Seit Monaten führte die Israelin Netta Barzilai mit ihrem Beitrag ‘Toy’ unangefochten die Listen der internationalen Wettbüros für einen Sieg beim Eurovision Song Contest 2018 an. Bis heute früh. Gewissermaßen auf dem letzten Meter überholte sie da die für Zypern antretende Eleni Foureira mi ihrer Nummer ‘Fuego’. Und ein schöneres Paradebeispiel für überschnappende Fan-Hysterie in der hermetisch in ihrem eigenen Saft schmorenden Bubble könnte es meines Erachtens nicht geben. Sowie für die Art und Weise, wie das Belohnungszentrum in unserem Gehirn, der Nucleus accumbens, arbeitet. Der schüttet bekanntlich Dopamin aus, den Botenstoff, der uns mit Glücksgefühlen belohnt, wenn etwas (eine Situation, eine Leistung) deutlich besser ist als unsere Erwartungen hieran. So, wie gerade bei ‘Fuego’. Als dieser Song im März diesen Jahres in Form eines mit gesponserten Ananas und Bananen verzierten Videoclips das Licht der Welt erblickte, nahm die interessierte Öffentlichkeit ihn als ein hochglanzpoliertes Stück “Fast Food Music” (© Salvador Sobral) mit fadenscheinigen Lyrics und hohem Potential für einen Car Crash wahr. Liegen die Fähigkeiten ihrer Interpretin doch bekanntlich eher im Tänzerischen als beim Singen.
Merkwürdig: wenn der schwarze Block bei Demos unschuldige Autos abfackelt, sind alle empört…
Die in der vergangenen Woche in Lissabon bei den Proben (und im gestrigen Jury-Finale) dargebotene Live-Inszenierung überraschte dann positiv, denn nicht nur zeichnet sich die von Eleni und ihren Backings gelieferte Choreografie direkt aus der Eleftheria-Eleftheriou-Schule erwartungsgemäß durch einen hohen Unterhaltungswert aus. Auch stimmlich stemmen die Damen den (allerdings auch nicht zu anspruchsvollen) Gesangspart beanstandungsfrei und scheinbar mühelos. Das fügt sich zu einem erstaunlich guten audiovisuellen Vergnügen zusammen. Kein Wunder, dass die angereisten Schwurnalisten reagieren, als habe ihnen jemand MDMA ins Getränk geschüttet. Netta hingegen, deren von allen Seiten mit Lob überschütteter Videoclip zu ‘Toy’ etwa zur selben Zeit herauskam wie ‘Fuego’, und die seither die Wettquoten anführte, tat sich bei den Proben zunächst etwas schwerer, die mit dieser Position verbundene, ungleich höhere Erwartungshaltung zu erfüllen: die EBU untersagte überraschend die tatsächliche Nutzung des zentralen Gimmicks, ihrers Loopers, der nun als Fake-Instrument fungiert und dessen Part Nettas Chordamen übernehmen müssen; das Staging mit den Schränken voller goldener Winkekatzen stieß auf ein zweigeteiltes Echo. Ergebnis: im Pressezentrum blieb der neuerliche Dopaminschub aus.
Konnte die durch den Clip etablierten extrem hohen Erwartungen allenfalls halten, aber nicht mehr übertreffen: Netta.
Nun besteht kein Zweifel, dass ‘Fuego’ im Umfeld der heutigen ersten Qualifikationsrunde, nicht zuletzt aufgrund seines zugewiesenen, perfekten Startplatzes an letzter Stelle, hervorsticht und die Abstimmung gewinnen könnte. Zumal selbst die notorischen Spaßbremsen der Jury, deren Job es ist, klassisch campen Eurovisionstrash abzuwerten, durch Elenis Hochleistungsshow in Verbindung mit der Abwesenheit schiefer Töne beeindruckt sein dürften. Statistikfreunde werden sich nun beeilen, darauf hinzuweisen, dass die späteren Eurovisionssieger bislang fast immer zuvor ihr jeweiliges Semi gewannen. Allerdings: die oben skizzierten Mechanismen, die zur (nachvollziehbaren) Überschätzung der Zypriotin und der (nachvollziehbaren) leichten Unterschätzung der Israelin führen, funktionieren vor allem im Umfeld der ESC-Filterblase, deren Angehörige eben auch die Wettquoten bestimmen. Die breite Masse der Final-Zuschauer/innen sieht beide Beiträge am kommenden Samstag das erste Mal und weitestgehend unbelastet von irgendwelchen Erwartungshaltungen. Sie wird beide Darbietungen vermutlich als unterhaltsam und gut produziert wahrnehmen. Und dann für ‘Toy’ anrufen, das den augenzwinkernden Spaß einer gackernden Sängerin mit einer starken, selbstbewussten Botschaft gegen Misogynie verbindet. Gegen dieses Gesamtpaket stinkt (das von mir durchaus geschätzte) ‘Fuego’ halt schlichtweg ab.
Aus empanzipatorischer Sicht zumindest nicht zielführend: der Heidi-Klum-kompatible Hungerhaken Eleni schüttelt ihr Haar.
