Das erste Lied für den Eurovision Song Contest 2019 in Tel Aviv steht fest, traditionellerweise bestimmt beim vorweihnachtlichen Festivali i Këngës. Und es stammt mal wieder von einer kreischenden Frau, nichts Ungewöhnliches also für Albanien. Allerdings singt Jonida Maliqi mit zwar kräftiger, aber keinesfalls dissonanter Stimme, so wie man es von den Skipetarinnen sonst gewohnt ist. Die 36jährige, die erstmalig im zarten Alter von 13 beim albanischen Liederfestival auftrat (das damals noch nicht als Vorentscheid fungierte, da das Land seinerzeit noch nicht an der Eurovision teilnahm), überzeugte optisch mit vorzüglichen Simone-Thomalla-Lippen, einer Mireille-Mathieu-Perücke und der anmutig aristokratischen Ausstrahlung einer ägyptischen Pharaonin. Den Ohren schmeichelt ihr Beitrag mit seinem ausgewogenen Mix aus sanften Ethno-Klängen, einem treibend uptemporären Soundbett und einem als solchen identifizierbaren Refrain. Dem ersten Vernehmen nach müssen wir uns keine Sorgen um die übliche postFiKalische Verunstaltung durch einen anglifizierten Remix machen: wie Jonida im Wiwibloggs-Interview verriet, transportiert der Text ihres Liedes eine ihr am Herzen liegende Botschaft, die sich vor allem an die albanische Diaspora in aller Welt richtet und daher wohl in der Landessprache bleiben wird.
Im Semis trug Jonida noch eine lange Schleppe, unter welcher sich vier Backings versteckten. Sah dann aber vielleicht doch zu sehr nach Menschenschmuggel aus.
‘Ktheju tokës’ (sinngemäß etwa: ‘Kehr zurück ins Land’) erzählt von dem Gefühl der fehlenden Identität und der damit manchmal eingehenden Hoffnungslosigkeit, das für die Betroffenen mit der (Arbeits-)Migration verbunden sein kann: kein unwichtiges Thema für ein Volk, vom dem sich nach Schätzungen ein gutes Drittel (!) längerfristig im Ausland aufhält. Jonida singt auch aus persönlicher Betroffenheit: ihre Schwester lebt auf Zypern, sagte sie gegenüber Wiwibloggs, und so fehle ihr “meine andere Hälfte”. Ihr zur Rückkehr in die Heimat aufforderndes Lied lässt sich daher auch als eine Art persönlicher Sehnsuchtsruf interpretieren, und es gelingt ihr glaubhaft, ihren eigenen Trennungsschmerz künstlerisch zu transportieren. Insofern verwundert es nicht, dass dieser Beitrag die Herzen der mal wieder alleine abstimmungsberechtigten Juror:innen in Tirana berührte und – wenn auch recht knapp – im gestrigen Finale gegen Lidia Lufi gewann, einem weiteren Exemplar aus der Reihe der beim FiK rudelweise vorkommenden trauernden Witwen mit einer dramatischen Klageballade knapp an der Kreischigkeitsgrenze.
Aufgrund irgendwelcher verblödeter Contestwichser sind fast alle Live-Auftritte vom FiK 57 gelöscht. Es wäre beinahe, als wolle die albanische Musikindustrie mit aller Macht, dass man außerhalb des Landes keine Notiz von ihr nimmt. Dumm, einfach nur dumm!
Auf dem dritten Rang landete die optisch ein wenig an die junge Cher erinnernde Eranda Libohova mit einem ganz netten, stark “Nananananaj”-lastigen Folkliedchen. Sie wurde zum Opfer der organisatorischen Unfähigkeit des veranstaltenden Senders RTSH, der die heimischen und internationalen Zuschauer:innen aufgrund technischer Probleme zunächst eine halbe Stunde nach dem annoncierten Sendebeginn warten ließ, bis es endlich losging (immerhin eine Verbesserung zum zweiten Semifinale am Freitag, das sich ganze 45 Minuten verspätete), dabei aber offensichtlich den Soundcheck vergaß: sowohl das an erster Stelle startende Herrenduo Marko Strazimiri und Imbro als auch die an vierter Position kommende Eranda mussten sich mit ausfallenden Mikrofonen herumschlagen. Wobei es in Chers Fall besonders knüppeldick kam: die kompletten drei Minuten ihres Auftritts konnte man sie praktisch überhaupt nicht hören, dafür die Chorsänger:innen um so lauter. Immerhin durften beide Acts im Anschluss an die Anderen ihre Beiträge noch mal vorstellen. Für die Wertung spielte das indes keine Rolle: abgestimmt hatte die Jury schon nach den beiden Vorrunden.
