Am gestrigen Samstag lud der Eurovision Club Germany mal wieder ins bis auf den letzten Platz ausverkaufte Gloria in Köln. Und auch, wenn es das bereits xundzwanzigste Event seiner Art war, entpuppte sich der hochvergnügliche Abend als einer voller Überraschungen. Doch bevor wir uns diesen zuwenden, gilt es zunächst, die brandheißen Neuigkeiten von der NDR-Roadshow abzuarbeiten, die dort gestern Nachmittag ebenfalls gastierte (und von der ich dank der allseits bekannten Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn leider nur einen Teil mitbekam). So ließ sich Thomas Schreiber zwar immer noch keinen amtlichen Termin für den deutschen Vorentscheid 2019 entlocken, gab aber den Hinweis, dass Unser Lied für Israel “in der achten Kalenderwoche”, richtigerweise erneut in der Hauptstadt, über die Bühne gehen wird. Da die Show in letzten Jahren traditionell donnerstags stattfand, können wir uns wohl auf den 21. Februar 2019 einstellen. Die offizielle Bestätigung erfolgt allerdings erst Mitte Januar.
Ein Einblick in das bereits abgeschlossene Songwriting-Camp für ULfI.
Zum wichtigsten Thema, nämlich den Songs, war zu erfahren, dass beim Liedermachercamp mit den bislang ausgewählten sechs Finalisten 25 potentielle Beiträge entstanden sind, die nun, gemeinsam mit einer Handvoll weiteren, extern eingereichten, den beiden Jurys zur Bewertung vorliegen. Darunter befinden sich immerhin zwei deutschsprachige. Neben den bereits gesetzten sechs Interpret/innen sind noch zwei weitere mögliche Acts im Rennen. Abhängig vom Urteil der Jury könnten wir also im Februar bis zu acht Beiträge zur Auswahl haben. Wobei “Auswahl” vielleicht nicht das richtige Wort ist: auf der Roadshow gab es auch sehr kurze Ausschnitte aus einigen wenigen der knapp tausend beim NDR eingetrudelten Bewerbervideos zu sehen. Darunter natürlich die üblichen Hoffnungslosen, aber auch ein lustiges Video einer bayerischen Bollerbeat-Bierwagen-Band, gegen die Voxxclub wie die Berliner Philharmoniker wirken und deren musikalische Gaudi dem zutiefst deprimierenden, gleichförmigen Novemberdepressions-Gejaule, das uns aus den ebenfalls angespielten Bewerbungsvideos von drei der sechs Finalist/innen entgegen wehte, mit Kusshand vorzuziehen gewesen wäre.
https://youtu.be/542PdqAXBrw
Natürlich will man einen solchen Grusel (hier ein Beispiel aus der rumänischen Vorrunde 2018) nicht im Vorentscheid haben. Doch der NDR sortierte nicht nur solcherart tragische Gestalten aus, sondern auch gut gemachten Trash. Und das finde ich bedauerlich.
Denn selbst der Bewerbungsmitschnitt der eigentlich für rotzfreche Quirligkeit stehenden Aly Ryan erging sich in lamentierendem Gewinsel. Augenscheinlich die einzige Strategie, mit der man es ins Finale schafft. So erhärtet sich der Verdacht, dass auch die hundertköpfige Fan-Jury kein Garant für eine wirklich vielfältige musikalische Bandbreite ist, die eben auch “Kantiges” und Schräges enthält, sondern ebenfalls – wie schon die senderinterne Jury in den Jahren zuvor – ausschließlich Stromlinienförmiges durchlässt. Ob man so das von Herrn Schreiber ausgegebene (und richtige!) Ziel erreicht, anstelle der üblichen Formatradiomucke einen Titel zu finden, der im europäischen Wettbewerb bestehen kann, muss sich auf Dauer noch zeigen. Beim (auch von mir geschätzten) ‘You let me walk alone’ war es ja letztlich die Authentizität und Ausstrahlung des Interpreten Michael Schulte, der die Nummer aus dem Einheitsbrei des edsheeranesken Befindlichkeitsgesusels heraushob und in die Herzen der Zuschauer/innen und Juror/innen spülte.