‘Fuego’ oder ‘Toy’? Welcher Song hat bessere Siegchancen?
- Keiner von beiden. Die nehmen sich gegenseitig die Punkte weg und eine Ballade gewinnt. (43%, 65 Votes)
- ‘Toy’. Das spielt in einer komplett anderen Liga. ‘Fuego’ ist im Finale nur Mittelfeldfutter. (39%, 59 Votes)
- ‘Fuego’. Eleni setzt die Halle in Brand. Und das verrückte Huhn nervt eh nur. (18%, 28 Votes)
Total Voters: 152
Ach Olli! Dein Wort in Eurovisions-Gottes Gehörgang. Ich muss ja echt sagen, das ich bei dem zypriotischen Hungerhaken von Stutenbissigkeit befallen werde. Mir war das Video schon zu billig, zu porno und auch das, was die Lady sonst so von sich gibt und zeigt geht in diese Richtung. Not my cuppie… der Song an sich hat das Zeug zum Sommerhit – darf er ruhig werden. Aber als ESC Siegersong? Thanks, but no thanks! Netta find ich da das bessere Gesamtpaket, glaubwürdiger, außergewöhnlicher und echter. Ob es wirklich einer der beiden wird, ist aber ne guuuute Frage. Ich könnte mir vorstellen, das la France da auch noch ein wenig mit parliert. Und Monchihi Alexander aus Norwegen? Es war auf jeden Fall schon lang nichtmehr so spannend und ich freu mich auf die kommenden Abende!
Dir mal wieder danke für die unterhaltsame Hinführung zu unser allem Oster / große Ferien / Geburtstag / Weihnachten und Silvester in einer Woche Zeit!!! I really appreciate your work!!! <3
Bei Elenis Riesenhype kommt hinzu, dass sie auf die Frage nach der Bedeutung ihres Songs eine entwaffnende, inzwischen als “Kult” zu bezeichnende Antwort gegeben hat:
https://twitter.com/eurovisionisbae/status/992259362151264261
Ich möchte behaupten, dass dieser Clip nicht unerheblich zum Höhenflug innerhalb der ESC-Blase beigetragen hat.
Eine Aussage kann man erst am Freitagmorgen treffen. Erfahrungsgemäß reagieren die Bookies jedes Jahr hysterischer. Ich erwarte am Donnerstag einen ähnlichen Aufstieg für Moldawien – und am Samstag ein extrem spannendes Rennen. Zypern in seiner Ansichichkeit wär als Sieger schon nett, aber DAMIT? Andererseits: Elch und Nikolaus und den russischen Blankziehkönig haben wir ja auch überlebt…
And before the night is over I’mma light a spark and let the crazy out
I’m your goddess, on your knees Da-da-da-da-da-down
I’m hotter than fire, water can’t cool me down Water can’t cool me do-o-own,
oh oh, oh oh I’m dancing like flames and nothing can cool me down
Watch me, I run this to-o-own, oh oh oh No, water can’t cool me down!!!!!!
Upps falscher Song :))
Bin jetzt wirklich gespannt was nachher im ersten Semi passiert.
Ein Bubble-Ding ist der Wettquoten-Erdrutsch glaub ich nicht
Ich glaub auch nicht, dass es ein Bubble-Ding ist, kann mich aber nicht erinnern, dass ich die Quoten schon jemals DERMASSEN habe verrücktspielen sehen. Ich gehe davon aus, dass Alex morgen früh führt.
wettquoten hin oder her – der auftritt der frau foureira war einfach energiegeladen hoch zehn; jan feddersen selig würde wohl sagen, dass das die willensstärkste performance seit severine war, natürlich durch die besondere startposition ein wenig geboostert. mich hat das schon beeindruckt. und auch wenn ich nettas darbietung super fand, habe ich meine 12 punkte nach langem ringen dann doch nach zypern vergeben. billig oder nicht: die frau hat auf jeden fall eine großartige ader für ironie (“yeah yeah fire” *augenaufschlag*). ich gönne ja netta den sieg, aber mein sommer- und wm-hit ist jetzt schon “fuego”. hauptsache, es gibt kein come-ryback!!! und bitte kein elch-bashing hier, werte tamara, sonst werde ich echt böse 🙂
Der Artikel ordnet die momentane Euphore sehr gut ein. In meinem Nicht-Bubble Umfeld kam Israel deutlich besser an als Zypern. Aber ich muss schon sagen, Zypern macht einiges richtig. Hier wird die Bühne gefüllt und das bei Synchron-Choreos so wichtige Frontalfilmen wurde, wie vom Blogger oft gefordert, überwiegend und damit sehr wirkungsvoll eingesetzt.
Warten wir erst mal das 2. Semi ab, da gibt es auch noch gute Songs.
@stenbln: Okay, dann bashe ich lieber den Nikolaus, der hat das eh viel mehr verdient. Der Elch hat die Sache ja gesanglich rausgerissen.
OOOODER soll ich doch lieber den Schultemichel bashen, was mich seit zweieinhalb Monaten in den Fingern juckt und wo ich mich bisher SEHR zurückgehalten habe?