Merke: Corn Rows sehen nur an Schwarzen gut aus. Weiß man eigentlich, Marko!.
Dessen ungeachtet nahm das Votum epischen Raum ein: einzeln verlas man die “Pikë” der zahlreichen Juror:innen und pflegte sie in eine stets störrische Tabelle ein, unterbrochen von nicht minder zahlreichen Werbepausen und Gaststars (wie dem noch fescher als letztes Jahr aussehenden Vorjahresvertreter Eugent Bushpepa). Dennoch – und trotz des verspäteten Starts – ging die Sendung pünktlich gegen Mitternacht zu Ende: es geschehen doch noch Zeichen und Wunder in Albanien! Als ein solches kann auch der Versuch gewertet werden, das altehrwürdige Festival ein wenig aufzufrischen, um die in Scharen abwandernden jüngeren Zuschauer:innen zurückzuholen (womit wir wieder bei Jonidas Thema wären). Dazu diente insbesondere das zweite Semifinale, in dem alle bereits am Tag davor in der ersten Runde schon einmal vorgestellten 22 Qualifikationsbeiträge ohne Orchesterbegleitung, mit Halbplayback, intoniert werden durften, wovon jedoch nicht alle Künstler:innen Gebrauch machten. Im gestrigen Finale hingegen herrschte dann doch wieder Zucht und Ordnung: keine Bühnengimmicks, keine Tänzer:innen, stattdessen das altbewährte, große RTSH-Orchester unter der Leitung des Finalteilnehmers (!) Elton Deda (er mit einem nicht weiter erwähnenswerten, grottenlangweiligen Jazz-Genudel), verteilt auf zwei stabile Baustellengerüste links und rechts der Bühne.
Gelegentlich wünschte man sich unterdessen, das Festivali würde nur im Radio übertragen und nicht im Fernsehen, so dass einem diverse Anblicke erspart blieben. Neben dem von Elton Deda beispielsweise auch der des bereits erwähnten, erst sechzehnjährigen Sängers Marko Strazimiri, eigentlich kein hässlicher Kerl, der sich jedoch mit einer eierförmigen, schlimmen Flechtfrisur selbst komplett entstellte. So arg, dass es einem schwer fiel, sich auf den wunderbaren Harmoniegesang zu konzentrieren, mit dem er und sein sieben Jahre älterer und stimmlich deutlich dunkler gefärbter Kompagnon Imbro die sowohl im arabischen wie im balkanischen Sprachraum gerne und stets herzschmelzend angeschmachtete ‘Leyla’ besungen. Auch ihre wunderschön dramatische Ballade, deren allerdings etwas abrupter Schluss wohl ein besseres Ergebnis als den enttäuschenden achten Platz verhinderte, verfügt über einen ernsten Hintergrund, erzählt sie doch die Geschichte eines erst vierzehnjährigen Mädchens und ihrer ungewollten Schwangerschaft: ein in modernen, aufgeklärten Zeiten eigentlich ausgestorben sein sollendes, stattdessen aber weltweit zunehmendes Phänomen, das für sehr viel unnötiges Leid sorgt.
Der Knalleffekt blieb aus: Eliza Hoxha und ‘Peng’ (Musikvideo).