ECG-Headliner Michael Schulte, hier beim Bambi.
Und damit sind wir dann auch endlich beim Bühnenprogramm des gestrigen ECG-Treffens angelangt, denn tatsächlich trat dort auch unser diesjähriger Eurovisionsvertreter auf. Und zeigte dabei nochmal, warum er die richtige Wahl für Lissabon war: mit seiner absolut authentischen, zu gleichen Teilen selbstbewussten wie bescheidenen Art ließ der Bambi-Preisträger sein reines Akustikgitarrenset – wer mich kennt, weiß, dass mir schon dieses Wort körperliche Schmerzen bereitet! – zu einem kurzweiligen Quell des Vergnügens werden. Mit einem Potpourri an Four-Chord-Eurovisionsliedern demonstrierte er zudem auf symphatisch selbstironisch-lässige Weise seine Liebe zum Song Contest. Er ist, welche Wohltat, einer von uns! Im Gespräch mit dem clubeigenen Moderator Bernd Ochs – der sich mit seinem fundierten Hintergrundwissen und seinen pointierten Fragen wenig überraschend als absoluter Glücksgriff erwies – erzählte er dann noch, dass er unter den sechs Unser-Lied-für-Lissabon-Finalisten der Einzige war, der sich selbst zuvor aktiv beim NDR beworben hatte und gleichzeitig von den Scouts des Hamburger Senders angesprochen wurde.
Gehörte ebenfalls zu Michaels ECG-Set: ‘Smuk som et Sterneskjud’ und ‘Satellite’.
Die Schlagerlegende Lena Valaitis, zweite Headlinerin des Abends, überraschte neben ihrem nachgerade unglaublich jugendlich-strahlenden Aussehen mit ihrer körperlichen Beweglichkeit: bei jedem Applaus verbeugte sich die gerade ihr fünfzigjähriges Bühnenjubiläum begehende Sängerin dermaßen tief, dass selbst den routiniertesten Powerbottoms im Saal vor Neid der Atem stockte. Schade, dass in ihrer Setlist zwei meiner Lieblingstitel fehlten, nämlich die Rollendes-R-Festspiele ‘Gloria’ und ‘Rio Bravo’. Dafür brachte sie – wissend, was sie den Fans schuldet – unter anderem ihre beiden gescheiterten Vorentscheidungsbeiträge ‘Du machst Karriere’ (1976) und ‘Wir sehen uns wieder’ (1992) zu Gehör, die sie nach eigener Aussage teils “schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesungen” habe. Und es wurde, gerade im Direktvergleich mit ihrem fabelhaften Eurovisionsbeitrag ‘Johnny Blue’ (1981), einem der ungerechtesten Kurz-am-Sieg-vorbeigeschrammten Lieder der Grand-Prix-Geschichte, auch klar, warum.
Auch diesen Titel präsentierte Lena gestern Abend in Köln. Wobei ich aufgrund der schlechten Soundabmischung im Gloria immer “Und ich rufe deinen Namen, wenn ich komme” verstand.
Lena bestätigte im Gespräch mit Bernd Ochs ebenfalls die nach wie vor unglaubliche Geschichte, nach welcher ihr damaliger Komponist Ralph Siegel, augenscheinlich der Mann mit dem schlechtesten Musikgeschmack der Welt, beim deutschen Vorentscheid von 1981 felsenfest auf den Sieg seines zweiten Eisens im Feuer setzte, nämlich dem entsetzlich spießigen ‘Mannequin’ der Hornettes, und für diese bereits ein Festbankett gebucht hatte. Nach ihrem Vorentscheidungssieg musste Frau Valaitis den restlichen Abend mit dem Texter Bernd Meinunger Vorlieb nehmen, da Siegel seine Kirmesmusikantinnen tröstete. Unfassbar! Die erschreckend hagere Ungarin Kati Wolf (2011), deren weitere Karriere nach Düsseldorf ich zugegebenermaßen nicht verfolgt habe, stellte unter Beweis, dass man auch mit völlig unbekannten Discoschlagern die Hütte zum Brennen bringen kann. Als größte Überraschungen entpuppten sich aber die von mir im Vorfeld gedanklich als “Langweiler” schubladisierten weiteren musikalischen Stargäste.
