Die Deutsche Bahn hat offenbar heimlich, still und leise das Management des albanischen Staatssenders Radio Televizione Shqiptar (RTSH) übernommen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass das gestrige zweite Semifinale des traditionsreichen Festivali i Këngës (FiK) aufgrund nicht näher spezifizierter “technischer Schwierigkeiten” mit einer satten dreiviertel Stunde Verspätung startete, die RTSH zur besonderen Freude der erwartungsfroh sich vor den Bildschirmen und Internetbrowsern Europas versammelt habenden Vorentscheidungsfans mit einer Dauerschleife der immergleichen fünf Programmtrailer überbrückte. Der animierte Tannenzapfen aus dem “Frohes Fest”-Spot wird nicht nur mich noch die nächsten Jahre in meinen Alpträumen verfolgen! Doch dem passionierten Eurovisionsenthusiasten ist keine Prüfung zu schwer, schließlich galt es, exakt dieselben 22 Lieder noch mal zu sehen wie bereits am Abend zuvor im ersten Semifinale des 57. FiK. Immerhin – so zumindest das Vorab-Versprechen – in einer anderen Version.
https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_kdJamY6LCURBpRfR94SO6faOJ9bp64E‑k
Leider sind fast alle Beiträge des 57. FiK wegen irgendwelcher wildgewordener Contestwichser nur noch in der Audiofassung abrufbar. Ich habe für diese Personen wirklich nur abgrundtiefste Verachtung übrig und wünschen Ihnen von Herzen den baldigen finanziellen Ruin.
Getrieben von massiv bröckelnden Einschaltquoten vor allem beim jüngeren Publikum hatte sich RTSH heuer nämlich zu einer geradezu radikalen Auffrischung des altehrwürdigen Liederfestivals entschlossen: nachdem sich das erste Halbfinale am Donnerstag mit großem Rundfunkorchester und festlicher Abendgarderobe noch ganz nach alter Väter Sitte gestaltete, switchte man am Freitag in den Melodifestivalen-Modus und präsentierte alle 22 Beiträge live zum Halbplayback, also mit Studio-Soundtrack und Chorstimmen vom Band, gewissermaßen in der Pop-Version. Und das sogar stellenweise unterstützt von Tänzer:innen und Pyrotechnik! Allerdings spielten bei Weitem nicht alle Künstler:innen mit bei dieser die Grundfesten der skipetarischen Gesellschaft erschütternden Pop-Revolution: in einem Auftrittsblock der Traditionalisten versammelte RTSH in der Mitte der Sendung all diejenigen, die unbeugsam darauf bestanden, ihre Songs in Begleitung von live aufspielenden Musiker:innen vorzutragen. Unnötig zu erwähnen, dass diese Modernitätsverweigerer:innen samt und sonders die langweiligsten Lieder des Abends im Gepäck hatten.
Der Vorab-Präsentations-Schnelldurchlauf mit Sekundenschnipseln aus allen 22 Liedern.
Unter ihnen fand sich natürlich auch Elton Deda, der – wie schon im Vorjahr – erneut in seiner Doppelrolle als Chef des RTSH-Orchesters und FiK-Kombattant glänzte. Sein superfluenter Beitrag ‘Qetësisht’ (‘Gelassen’) basierte auf einer kleinen, unaufdringlichen Melodie, von der ich schwören könnte, dass ich sie schon einmal im deutschen Werbefernsehen der Siebziger Jahre gehört habe, auch wenn ich heute ums Verrecken nicht mehr sagen kann, ob damit Teebeutel, Katzenstreu oder Versicherungen angepriesen wurden. Bei den Kombattant:innen, die sich auf das neue Präsentationsformat einließen, zeigte sich, dass der Sender mit dieser ungewohnten Moderne offensichtlich noch ein wenig fremdelt: im Direktvergleich zu den meist deutlich ausgewogeneren Darbietungen vom Donnerstag ertranken viele von ihnen stimmlich im deutlich zu lauten Halbplayback. Die schwindelig machenden Schwenks und Schnitte beim Versuch, die Choreografien einzufangen, legten zudem beredt Zeugnis ab von der Überforderung der Kameraleute mit den gestiegenen Anforderungen.