Leidvoll auch die Erfahrung der sich in ihrer gescheiterten Beziehung unverstanden fühlenden Eliza Hoxha, die sie in ihrer selbst geschriebenen Trennungsschmerzballade mit dem für deutsche Ohren lustigen Titel ‘Peng’ (sinngemäß etwa: ‘Schuld’) verarbeitete. Mit dem Stilmittel des seufzend-schluchzenden Einatmens versuchte sie, ihrem Vortrag zusätzliche Dramatik zu verleihen, ein Kniff, den wir bereits von ihrer ebenfalls aus dem Kosovo stammenden Kollegin Rona Nishlu (AL 2012) kennen und den diese deutlich überzeugender beherrschte. Zu den Mehrfach-FiKern zählten sowohl Bojken Lako als auch die albanische Lady Gaga, Orgesa Zaimi, aus derem eher chaotischen Pop-Konglomerat ‘Hije’ die englisch intonierte Textzeile “Back up, back up, I’m not gonna lose my cool” hervorstach, die aufgrund ihrer etwas atemlosen Gesangsweise allerdings eher dahingehend interpretiert werden konnte, dass es sich bei der zierlichen Person um ein albanisches Cowgirl handele, die ihre kuhhüterischen Fähigkeiten anpreist. Der wie immer arg bekifft wirkende Bojken fiel hauptsächlich dadurch auf, dass er sein Gesicht permanent hinter seiner riesigen Hand versteckte, mit der er das bereits auf dem Ständer festgesteckte Mikrofon von oben umklammerte.
Neben ‘Peng’ gab es auch viel “Bum bum” beim FiK. Dafür zeichnete Soni Malaj verantwortlich.
Zu den Fan-Favoritinnen zählte die optisch ein wenig an die frühe Janet Jackson erinnernde Soni Malaj, die mit ‘Më e fortë’ eine durchaus druckvolle und dezent RnB-angehauchte Uptempo-Nummer beisteuerte, deren Tanzbarkeit die gelernte Balletteuse im zweiten Semifinale selbst unter Beweis stellte. Was ihr in Fan-Foren umgehend den Vergleich mit Eleni Foureiras ‘Fuego’, dem zweitplatzierten Eurovisionssong von 2018, einbrachte. Und der ist selbstredend völliger Quatsch: zwar geht auch bei Soni korrekterweise Stil vor Substanz, aber mit der zwingenden musikalischen Eingängigkeit des albanozyprischen Feuers kann das allenfalls vom basslastigen “Bumm, bumm-bumm-bumm”-Motiv des Begleitchors notdürftig zusammengehaltene Sound-Sammelsurium ihres Liedchens bei Weitem nicht mithalten. Nicht so ganz nachvollziehen ließ sich auch das der doofen Jury geschuldete Weiterkommen des gemischtgeschlechtlichen Duos Artemisa Mithi und Febi Shkurti sowie von Dilan Reka ins Finale.
Wenigstens landete das Duo mit seinem halbgaren, auf einem laschen “Eh-oh”-Refrain basierenden und durch die unglaubwürdigen Rap-Parts von Febi komplett der Lächerlichkeit preisgegebenen Song dort auf dem absolut verdienten letzten Platz. Um so unverständlicher das gute Abschneiden Dilans, der zeitweilig sogar um den Sieg mitspielte. Er hatte mit ‘Karma’ zwar einen wunderbar trashigen Discoschlager dabei, aus dem ein einigermaßen begabter Interpret sicherlich hätte etwas machen können. Zu denen zählt der ehemalige X‑Factor-Teilnehmer mit seiner brüchigen Fistelstimme jedoch nicht. Er muss wohl über andere Talente verfügen, mit denen er die Juror/innen für sich einnehmen konnte. Welchen Effekt die ständige Wiederholung innerhalb einer dreiteiligen Vorentscheidung auslöst, lässt sich am Beispiel von Klint Çollaku illustrieren: ging mir der 19jährige The-Voice-Sieger im ersten Semi mit seiner überangestrengten Modulation und Mimik noch gehörig auf die Nüsse, so gewann er mit jedem weiteren Auftritt an Selbstsicherheit, während sich seine Liebesballade nach und nach immer tiefer in meine Gehirnwindungen bohrte.
So sehr, dass ich seinen sechsten Platz nach dem nun wirklich überzeugenden Finalauftritt als enttäuschend empfand. Wenigstens erhielt er zum Trost den Sonderpreis der “Jury populare”, eines ebenfalls im Bemühen um die Rückgewinnung der jüngeren Zuschauer:innen eigens zusammengestellten Bewertungsgremiums, das sich aus den jahrgangsbesten Student:innen der Hochschulen zu Tirana zusammensetzte und in den Semis mitentscheiden durfte, wer ins Finale einzieht. Ob diese eher kosmetische Maßnahme ausreicht, das Festivali i Këngës zukunftsfit zu machen? Immerhin ließ sich im Vergleich zu den Vorjahren eine deutliche qualitative Verbesserung der musikalischen Bestückung festmachen. Bei den technischen Abläufen und der Präsentation bleibt indes noch viel Luft nach oben, und die allmächtige und geschmacklich nicht repräsentative Jury bleibt weiterhin ein Ärgernis, auch wenn sie diesmal ausnahmsweise die richtige Wahl traf.
