Echte Eurovisionsfans befinden sich – getreu des Mottos: nach dem ESC ist vor dem ESC – bereits seit vergangenem Mai gedanklich im Jahr 2019. Seit heute stimmt dann auch der offizielle Kalender wieder mit dem Empfinden überein. Höchste Zeit also für einen Überblick über die Geschehnisse in den 42 in Tel Aviv teilnehmenden Nationen, die mir in den letzten Wochen durchgerutscht sind. Dabei scheint, dass das gackernde Huhn vom letzten Jahr so manch anderes lustiges Getier inspirierte: dabei sind unter anderem singende Katzen und ironische Hyänen. Den Auftakt aber macht eine halbe Göttin. Sagt sie zumindest von sich selbst. Sie, das ist die ehemalige X‑Factor-Zweite Srbuhi Sargsian, besser bekannt unter ihrem Künstlerinnennamen Srbuk. Die 24jährige wurde von ArmTV als Eurovisionsrepräsentantin nominiert. Nun sucht der armenische Sender noch ein passendes Lied, bis zum 10. Januar nimmt man in Jerewan noch Kompositionen entgegen. Dabei hätte die 24jährige mit ihrer erst im November 2018 veröffentlichen Single ‘Half a Godess’ doch sogar einen wettbewerbsfähigen Titel am Start. Die Entscheidung über den Beitrag soll ebenfalls intern fallen.
Halbgöttin Srbuk mit ihrer aktuellen Single (Repertoirebeispiel).
Intern wählt auch unser sympathisches kleines Nachbarland Österreich aus. Dort sichtet man beim ORF gerade die eingegangenen Bewerbungen, darunter auch das bereits im Vorfeld mit großem medialen Tamtam inszenierte ‘Im Rausch der Zeit’ von Hyäne Fischer, einem satirischen Projekt aus dem Umfeld der feministischen Anti-Burschenschaft Hysteria, das mit der kalkulierten Eva-Braun-Ästhetik des Videoclips und von doppeldeutigen Songtextzeilen wie “Und Hand in Hand / zieh’n wir durchs Land”, die vordergründig als klassischer Grand-Prix-Käse interpretiert werden können, aber auch als ein subtiler neofaschistischer Aufruf zum Marschieren, bewusst provoziert. Und zwar im Sinne der Retroavantgarde, wie sie die slowenische Art-Gruppe Laibach bereits in den Achtzigern populär gemacht hat. Diese Form der Auseinandersetzung kommt zu einer Zeit, da die Rechtsextremen in ganz Europa wieder erstarken, genau richtig, auch wenn sie der Gefahr unterliegt, missverstanden zu werden. Oder wie es Christian Schaichinger im Standard formuliert: “Wir hoffen stark, dass Hyäne Fischer auch den Falschen gefällt”! Ob sich der unter starkem politischen Druck der rechtspopulistischen Wiener Regierung stehende ORF auf dieses gewagte Experiment einlässt, bleibt indes abzuwarten. Toll wär’s!
Ein verführerisch gutes Neo-Chanson im Babylon-Berlin-Style. Und ein absolut großartiger Künstlername!
Damit ins Land der Kängurus und Wombats. Selbstredend ist der ehreneuropäische Subkontinent vom anderen Ende der Erde auch 2019 auf Einladung der EBU wieder mit dabei beim Eurovision Song Contest. Erstmalig veranstaltet das australische Fernsehen SBS heuer eine öffentliche Vorentscheidung. Die Abstimmung erfolgt im ESC-Modus: die Jury stimmt bereits am Vorabend bei der Generalprobe ab, die TV-Zuschauer/innen live während der Sendung. Dabei von Vorteil: aufgrund der Zeitverschiebung ist es bei uns gerade Samstagmittag, wenn die Show an der australischen Goldküste startet! Was den Vorteil bietet, dass Australia decides nicht mit dem nominell zur selben Zeit laufenden Finale des italienischen San-Remo-Festivals überlappt. Unter den sieben bislang bekannt gegebenen Kombattant/innen findet sich auch die Drag Queen Courtney Act, bekannt aus Ru Paul’s Drag Race. Ob ihr extravagantes Auftreten allerdings ausreicht, um über die kompositorische Mittelmäßigkeit ihrer CSD-tauglichen Dancefloor-Hymne ‘Fight for Love’ hinwegzutäuschen, bleibt abzuwarten.
Looks: ten, Song: three. Courtneys Stampfer ‘Fight for Love’ schließt musikalisch wie inhaltlich direkt an das schwache ‘We got Love’ von Jessica Mauboy an.
