Sie fiel qualitativ ein kleines bisschen ab gegenüber dem hervorragenden ersten Semifinale vergangene Woche: die gestern Abend live ausgestrahlte zweite Vorrunde der Destination Eurovision 2019, des französischen Vorentscheidungsverfahrens. Davon mal abgesehen glichen sich die beiden Abende wie ein Ei dem anderen: erneut traten neun ziemlich gute Songs gegeneinander an, erneut gab es einen überragenden Juryfavoriten, erneut stimmten die fünf internationalen Juror/innen (diesmal aus Armenien, Georgien, Schweden, Tschechien und Österreich) nur sehr bedingt mit den im Studio anwesenden französischen “Fachleuten” und mit dem gallischen Publikum überein und erneut ließen die stimmlichen Leistungen bei einigen der Acts zu wünschen übrig. Einen Eklat gab es allerdings zu Beginn der Show, als direkt im Anschluss an den Auftritt der als Gaststar eingeladenen Vorjahressiegerin Netta Barzilai eine Antisemitin die Bühne stürmte und ein Schild mit der Aufschrift “Nein zur Eurovision in Israel” in die Kamera hielt. Das dürfte heuer noch ein unruhiger Eurovisionsjahrgang werden!
Wenn das Geräusch des einströmenden Bühnennebels Deinen Gesang übertönt, hast du ein Problem: Noémi (das Livevideo ließ das geistig komplett derangierte französische Fernsehen unfassbarerweise sperren. Imbècieles!).
Erfreulich hoch lag die Anzahl der am gestrigen Abend zu beaugenschmausenden, hinreißend schönen und apart agierenden männlichen Tänzer. Unerfreulich ineffektiv blieb indes ihr Einsatz: die Rapperin Tracy de Sà und die Afropop-Interpretin Noémi, die beide besonders ansehnliche Exemplare dieser Gattung mit auf die Bühne brachten, teilten sich schließlich die beiden letzten Plätze im Gesamtranking. Nun funktionierten beide Beiträge live halt auch nicht: Noémis mit Djembes und Dschungelrufen durchsetztes, musikalisch ziemlich flaches ‘Ma petite Famille’ klang, als sei es für den Abspann einer König-der-Löwen-Fortsetzung komponiert worden und litt unter der offensichtlichen Nervosität der Interpretin. Die prima prollige Kampftrinker-Hymne ‘Por aquí’ der spanischstämmigen Tracy, in der Studiofassung eine ziemlich geil bollernde Ballermann-Nummer, fiel auf der Bühne aufgrund der vokalen Minderleistung der Hip-Hopperin, die sich zuvor beim Vorstellungssingen bereits mit einem katastrophal hinter dem Beat her stolpernden Flow zu Eminems ‘Lose yourself’ bis auf die Knochen blamiert hatte, schneller in sich zusammen als ein Vampir im Licht der Morgensonne. Schade drum!
Strotzte vor unbegründetem Selbstbewusstsein: Tracy de Sà. Ihre beiden Tänzer lüde ich allerdings gerne auf “Whiskey, Cocktails, Rum, Rum, Rum” ein.
Ein bisschen besorgniserregend der Auftritt der recht kleinwüchsigen und stechblickenden Elise Philip, die allerdings die ungarisch-österreichische Schreibweise PhilipElise bevorzugte und die zu ihrer kruden, hauptsächlich von “Hey hey hey”-Rufen zusammengehaltenen Akkordeon-Nummer über die Bühne stampfte und hüpfte wie der Holzmichl auf schlechten Drogen. Einen musikalisch wüsten Mix aus handgespielter Discogeige, funky Beats und ebenfalls etlichen “Hey“s präsentierte die ebenso ziemlich petite wirkende und ziemlich irre dreinblickende Gabriella Laberge, die in der rein informativen Wertung der drei von France 2 angeheuerten “Musik-Experten” unisono vorne landete – vermutlich aus Angst vor Rache. Die aus ihren Heimatländern zugeschalteten internationalen Juror/innen und das französische Publikum sahen das objektiver und voteten sie auf einen gerechten Mittelfeldplatz. Mit nur einem Punkt Abstand ganz knapp am Finaleinzug scheiterte das blasierte Milchbübchen Ugo Benterfa, obschon der mit ‘Ce qui me blesse’ eine überraschend kompetent komponierte und vorgetragene Ballade am Start hatte, damit aber insbesondere das heimische Publikum nicht überzeugen konnte.