Die Studiofassung des albanischen Beitrags.
Vorentscheid AL 2019 (Finale)
Festivali i Këngës 57. Samstag, 22. Dezember 2018, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 14 Teilnehmer:innen. Moderation: Viktor Zhusti + Ana Golja.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Pl. |
---|---|---|---|---|
01 | Marko Strazimiri + Imbro | Lejla | 142 | 08 |
02 | Gjergj Leka | Një ditë tjetër | 131 | 10 |
03 | Elton Deda | Qetësisht | 156 | 07 |
04 | Eranda Libohova | 100 pyetje | 181 | 03 |
05 | Jonida Maliqi | Ktheju tokës | 228 | 01 |
06 | Eliza Hoxha | Peng | 127 | 11 |
07 | Orgesa Zaimi | Hije | 121 | 13 |
08 | Bojken Lako | Jeto jetën | 138 | 09 |
09 | Soni Malaj | Më e fortë | 166 | 05 |
10 | Artemisa Mithi + Febi Shkurti | Dua ta besoj | 113 | 14 |
11 | Dilan Reka | Karma | 169 | 04 |
12 | Alar Band | Dashuria nuk mjafton | 124 | 12 |
13 | Lidia Lufi | Rrëfehem | 219 | 02 |
14 | Klint Çollaku | Me jetë | 163 | 06 |
Letzte Aktualisierung: 12.09.2022
Test
OK, ich hoffe mal, dass Test bedeutet, die Kommentar-Funktion klappt wieder (statt dass ich einfach zu doof bin) – also schön zu wissen, dass Du hinter dieser immer unterhaltsamen Seite steckst, Oliver; hatte die Connection irgendwie alleine nicht gemacht!
Hallo zusammen !!
Im Prinzip hat der Hausherr hier es schon so beschrieben, was zutrifft: “Ktheju tokes” hat alles, was ein ansprechender Ethnotitel auf der Höhe der Zeit haben sollte. Ich mag sehr Jonidas Stimme, sie kann auch schon ein beträchtliches Repertoire vorweisen. Es ist immer sehr angenehm registrieren zu dürfen, daß es heutzutage nicht nur kurzlebige Gesangssternchen oder Überbleibsel aus diversen Castingformaten zum ESC schaffen. Zum zweiten Mal in Folge kommt ein exzellenter Beitrag aus dem Land der Shkipetaren.
Ich werte mit 9 von 10 Punkten – es kann gerne so weitergehen !
Ich werte noch gar nicht mit Punktzahl. Ich sage erst einmal nur, dass es mir sehr gut gefällt. Sobald sie anfängt zu singen, fängt mich der Song immer wieder ein. Finale ist damit sicher möglich. Auf jeden Fall ein guter Auftakt für die Saison. Hoffentlich geht es so weiter!
@ porsteinn
Eigentlich vernünftig.… Ich bin halt nur sehr froh über die Wahl Albanien und vor allem auch darüber, daß uns eine schlechte englische Version erspart bleibt.
Hallo, ein gutes, glückliches, gesundes 2019 allerseits!
Da ich die internationalen VEs nur am Rande verfolge, kenne ich die anderen albanischen Songs nicht, aber ich muss sagen: Dieser gefällt mir ausgesprochen
gut. Auf jeden Fall jault sie nicht ganz so, wie einige ihrer Kolleginnen in den Jahren vorher.
Und wenn der Song wirklich nicht ins Englische umgedichtet, sammelt sie bei mir noch extra Pluspunkte.
Na ja, dann schon lieber reich ins Heim.
Hätte ja auf die Drittplatzierte gesetzt, aber die Siegerin habe ich mir nach nur 3 Durchgängen erstaunlich schnell schöngehört 🙂