In der Schweiz geht man den umgekehrten Weg: die im Fernsehen gezeigte Entscheidungsshow fiel dem Rotstift zum Opfer. Stattdessen treffen diverse Entscheidungspanels hinter verschlossenen Türen die Entscheidung. Zu ihnen zählt auch eine internationale Jury, der solch prominente Namen wie Tinkara Kovač und Ruth Lorenzo angehören. In die engere Auswahl schaffte es dort der Wiederholungstäter Sebalter, dessen Beitrag ‘We’ll carry the Light’ zumindest schon mal die semiöffentliche Vorrunde des italienischsprachigen Teils der Eidgenossenschaft überlebte. Ob er allerdings auch unter den finalen Fünf ist, über die zur Zeit noch abgestimmt wird, weiß man ebenso wenig wie, ob an dem gerüchtehalber lancierten Namen Luca Hänni (Sieger von Deutschland sucht den Superstar 2012) was dran ist.
https://youtu.be/0fvb3348lkg
Naja, ganz nett: Sebalter reißt mit seiner erneuten Eurovisionsbewerbung die selbst gesteckten Messlatte nicht.
Auf frische Infos dürfen wir nächste Woche hoffen: am Montag will der Sender ČT die acht Teilnehmer/innen des Vorentscheids Eurovision Song CZ bekannt geben, der sich vermutlich erneut der internationalen Internet-Abstimmung bedient. Tags darauf wollen Thomas Schreiber und Christoph Pellander ab 17 Uhr (zumindest eine moderat arbeitnehmerfreundliche Zeit, dafür danke!) im NDR-Livechat Fan-Fragen zum deutschen Grand-Prix-Projekt 2019 beantworten und unter anderem das Datum für Unser Lied für Israel bekannt geben. Kreative Wege zur Refinanzierung der Eurovisionsteilnahme geht unterdessen das estnische Fernsehen: der Sender kassierte von jedem, der einen Beitrag zur Eesti Laul einreichen wollte, einen Teilnahmebeitrag in Höhe von 25 Euro. 216 Lieder kamen zusammen, davon rund die Hälfte von ausländischen Komponisten, die sogar ein doppelt so hohes Schutzgeld bezahlen mussten.
From filter to filter: Öed sind alles andere als öd.
8.100 € nahm ERR aus den Gebühren insgesamt ein. Dieses Geld bekommt der Sieger des Vorentscheids ausgehändigt – allerdings zweckgebunden: es dient als Budget für das Staging beim Eurovision Song Contest, aus dem sich der Sender finanziell komplett zurückzieht. Mit den Teilnahmegebühren wolle man auch unprofessionelle “Scherz-Beiträge” verhindern, wie der neue Eesti-Laul-Produzent Tomi Rahula sagte. Die Plätze in den beiden Semis wurden auf insgesamt 24 aufgestockt, und das Vollplayback der früheren Jahre ist wieder tabu. Die Semis finden (vermutlich ebenfalls aus pekuniären Gründen) in der Sporthalle der Uni von Tartu statt. Im ersten Poolfinal am Donnerstag, dem 31. Januar, treffen wir unter anderem auf Birgit Õigemeel und die ‘Amazing’ Tanja, die nun Teil der Gruppe The Swingers sind. Was natürlich rein musikalisch gemeint ist! Aus der Feder von Stig Rästa stammt die Schnarchballade ‘Storm’, gesungen von Victor Crone. Deutlich interessanter klingt da schon der Beitrag der Rückkehrerin Sandra Nurmsalu (Urban Symphony). Und die fabelhafte Nummer ‘Öhuloss’ des Mädchenduos Öed alias Kristel Aaslaid und Tuuli Rand.
Nur drei Tage später am Samstag läuft schon das zweite Poolfinal in derselben Turnhalle (das Eesti-Laul-Finale kommt dann am 16. Februar aus der Saku Suurhall zu Tallin). Zu den bekannteren Namen dort zählt Grete Paia, die es schon 2016 und 2013 mit Sven-Löhmus-Songs bei der Eesti Laul probierte und bei ihrer Première trotz klaren Zuschauersieges von der diabolischen Jury brutal rausgekegelt wurde. So lautet ihr heuer selbstgeschriebener Titel, der ganz gut losgeht, aber leider an der in den letzten Jahre seuchenartig um sich greifenden Krankheit der Refrainfäule leidet, denn ganz passend schicksalsergeben: ‘Kui isegi kaotan’ (‘Auch wenn ich verliere’). Ein Wiedersehen gibt es mit dem fantastisch skurrilen Jaan Pehk, auch bekannt als Orelipoiss, der sich für das fantastisch skurrile ‘Parmumäng’ Unterstützung in Form der Maultrommelspielerin Cätlin Mägi holte. Der absolute Knüller aber startet im selben Semi und heißt ‘Wo sind die Katzen?’. Mit diesem ausschließlich aus Refrain und einem infektiösen Synthie-Riff bestehenden, sensationellerweise auf deutsch (!) gesungenen Retro-80er-Elektro-Smasher stellt Kaia Tamm neue Rekorde in Sachen Schrägheit auf und liefert schon jetzt die Vorentscheidungsperle der noch jungen Saison.