Obschon ich den Sänger super unsympathisch finde und kein Balladenfreund bin, muss ich zähneknirschend zugestehen: das war verdammt gut!
An seiner Stelle zog der schwarze Sänger Doutson weiter, und zwar sehr zu meiner Freude. Seine eingängige Afropop-Nummer mit dem auf den ersten Blick etwas spießig wirkenden Titel ‘Sois un bon Fils’ (‘Sei einer guter Junge’) war als Mütterhymne gedacht und forderte die jüngeren männlichen Zuschauer zu mehr Respekt gegenüber ihren weiblichen Erziehungsberechtigten auf. Als optischen Clou hatte Doutson einen kleinen Jungen (nicht sein eigener Sohn, wie er auf Nachfrage zugab) mitgebracht, der im selben Bikerjacken-Rapperkäppi-Bürohengsthemd-Outfit wie er als seine Miniaturausgabe am Bühnenrand stand, perfekt lipsynchte, lässig tanzte und ihm in Sachen Selbstbewusstsein komplett die Schau stahl. Da erwiesen sich die vier professionellen, erwachsenen Tänzer im Bühnenhintergrund fast schon als überflüssige Ablenkung. Nun hat dieser gerade noch so ins Finale gehechtete Song zwar weder dort eine reelle Chance noch beim Eurovision Song Contest, wo der Mini nach den Regeln gar nicht mit auf die Bühne dürfte. Trotzdem freue ich mich drauf, den Auftritt am nächsten Samstag nochmal sehen zu dürfen.
https://youtu.be/9kdDU8aEoNA
Wenn der Babysitter dir zwei Stunden vor dem TV-Auftritt absagt (das Livevideo ließ das geistig komplett derangierte französische Fernsehen unfassbarerweise sperren. Imbècieles!).
Ein bisschen Respekt forderte auch das Dralle-Damen-Trio The Divaz (wirklich? Geht es noch unkreativer?), bestehend aus den so figur- wie stimmstarken Sängerinnen Stacey, Sofia und Amalya, die zuerst in der französischen Ausgabe der Castingshow The Voice aufeinanderprallten und zuletzt in der Musicalvariante meines absoluten Lieblingsfilms aller Zeiten, nämlich Priscilla – Königin der Wüste, Beschäftigung fanden. Sie präsentierten eine gut gemeinte Hommage an die kürzlich verstorbene, unerreichbare Soulqueen Aretha Franklin. Leider jedoch erinnerte ‘La Voix d’Aretha’ trotz der unbestreitbar makellosen stimmlichen Leistung der Drei musikalisch eher an die Weather Girls in der Endphase ihrer Karriere als an die amerikanische Regentin des Soul zu deren Höhepunkt. Für kleine, unfreiwillig lustige Momente sorgte das schwarze Drittel des Trios während der Stimmenauszählung, wenn sie im Green Room bei einer enttäuschenden Punktevergabe zunächst unwillig das Schnütchen verzog, um Sekundenbruchteile später – Achtung, es sind ja Kameras anwesend – in ein gezwungenes Grinsen zu verfallen.
https://youtu.be/YdWl-OKmSm4
Ohne allzu sexistisch klingen zu wollen: die beiden fast schon comichaft prallen Melonen der Rechten waren ein echter Hingucker (das Livevideo ließ das geistig komplett derangierte französische Fernsehen unfassbarerweise sperren. Imbècieles!)!
