Auch am Tag der Arbeit gehen die Proben für den Eurovision Song Contest 2018 in der Altice-Arena zu Lissabon weiter, heute mit der ersten Hälfte des zweiten Semifinales. Das eröffnet bekanntlich, in Person Alexander Rybaks, ein ehemaliger Eurovisionsgewinner. Und wiewohl sein Beitrag ‘That’s how you write a Song’ die europäischen Schwurnalisten in Fans und bekennende Hasser spaltet, herrscht unter den Blogger/innen ziemliche Einigkeit, dass auch dieser Titel erneut um den Sieg mitspielen könnte. Rybak, der Dorian Gray der Eurovision, der seit seiner letzten Grand-Prix-Teilnahme offensichtlich keinen Tag alterte und noch immer über seinen Lausbubencharme verfügt, bringt – wie schon 2009 – das bereits ausgereifte audiovisuelle Gesamtkonzept des norwegischen Melodi Grand Prix mit zum Contest und setzt es dort Punkt für Punkt um, mitsamt den per Zeichentrick hinzugefügten und um einige Herzchen erweiterten Bildschirmgrafiken, die seine Choreografie ergänzen. Und warum auch nicht, der Mann weiß schließlich, was er tut. Im Pressezentrum machen sich die Ersten nun schon Sorgen, dass sie nächstes Jahr für ein Bier im Euroclub zu Oslo eine weitere Hypothek aufs Haus aufnehmen müssen. Und dass, wo doch das Super Bock in Lissabon so herrlich günstig ist!
Nur echt mit der Violine: der Rybak.
Die rumänische Band Humans ist hingegen mit einem furchtbar plodderigen, superlangweiligen und völlig chancenlosen Softrock-Song geschlagen, weswegen man ihnen wohl die Startposition 2 – den Todesslot – zuschanzte. Doch ganz so kampflos will man sich im siebenbürgischen Camp nicht ergeben und fährt ein elaboriertes Staging auf, das sehr erfolgreich von dem öden Lied ablenkt. Dazu borgte man sich einzelne Versatzstücke aus der Contestgeschichte, so die Puppen von DJ Bobo (CH 2007), die Gesichtsmasken der Schmetterlinge (AT 1977), die gigantischen Denver-Clan-Schulterpolster von Marcha Bult (NL 1987) sowie die Würgeeinlage von Marcin Mrozinski (PL 2010) und strickte daraus eine visuelle Geschichte, die vom Kampf der Menschen (The Humans, Sie verstehen?) gegen sich selbst und gegen die künstliche Intelligenz erzählt. Oder so etwas Ähnlichem, ihre Interpretation ist so gut wie meine. Bemerkenswert: die in einer Art Zwangsjacke steckenden männlichen Bandmitglieder (die mal wieder kaum im Bild zu sehen sind), tragen noch deutlich tiefergelegte Deep-Crotch-Hosen als Cesár Sampson. Wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Schritt auf dem Bühnenboden schleift…
Vampires are alive: die Draculas haben Verstärkung mitgebracht.
Die Serben müssten eigentlich ihren Namen ändern: angekündigt als Sanja Ilić + Balkanika, musste Komponist Sanja seinen Platz auf der Bühne für eine dritte Chorsängerin aufgeben, was visuell freilich keinen Verlust bedeutet. Für die Choreografie bediente man sich der israelischen Blocktanz-Schule: die drei als griechisch-römische Hostessen aufgemachten Damen gruppieren sich eng um den prachtvoll bebarteten Alphamann des Sextetts, Mladen. Flankiert wird die Gesangsgruppe, wie schon in der Beovizija, von einem zauselbärtigen Flötenschlumpf und einem jüngeren Drummer, dessen Geräte mit den gleichen Lakritzschnecken behangen sind wie die Choristinnen. Musikalisch liefert ‘Nova Deca’ exakt das ab, was ich von einem Balkan-Beitrag will: Drama, Klageweiber, Ethno-Geflöte und süffige Melodien. Den Car-Crash des dritten Probentages liefert anschließend San Marino ab. Entweder kann Jessika Muscat nicht singen oder sie will nicht, ihre deutsche Gastrapperin Jenifer Brening stellt sie locker in den Schatten. Über die Bühnenklamotten schweigt des Bloggers Höflichkeit, ohnehin stehlen die eigens mitgebrachten Mini-Roboter den Damen komplett die Show. Letzter Platz im Semi – und hoffentlich das Ende der SM-Vorentscheidungsfarce.