Griff ins Klo(diana): Frau Vata scheiterte mit ihrem schönen Discoschlager an den Jurys.
Die im Schlussdrittel der gestrigen Show auftretenden Künstler:innen boykottierten den zuvor kommunizierten Ansatz, die Songs so zu präsentieren, wie sie im Falle ihres Sieges auch beim Eurovision Song Contest über die Bühne gingen, in dem sie prominente Duettpartner:innen hinzuholten, die sich am Donnerstag im ersten Semifinale noch nicht im Aufgebot befanden und vermutlich auch für Tel Aviv nicht zur Verfügung stünden. Für die größte Überraschung sorgte dabei das Herrenduo Marko Strazimiri und Imbro, das sich im Schlussvers seiner sterbensschön-tieftraurigen Balkanbänkelsängerballade ‘Leyla’ (ganz ehrlich: mir kam bis heute noch nicht ein Lied zu Ehren dieses aparten Frauennamens zu Ohren, dass mich nicht zum umgehenden Dahinschmelzen gebracht hätte!) von der völlig unvermittelt auf der Bühne aufkreuzenden Aurela Gaçe – richtig: die Tautropfen-Sammlerin mit dem eisigen Blick von 2011 – begleiten ließ. Ein gelungener Coup: der Wow-Effekt ihres Auftritts ließ einen fast schon die entsetzlich deplatzierte, entstellende Cornrow-Frisur von Herrn Strazimiri vergessen, die den Genuss des Beitrags doch optisch erheblich minderte.
Stammt das Loch im Bauch der Zeichentrick-Leyla von nicht enden wollenden Kinderfragen oder vom Schaudern über Markos schlimme Haarfrisur?
Für einen Teil der 22 Teilnehmer:innen endete heute Nacht bereits die Reise: die traditionelle FiK-Jury und ein ebenfalls als Neuerung installierter Beirat der jahrgangsbesten Student:innen der Hochschulen von Tirana sortierte im Anschluss an die aufgrund des verspäteten Sendebeginns und eines dennoch nicht gestrichenen stundenlangen Pausenclown-Auftritts einer schrill kreischenden Bauchrednerin erst tief in der Nacht endenden Show acht von ihnen heraus, die sich im heutigen Finale nicht mehr der Wahl stellen dürfen. Zu ihnen gehört bedauerlicherweise der vorige Fan-Favorit Mirud, ein blutjunger und hundewelpenniedlicher Kosovare mit Opernsänger-Ausbildung, der seiner ‘Nënë’ (‘Mutter’) ein bezauberndes Ständchen brachte, dabei allerdings so seine Schwierigkeiten mit dem Konzept des Ins-Mikrofon-Singens zu haben schien und generell ziemlich nervös wirkte. Nun löste sein Rehkitz-im-Autoscheinwerfer-Auftritt den Reaktionen in den Fan-Foren zufolge zwar (so wie auch beim Hausherren) europaweit Milcheinschuss und Beschützerinstinkt-Aufwallungen aus, in Albanien aber sorgte es für einen gesenkten Daumen. Sterbt, dreckiges Jurorenpack!
Roman Lobs jüngerer schwuler Bruder oder das kosovarische Baby-Bärchen: Mirud mit seinem von Elhaida Dani (AL 2015) komponierten Mütter-Loblied, leider nur als Lyric-Video erhältlich.