Auch nach dem ESC geht das Leben weiter, wie Wolfkati weiß.
Ari Ólafsson (IS 2018) brachte neben seinem eigenen ESC-Beitrag nämlich fast ausschließlich grandiose Grand-Prix-Kracher zu Gehör, darunter meinen isländischen Top-Favoriten ‘This is my Life’ (2008), was für den verausgabendsten Mitsingmoment des Abends sorgte. Und der diesjährige sanmarinesische Background Sebastian Schmidt gab uns gewissermaßen den kleinen schwulen Bruder von Roman Lob: der sehr niedliche Basti bezauberte nicht nur mit einer aparten, tiefausgeschnittenen Glitzerbluse, einer glaubhaften Liebe zum Grand Prix und einer sehr zauberhaften Vortragsweise, sondern auch mit einer wirklich herausragenden Stimme. In dem jungen Mann ist offensichtlich eine Vicky Leandros verloren gegangen: scheinbar mühelos servierte er uns einen kraftvollen, großen hohen Schlusston nach dem anderen. Talentscouts aufgemerkt: hier ist ein Rohdiamant am Werke! Wenn der nicht in den nächsten Jahren als Solo-Künstler auf der Eurovisionsbühne auftaucht, gibt es keine Gerechtigkeit.
Der markante Hut war gestern Abend ebenfalls Teil des ansonsten jedoch deutlich glamouröseren Outfits von Basti.
Sehr viel Liebe hatte das Team des Eurovision Clubs Germany erneut in die selbstproduzierten Unterhaltselemente gesteckt. In Reaktion auf die immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen des Publikums wurde das wie immer wunderbar trashige Grand-Prix-Musical diesmal von einem Narrator eingerahmt, der die im Dickicht der Songschnipsel sonst sehr schnell untergehende Geschichte zusammenhielt. Nutzte auf meinem Lieblingsplatz direkt an der Gloria-Theke, wo das Bühnengeschehen immer wieder im Stimmengewirr der Getränkebestellungen unterging, nur wenig, aber dafür können die Macher natürlich nichts. Ein Da Capo jedenfalls für den Mut zum politisch unkorrekten Humor: die ganz leicht an der Behindertenverhöhnung entlang schrappende Parodie auf die russische Teilnehmerin Julia Samoylova und ihren Tüllberg sorgte für den herzhaftesten Lacher des Abends. Sehr schön auch die Idee, die Fans zur Einstimmung auf den Abend einen alten Grand-Prix-Schlager singen zu lassen, was für ein wohliges Gemeinschaftsgefühl im Saal sorgte. Wunderbar!
Ein Gefühl von Vertrau’n: Ingrids Schlager baute spirituelle Brücken in Köln.
Den schönsten Teil des Abends stellte jedoch erneut die nachgelagerte, wie immer viel zu kurze Grand-Prix-Disco mit DJ Ohrmeister dar. Nicht nur wegen dessen gelungener Songauswahl mit wunderbar trashigen, tanzbaren Vorentscheidungsperlen wie ‘Adrenalin’ von Ella Endlich (2016), sondern wegen des so herzerwärmenden Ausflippens der verbliebenen Fans und der beispielsweise vom wunderbaren Ansgar Kuhn und seiner Entourage zu fast schon vergessenen Songschätzchen wie Maras ‘Sternenland’ oder All about Angels’ ‘Engel’ vorgeführten hysterischen Choreografien. Für diese Momente im Jahr lebe ich! Na, neidisch, nicht dabei gewesen zu sein? Zu Recht! Daher aufgemerkt: das nächste Clubtreffen des ECG ist für den 30.11.2019 terminiert.
Ich werde das Lied nie wieder hören können, ohne an diesen ECG-Moment zu denken.