Das Televoting gewann der seit 2009 offen schwul lebende Sänger Emmanuel Moiré, der sich selbst ‘La Promesse’ (‘Das Versprechen’) gab, sich nicht zu verstecken, um anderen zu gefallen, sondern die mentale Rüstung zu verlassen und “endlich zu leben, wenn mein Herz für einen Mann schlägt”. Eine wichtige, wunderbare und Mut spendende Botschaft, die er mithilfe zweier oberkörperfreier Tänzer, die ihn um Teile seiner Bühnengarderobe erleichterten und sich mit dem seit einem guten Jahrzehnt etablierten und kommerziell erfolgreichen Künstler knisternd homoerotische Blickduelle lieferten, auch ansprechend visualisierte. Schade nur, dass er stimmlich in den höheren Lagen seines Beitrags doch arg an seine Grenzen stieß, wenn auch nicht ganz so furchtbar wie in der Vorstellungsrunde, als er sich am Achtzigerjahre-Popklassiker ‘Take on me’ von a‑ha (oder, wie der Moderator Garou es so herrlich lustig französisch aussprach: “A‑a”) versuchte und dabei krachend scheiterte. Nun ist es ja keine Schande, mit 39 Jahren kein Falsett mehr singen zu können, weil die Stimme inzwischen in tiefere Lagen gereift ist. Aber dann sollte man um all zu hohe Töne doch besser einen Bogen schlagen und diese nicht auch noch in seine Eigenkomposition einbauen?
Einen besonderen Dank der Modepolizei an die beiden Tänzer, dass sie Emmanuel das hässliche Oversize-Jackett vom Leib rissen (Live-Video gesperrt).
Mit 60 von 60 möglichen Punkten im Juryvoting und einem knappen zweiten Platz im Zuschauerranking dominierte jedoch die 21jährige L. Simoncini alias Seemone (wirklich? Geht es noch unkreativer?) den Abend. Und das zu Recht: ihre sparsam instrumentierte Klavierballade ‘Tous les Deux’ richtete sich textlich an ihren (verstorbenen?) Vater, von dem sich wünschte, ein letztes Mal in die Arme genommen zu werden und mit ihm zu tanzen. Ihre leicht raue, zerbrechliche Stimme unterstrich die zutiefst persönliche Intimität dieser von ihr mitgeschriebenen Hommage. Und nicht nur der im France-2-Studio sitzende “Musik-Experte” Christophe Willem und der Hausblogger mussten vor Rührung während ihres Vortrags das ein oder andere Tränchen verdrücken: beim finalen “Papa!” schüttelte es auch die Interpretin, die mit erkennbar größter Mühe einen Heulkrampf unterdrückte, woraufhin ihr natürlich die Herzen reihenweise zuflogen. Ein authentischer Moment der Überwältigung, der sich allerdings im Destinations‑Finale so nicht glaubwürdig wird wiederholen lassen. Doch auch ohne ihn wirkt Seemones fragile Ballade ansprechend genug, um dem ‘Roi’ Bilal Hassani ernsthafte Konkurrenz zu machen. Es bleibt spannend!
Die französische Adele nennt sich See-Anemone und lässt mich pleurieren.
Vorentscheid FR 2019 (2. Semifinale)
Destination Eurovision. Samstag, 19. Januar 2019, aus den Studios de France – Bât 217, Paris. 9 Teilnehmer/innen. Moderation: Garou.# | Interpret | Titel | Jury | TV | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Gabriella Laberge | On cherche encore | 14 | 18 | 06 |
02 | The Divaz | La Voix d’Aretha | 26 | 28 | 03 |
03 | Ugo Benterfa | Ce qui me blesse | 30 | 08 | 05 |
04 | Tracy de Sà | Por aquì | 02 | 13 | 08 |
05 | Emmanuel Moiré | La Promesse | 28 | 56 | 02 |
06 | Noémie | Ma petite Famille | 06 | 08 | 09 |
07 | Seemone | Tous les Deux | 60 | 53 | 01 |
08 | Doutson | Sois un bon Fils | 24 | 15 | 04 |
09 | PhilipElise | Madame la Paix | 18 | 13 | 07 |
Sehr schön beobachtet alles. Was ich ja nicht verstehe, ist, warum in der Bubble (z.B. gestern im Prinz Chat) dem Emmanuel Moiré so viel Ablehnung entgegenschlägt. Klar, war das nicht gut gesungen gestern, aber das Lied selber finde ich doch recht erbaulich und schön melodisch noch obendrein.