Schade ist es auch um Klodania Vata, und das nicht nur wegen ihres für deutsche Ohren sehr lustigen Vornamens. Sondern auch wegen des nicht minder skurrilen Wortes ‘Mbrëmje’ (‘Abend’) in ihrem Songtitel ‘Mbrëmje pa fund’. Und nicht zuletzt aufgrund des profunden, sachte angerockten Discoschlagers, der mit einem durchaus süffigen Refrain und einer starken Melodieführung überzeugte, allerdings in der visuellen Umsetzung zu wünschen übrig ließ. Hier hätte es vielleicht einiger tanzender Zwerge bedurft, alleine schon zur optischen Abgrenzung zu ihrer ebenfalls gescheiterten Mitbewerber:in Elona Islamaj, die ihr aufgrund der exakt gleichen Haarfarbe und ‑länge und des ebenso fehlenden Halses zum Verwechseln ähnlich sah. Ebenfalls an der Optik scheiterte Elton John, der sich unter dem Tarnnamen Kujtim Prodani ins FiK einschlich und dessen eigentlich ganz ansprechende violinsatte Ballade ‘Babele’ an seinen sehr überflüssigen Sprechgesangseinlagen und dem Anblick des etwas onkelig wirkenden Sängers krankte.
Beginnt (bum-bumbumbum) wunderbar dramatisch (bum-bumbumbum) und druckstark, kann aber das Level leider nicht die ganzen drei Minuten halten: Soni Malaj.
An dem gleichen Zwiespalt litt auch die ergreifende Ballade ‘Të dua ty’ (‘Ich liebe dich’), deren ausschließlich aus einem vom Begleitchor mäandernd dahingeschmetterten “Ahahahahahahahaha” und dem vom Interpreten Aurel Thellimi als Sahnehäubchen ergänzten “Dashuri!” (“Liebe!”) bestehender Refrain sich unmittelbar in den Gehörgang bohrte. Mit seiner schlimmen Schmalztolle, dem anscheinend vor dem Auftritt frisch mit einer Speckschwarte eingeriebenen Gesicht und seinem Gottlieb-Wendehals-Gedächtnisjackett stieß Aurel den geneigten Zuhörer jedoch visuell dermaßen ab, dass sein frühes Ausscheiden beruhigt. Ebenso übrigens wie bei Bruno Pollogati, der optisch ein wenig den legendären 1978er Auftritt der norwegischen Contestlegende Jahn Teigen channelte: sein hyperaktives Herumtänzeln und Gruselstarren verlieh ihm das Fluidum eines aufdringlichen Stalkers, mit dem man aufgrund seines gar nicht so schlechten Aussehens zunächst unvorsichtigerweise kurz flirtete, dann aber feststellte, dass er schlecht aus dem Mund riecht, und den man nun unangenehmerweise überhaupt nicht mehr los wird.
Lorela leimte wahllos ein paar musikalische Sägespäne zusammen, bekam für ihre Bastelarbeit aber nur die Note “mangelhaft”.
Der ganze Schrecken der aktuellen Modetorheit des Planking offenbarte sich am ansonsten ganz feschen Kombattanten Kelly (ja, trotz des Namens ein echtes Mannsbild), der im ersten Semi – wie viele seiner maskulinen Mitbewerber – Hochwasserhosen zu fehlenden Socken kombinierte: als sportlicher Look mit Sneakern vielleicht gerade noch akzeptabel, in Verbindung mit dem festlichen Anlass angemessenem edleren Schuhwerk aber gewissermaßen ein Tritt ins Gesicht des ästhetisch anspruchsvollen Zuschauers. Im zweiten Semi sorgte dann der Gastauftritt von Lorenc Hasrama, der sich das Lied mit Kelly teilte und diesen stimmlich wie charismatisch komplett überflügelte, für Ablenkung. Der Song zog dennoch nicht die Wurst vom Teller. Ganz im Gegensatz beispielsweise zum fröhlichen Bukovina-Sound der Alar Band, eines nett anzuschauenden Herrenquartetts mit einem leider etwas mindercharismatischen Frontmann, deren blechbläserlastiges ‘Dashuria nuk mjafton’ (‘Liebe allein genügt nicht’, wie schon Frau Sommer wusste) als willkommene Erinnerung daran diente, dass auch Albanien Teil des Balkans ist. Die Vier kamen zu Recht weiter ins Finale.
