Eesti-Laul-Finale nochmal ein paar Schippen drauf. Hat man alles schon mal gesehen, wirkt aber dennoch. Selbst mit abgedrehtem Ton (zur Vermeidung des akustischen Brechreizes). Den ersten Probentag beschloss das bulgarische Quintett Equinox, alle fünf in schwarz, Sängerin Zhana (auf der natürlich wieder die meiste Kamera-Aufmerksamkeit ruht) leider wieder mit ihrer furchtbaren und albern aussehenden Sia-Perücke sowie mit einem noch alberneren, riesigen schwarzen Kragen, der wirkt, als sollte er ihren restlichen Körper von der Hässlichkeit des Kopfschmucks abschirmen. Mit ihrem Beitrag ‘Bones’ konnte ich zuerst absolut nichts anfangen, mittlerweile habe ich ihn mir aber schön gehört. Auch sie werden als Mitfavoriten gehandelt, ob aber die insgesamt doch sehr düstere Nummer bei den Zuschauer/innen wirklich zu zünden vermag, bleibt fraglich.
Schwarze Sänger in schwarzen Klamotten vor schwarzem Hintergrund: Bulgarien ist das Gegenteil von bunt.
Und das beschließt den ersten Probentag vom Sonntag, Tag 2 folgt auf dem Fuße.
Reale Chancen mal beiseite: wer sollte es aus der ersten Qualifikationsrunde 2018 unbedingt ins Semi schaffen (max. zehn Nennungen)?
- Israel: Netta Barzilai – Toy (9%, 195 Votes)
- Österreich: César Sampson – Nobody but you (9%, 180 Votes)
- Tschechien: Mikolas Josef – Lie to me (8%, 172 Votes)
- Bulgarien: Equinox – Bones (7%, 148 Votes)
- Belgien: Sennek – A Matter of Time (7%, 142 Votes)
- Griechenland: Gianna Terzi – Oneira mou (7%, 142 Votes)
- Zypern: Elena Foureira – Fuego (7%, 139 Votes)
- Finnland: Saara Aalto – Monsters (6%, 121 Votes)
- Albanien: Eugent Bushpepa – Mall (5%, 101 Votes)
- Estland: Elina Netšajeva – La Forza (5%, 93 Votes)
- Aserbaidschan: Aysel Mammadova – X my Heart (4%, 92 Votes)
- Schweiz: Zibbz – Stones (4%, 90 Votes)
- Armenien: Sevak Khanagyan – Qami (4%, 88 Votes)
- Irland: Ryan O’Shaugnessy – Together (4%, 82 Votes)
- Mazedonien: Eye Cue – Lost and found (4%, 79 Votes)
- Litauen: Ieva Zasimauskaitė – When we’re old (4%, 74 Votes)
- Kroatien: Franka Batelić – Crazy (3%, 56 Votes)
- Weißrussland: Alekseev – Forever (2%, 44 Votes)
- Island: Ari Ólafsson – Our Choice (1%, 16 Votes)
Total Voters: 243
Das wird echt heftig. Inzwischen halte ich alles für möglich. Auch das klebenbleiben von Israel.
Ach, wat is dat schön, dass Du endlich da bist. Jou, das ist ein Metzelsemi, aber das wussten wir ja schon. Spannend, wie heute und gestern alles durcheinandergewirbelt wurde. Sicher ist außer dem Ausscheiden Islands eigentlich … gar nix. (Und jetzt rufen natürlich alle für Island an und lassen den durch)
Sicher ist glaub ich Israel, Zypern, Österreich, Estland, Tschechien, Belgien und Bulgarien…
Wünschen würde ich mir noch Finnland, Griechenland und die Schweiz (aber vermutlich wird Azerbaijan einen der 3 rauskicken)
Nur bitte nicht die Zausimaus, bei dem Hascherl gehts mir wie dem Blogger bei der estischen Popera-Sirene!
Na endlich ist dein Blog wieder aus der Quarantäne zurückgekehrt. Die letzte halbe Stunde war mir ein schamloses Vergnügen. Ein Lachkrampf nach dem anderen schüttelte mein eigentlich totmüdes Ich.
Danke dafür und Gute Nacht! ???
Kleine Korrektur zum Thema todmüde sein:
“Man ist todmüde, aber hat sich totgeärgert; man hat Todfeinde, aber beherrscht die Totschweigetaktik. Die Frage, wann man Komposita mit dem substantivischen Erstglied Tod und wann mit dem adjektivischen Erstglied tot bildet, muss nicht zum Totärgern sein.” Sorry!?
Was ist denn K Pop?
Dieses Semi ist ja somit das heftigste was ich je erlebt habe. Was aber auch bedeutet das echt viel Rotz im 2. Semi sich durchmogeln wird.
K‑Pop bezeichnet eigentlich koreanischen Pop, bei dem viel Wert auf das Äußerliche gelegt wird. Bezieht sich hier eher auf das visuelle. Jamie Lee war ebenfalls ein K‑Pop-Fan, was sich in ihrem Outfit niedergeschlagen hat.
Das wird noch sehr wackelig mit dem eigentlich sehr schönen jazzig-entspannten Song aus Pommesland – Sennek muß dringend noch mit der Kamera flirten und unbedingt die Garderobe wechseln. Wäre echt schade drum.… Island tut mir jetzt schon leid – vollkommen ohne jegliche Chance und muß dennoch einmal ran.…
Zudem feiern wir dieses Jahr Première: Zum ersten Mal nimmt Japan teil ! Aber “Toy” hat zudem auch jede Menge Pfeffer. Aserbaidschan raus – es wäre ein Segen !
@ melodiefestivalen
Aber so lieben wir doch schließlich unseren Hausherrn (grins) Das Warten hat sich echt gelohnt.
Apropos: Lieben Gruß aus Offenbach, lieber Olli !
Übrigens mag ich den zebrechlichen Song von Litauens Lolita schon länger.….
Ach, ich wünsche mir so sehr, dass Weißrussland weiterkommt, aber das wird wohl schwierig.