Im Nachhinein betrachtet sind schon die vier Richtigen weitergekommen, wengleich ich mit der Aretha-Gedächtnisnummer nicht allzu viel anfangen kann. Aber ich finde, auch solche Acts gehören in ein VE-Angebot (und sei es als “Füllmaterial”). Ugo war leider gesanglich auf DSDS-Niveau, echt schade.
Und ja: Auch ich gehöre jetzt zum Fanclub der Seeanemone. Das letzte Mal habe ich bei Salvador geweint und wir wissen alle, was daraus geworden ist.….
Es könnte in der Tat nochmal spannend werden und der “König” hat das Ticket noch nicht sicher in der Tasche.
Meine derzeitige Reihenfolge würde so aussehen:
1. Seemone
2. Silvan Areg (quelle surprise.…..)
3. Doutson
4. Chimene Badi
5. Emmanuel Moiré
6. Aysat
7. The Divaz
8. Bilal
Übrigens finde ich, an so einem Format wie DE könnte sich mal die ARD ein Beispiel nehmen (A Dal wäre unerreichbar).
Pardon – Moiré muß es natürlich heißen, ohne Akzent.…
Für mich gehören auch große Namen in ein VE-Angebot. Davon kann man hierzulande nur träumen (und von Liedern in Landessprache auch…)
Seemone hat in einem Interview hinter der Bühne gesagt, dass sie eine ausgezeichnete, wenn auch diskrete Beziehung zu ihrem Vater hat und das er im Publikum dabei war.
Gott sei Dank bleibst Du standhaft gegenüber dem Gabriella-hype, der in den social media um sich greift bzw. jetzt wohl eher greint. Seh’ das genau wie Du!
Und auch dieses Jahr schaut man wieder voll Neid und Anerkennung über den Rhein!
Bin wirklich gespannt wer nächste Woche die Nase vorn hat.
Ich denke Bilal gewinnt das Publikums-vote recht deutlich, aber Seemone wohl das Jury-vote…
Seemone hat eine sagenhafte Stimme, man höhrt den ersten Ton von Ihr und vergisst alles um sich herum. Wunderschöne 3 Minuten.
Bilal schlägt in den Foren erstaunlich viel Ablehnung entgegen, obwohl die Nummer gut und abwechslungsreich komponiert ist & dem Sänger von MM auf den Leib geschneidert wurde. Aber ich nehme das mal als gutes Omen, er sticht auf jeden Fall aus der Menge heraus und polarisiert. Und ich als bekennender Gutmensch drücke ihm mal ganz fest die Daumen 😉
Vielleicht liegt es ja daran, dass immer das Gras in Nachbars Garten grüner und die Kirschen süßer erscheinen, aber jetzt, wo man die Lieder fürs französische Finale kennt, verstehe ich nicht wirklich, warum man deswegen so begeistert ist und gleichzeitig den deutschen Vorentscheid abwertet, obwohl man noch keinen Ton eines Songs gehört hat.
Gerade, weil ich jetzt weiß, was im französischen Finale an Liedern und Sängern vertreten sein wird, setze ich keinen Pfifferling beim ESC auf Frankreich. Gesanglich kann Seemone mit Abstand am meisten überzeugen, die ist schon richtig, richtig gut. Aber geht der Song tatsächlich so unter die Haut, wie dies nötig wäre? Gut, kann man natürlich so empfinden. Oder auch nicht, wie bei mir der Fall. Vielleicht braucht es bei mir ja ein paar Anläufe, was für einen Wettbewerbssong aber nicht die besten Voraussetzungen wären.