Überraschend hingegen der Finaleinzug von Dilan Reka mit seinem camptastisch futtigen Discoschlager ‘Karma’, der am Donnerstag mit gefärbter Pilotenbrille noch als Georg-Michael-Impersonator auftrat, am Freitag hingegen mit dem vermutlich historisch erstmaligen Einsatz eines Gimmicks beim Festivali i Këngës für Verwirrung und Chaos sorgte. Hatte er doch aus Restbeständen des schwedischen Fernsehens günstig die (mittlerweile wieder instand gesetzte) Glasbox erstanden, die Eric Saade einst bei seiner ‘Popular’-Performance zerschmetterte, und ließ sich in diesem Requisit auf die FiK-Bühne rollen. Nur, um dem Kubus dann völlig unspektakulär zu entsteigen. Später kletterte er in Begleitung einer mit ihren Narrenhänden alles beschmierenden Tänzerin wieder in die Kabine zurück, wo er dann aufpassen musste, seinen modischen Kaschmirmantel nicht mit der aufgebrachten Fingerfarbe einzusauen. Sinn machte das alles nicht, aber das spielte angesichts der wimmernd schiefen Falsetttöne, die Herr Reka herauskrisch, auch keine Rolle mehr. Sehr lustig: nach seinem Abgang stand die Box während der nachfolgenden Moderation der beiden Gastgeber weiter nutzlos auf der Bühne herum und wurde von den beiden erst anschließend heruntergerollt.
Freuen können wir uns im heutigen Finale ebenfalls auf die Kosovarin und laut Wikipedia nebenberuflich als Architektin tätige Eliza Hoxha, schon alleine, weil ihr Lied ‘Peng’ heißt und der Refrain auch nur aus diesem einen Wort besteht; auf den ganz aparten Klint Çollaku und seine drollige Mimik; vor allem aber auf die neue Top-Favoritin Jonida Maliqui, die zum einen mit Simone-Thomalla-Lippen und einer Mireille-Mathieu-Perücke entzückt, unter all den zwingend zu einer albanischen Vorentscheidung gehörenden kreischenden Frauen (gut, auf dem Balkan hat das weibliche Geschlecht vermutlich auch einfach noch viel mehr berechtigten Grund zum Wehklagen als hierzulande) aber voll allem mit einem blitzsauberen Timbre, einer extrem gelungenen Mélange aus dekorativen Ethno-Klängen, einer packenden Melodie und einem mitreißenden musikalischen Drive und nicht zuletzt mit einer geradezu göttinnenhaften Ausstrahlung. Wenn die nicht gewinnt, fresse ich einen Besen!
Vorentscheid AL 2019 (1. Semi)
Festivali i Këngës 57. Donnerstag, 20. Dezember 2018, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 22 Teilnehmer/innen. Moderation: Viktor Zhusti + Ana Golja.# | Interpret/in | Titel | qual. |
---|---|---|---|
01 | Bojken Lako | Jete jeten | ja |
02 | Alar Band | Dashuria nuk mjafton | ja |
03 | Lidia Lufi | Rrëfehem | ja |
04 | Kujtim Prodani | Babela | nein |
05 | Gjergj Leka | Besoj | ja |
06 | Dilan Reka | Karma | ja |
07 | Mirud | Nënë | nein |
08 | Soni Malaj | Do vij | ja |
09 | Jonida Maliqi | Ktheju tokës | ja |
10 | Elton Deda | Qetësisht | ja |
11 | Elona Islamaj | Në këtë botë kalimtarë | nein |
12 | Klodiana Vata | Mbremje e pafund | nein |
13 | Klint Collaku | Me jete | ja |
14 | Artemisa Mithi + Febi Shkurti | Dua ta besoj | ja |
15 | Kelly | A më ndjën | nein |
16 | Bruno Pollogati | Bruno Pollogati | nein |
17 | Marko Strazimiri + Imbro | Lejla | ja |
18 | Lorela Sejdini | Vetmi | nein |
19 | Eliza Hoxha | Peng | ja |
20 | Eranda Libohova | 100 pyetje | ja |
21 | Aurel Thellimi | Të dua ty | nein |
22 | Orgesa Zaimi | Hije | ja |