“I am not your Robot” trollt da das sanmarinesische Spielzeugmännchen den israelischen Beitrag. Chapeau für so viel Chuzpe!
Wie bereits der norwegische MGP-Kollege Alexander Rybak hat sich auch der Däne Rasmussen entschieden, seine Vorentscheidungschoreografie eins zu eins umzusetzen. Es ist wirklich vom Bühnenbild über die Farben bis zum Kunstschnee alles exakt gleich. ‘Higher Ground’ hat sich für den Blogger mittlerweile zu einem Guilty Pleasure entwickelt: ich will es eigentlich nicht mögen, kann aber nicht verhindern, es aus voller Brust mitzusingen. Segelt sicher ins Finale. Es folgen die wohl drei unangenehmsten Minuten in der Geschichte des Eurovision Song Contests: Julia Samoylova sitzt in ihrem Rollstuhl auf dem Gipfel eines mittelgroßen Styropor-Berges, umhüllt von einem Textil, das als Projektionsfläche für diverse bunte Visuals dient. Drei Chorsängerinnen, die den Löwenanteil der Vokalarbeit übernehmen, stehen mit auf der Bühne. Der Fokus der Kamera liegt hingegen weder auf ihnen noch auf Julia, sondern auf einem tanzenden Pärchen, so als ob dieses von dem bizarren Mount Russiamore (©: MontyVision von OnU) ablenken soll. Stimmlich klingt das Ganze okay, als Gesamtpaket harmoniert es aber hinten und vorne nicht und wirkt wie eine notdürftig zusammengestoppelte, noch nicht mal unfreiwillig komische Pflichtübung.
Selbst Julia soll in einem Interview ihre Verwunderung über das Bühnenkonzept geäußert haben. Da steht sie nicht alleine.
Doch der “echte” russische Beitrag folgt ja auf dem Fuße, wenn auch unter der Flagge Moldawiens. Das vom russischen Ralph Siegel, Filip Kirkorov, geschriebene und von dem transnistrischen Trio DoReDos dargebotene ‘My lucky Day’ reißt die Zuschauer/innen aus dem tiefen Betroffenheitsloch und verbreitet jede Menge schamlosen Spaß und guter Laune, nicht zuletzt durch den Einsatz eines Kallax-Wohnzimmerschranks, welcher das Spiegelkabinett aus dem moldawischen Vorentscheid als Gimmick ersetzt und in dem sich drei Doppelgänger/innen von Do, Re und Dos verbergen. Sehr trashy, sehr geil, und ich fresse einen Besen, wenn das nicht wieder eine Top-Drei-Platzierung gibt! Offensichtlich das falsche Gras geraucht haben indes die Holländer. Nicht nur, dass Waylon in einem Leopardenprint-Mantel aufkreuzt, für den Sofi Marinova (BG 2012) ihre Seele Großmutter verkaufen würde. Mitten im Lied scheinen seine Begleit-Gitarristen von einem (unsichtbaren) Blitzschlag getroffen zu werden und brechen in wilde Zuckungen aus, die wohl eine Art Breakdance darstellen sollen. Und das bei einem Country-Song! Das nennt man dann wohl das Gegenteil eines authentischen Stagings.
Nein, die Drei arbeiten nicht für RTL: das sind die Farben der moldawischen Landesflagge!
Jessica Mauboy ausTralien beschließt die heutigen Proben. Ihr Beitrag ‘We got Love’ gilt unter Fans als Top-Ten-Favorit, und ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum. Ja, das ist eingängiger Radiopop, aber es klingt so belanglos und durchschnittlich, dass es aus dem rechten Ohr schon wieder hinaus ist, noch bevor es zum linken hineinkommt. Die soeben erwähnte Sofi Marinova muss hier erneut als Referenz herhalten, begeht Jessica doch den gleichen Fehler wie sie und erscheint völlig alleine auf der Bühne, wo doch ihre Uptemponummer unüberhörbar nach einer Synchrontanz-Choreografie ruft! Dazu noch scheint es, als habe man Frau Manboy ohne Klamottenbudget nach Portugal entsandt, wo sie ihr lilafarbenes Glitzerkleid offenbar in einem erbitterten Catfight einer Dragqueen vom Leib reißen musste. Und zwar direkt vor der Probe: ein herunterbaumelnder, halb abgerissener Textilstreifen zeugt von den noch frischen Kampfspuren. Jessica kann von Glück reden, nicht im ersten Semifinale gelandet zu sein, da würde sie nämlich mit großer Sicherheit ausscheiden.
Wirkt wie ihre eigene Parodie: die Manboy, das singende Bonbon.
Soviel zum dritten Probentag in Lissabon, morgen geht es mit der zweiten Hälfte des zweiten Semis weiter.
Reale Chancen mal beiseite: wer sollte es aus der zweiten Qualifikationsrunde 2018 unbedingt ins Semi schaffen (max. zehn Nennungen)?
- Moldawien: DoReDos – My lucky Day (10%, 110 Votes)
- Dänemark: Rasmussen – Higher Ground (9%, 95 Votes)
- Norwegen: Alexander Rybak – That’s how you write a Song (9%, 93 Votes)
- Ungarn: AWS – Viszlát Nyár (8%, 91 Votes)
- Australien: Jessica Mauboy – We got Love (8%, 86 Votes)
- Schweden: Sebastian Ingrosso – Dance you off (7%, 81 Votes)
- Polen: Gromee + Lukas Meijer – Light me up (7%, 72 Votes)
- Ukraine: Melovin – Under the Ladder (6%, 68 Votes)
- Slowenien: Lea Sirk – Hvala, ne! (5%, 56 Votes)
- Serbien: Sanja Ilić + Balkanika – Nova Deca (5%, 52 Votes)
- Montenegro: Vanja Radovanović – Inje (5%, 49 Votes)
- Rumänien: Humans – Goodbye (4%, 48 Votes)
- Georgien: Iraio – Sheni gulistvis (4%, 46 Votes)
- Lettland: Laura Rizotto – Funny Girl (4%, 42 Votes)
- Niederlande: Waylon – Outlaw in ‘em (4%, 41 Votes)
- Malta: Christabelle Borg – Taboo (3%, 28 Votes)
- Russland: Julia Samoylova – I won’t break (1%, 12 Votes)
- San Marino: Jessika Muscat + Jenifer Brening – Who we are (1%, 12 Votes)
Total Voters: 144
Ach, Oliver, wie oft denn noch? In den Semis ist die Nummer 3 der Todesslot!
Ansonsten: Chapeau für die Berichterstattung. Ich bin ja eigentlich abergläubisch, was das Anschauen von Probenvideos angeht, aber die von San Marino (Gelächter bei allen Beteiligten – kommt eh nicht ins Finale) und Russland (Befremden – darf ruhig ausscheiden, die Schuld nehm ich auf mich) hab ich mir dann doch angeschaut. Puh. Und was zur Hölle hat sich Waylon gedacht?
Ich glaube, das zweite Semi wird genau das Schneckenrennen, das ich weiland schon vorhergesehen habe. Außer Norwegen, Dänemark, Moldawien und – jawohl! – Georgien (auch wenn die noch nicht geprobt haben und ihren Beitrag auch noch versenken können) muss ich aus dem Semi eigentlich nix haben. Und zumindest bei den ersten dreien bin ich hundertpro sicher, dass die das Finale auch erreichen.
Wie erwartet ein schwaches Semifinale. Nur Dänemark und Moldau sind für mich bislang finalwürdig. Ich bin schon gespannt auf die erste Probe von AWS. Dann wird dem öden Laden eingeheizt !
Moldau oder Norwegen gewinnt dieses Semi, da brauch ich kein zweites HF morgen abwarten…
und bin jetzt eigentlich nur noch auf Ungarn gespannt was die morgen zeigen.
Ich bin so happy dass DoReDos das gut auf die Bühne gebracht haben.
Drücke ihnen alle Daumen my personal winner!!!
Die können wegen mir beim ESC auch ein Medley inklusive diesen songs spielen:
https://www.youtube.com/watch?v=UoCPur4655M
@Tamara: Sorry, ich hab die 50 überschritten, da lernt man nicht mehr um.
@Oliver, die Tante Tami erklärt Dich dat getz ma. Tu ma hier kucken:
http://sixtussagtmiau.blogspot.de/2018/05/startnummernorakelei-und-das-marchen.html
(zu dem Artikel hast Du mich übrigens inspiriert <3)
(Ups, da warste schneller als ich. Na, dann halt für die anderen 🙂 )
Schön, wenn ich Dich inspirieren kann! 🙂 Und: schöner Artikel! Für die anderen: lest den! Die Tante Tami hat nämlich Recht!