Für das Surferfeeling im heimischen Reihenhaus: Kaia und ihre Mitkätzinnen.
Die spanische Castingshow Operación Triunfo ging kurz vor Weihnachten mit einem Sieg des anmutigen Famous (toller Künstlername!) zu Ende. Vollkommen unerheblich ist dies jedoch für Tel Aviv: an der noch nicht terminierten Eurovisionsgala dürfen neben ihm noch acht weitere bereits ausgeschiedene Triunfistas teilnehmen. Mit welchen Songs, darüber entscheiden noch bis morgen Mitternacht die europäischen Grand-Prix-Fans, die per Internet-Abstimmung drei der insgesamt 14 bereitstehenden Titel auswählen dürfen, und die hauseigene Jury, die weitere sechs bis sieben Canzone herauspickt. Gleich 18 Bewerber/innen präsentierte France 2 unterdessen für die Destination Eurovision 2019. Also neun für jedes der beiden Semis, die am 12. und 19. Januar über die Bühne gehen, diesmal als Live-Sendung, so dass auch das Publikum mit abstimmen darf, welche jeweils vier Glücklichen ins Finale am 26.01. kommen. Die auf Youtube bereitgestellten Ausschnitte aus den Songs versprechen erneut drei Samstage bester musikalischer Unterhaltung. Bekannteste Teilnehmerin ist Chimène Badi, die auf etliche Top-Ten-Alben zurückblicken kann. Als Komponisten haben auch Madame Monsieur erneut ein Eisen im Feuer: sie schrieben mit an dem in einem Mix aus französisch und englisch vorgetragenen Song ‘Roi’ (‘König’) von Bilal Hassani, der mit 14 bei The Voice Kids entdeckt wurde, vergangenes Jahr sein öffentliches Coming-out hatte und seither sehr androgyn auftritt.
https://www.youtube.com/watch?v=rIW_Ew2LS3s&list=UUtlN-Ff1AivzUjTNLf-_wqQ
Die französischen Songvorschläge in gekürzter Version.
Kroatien kehrt erneut zur Dora zurück, die vom 14. bis 16. Februar in Opatija stattfindet. Allerdings nicht im traditionellen Kvarner-Hotel, sondern im größeren Marino-Cvetković-Sportkomplex. Die Show geht über drei Abende, an den ersten beiden erklingen allerdings Klassiker und Serenaden, erst am Finalabend singen die – noch nicht bekannt gegebenen – Teilnehmer/innen ihre Wettbewerbssongs. Deutlich rocklastiger kommt (ebenfalls traditionell) das ungarische A Dal daher. Unter den 30 Bewerber/innen, die sich ab dem 19. Januar auf drei Vorrunden, zwei Semis und ein Finale verteilen, finden sich unter anderem die Rückkehrer Leander Kills, die heuer etwas folkigere Töne anschlagen, und die Hardrocker Haarrocker von Fatal Error, die sich in ihrem Video vom befreundeten AWS-Frontmann ansagen lassen. Auch die beiden schönen Schmerzensmänner Joci Pápai und András Kállay-Saunders versuchen sich erneut, Letzterer als Teil des Duos Middletonz, deren RnB-Seich leider genau so belanglos klingt wie der Bandname.
So ganz ohne nackte Füsse hätte ich ihn fast nicht erkannt: AWS-Frontmann Örs Siklósi.
Und das soll für heute genügen! Die Saison ist schließlich noch lang…
Och menno, ich hätte jetzt fest damit gerechnet, dass der Hausherr näher darauf eingeht, dass Sandra Nurmsalu über das langsame Garen von Fäkalien bei Niedrigtemperaturen singt (“Sous vide poo”).
Diese “Trümmertranse” von Down Under geht gar nicht – damit würde wieder einmal der Ruf vom ESC als Garant der Unterschichtenunterhaltung bestätigt werden. Ich hoffe inständig, daß so etwas nicht gewählt wird! Dabei gibt es mit den Bands Sheppard und Electric Fields wahrlich interessante VE-Teilnehmer. Erstere hatte mit “Geronimo” vor ein paar Jahren einen europaweiten Hit und den fand ich ziemlich cool (dabei stehe ich nur äußerst selten auf aktuelle Chartmusik). Im Gegensatz zu GB traut man sich anscheinend was – auf der Brexit-Insel setzt man ja auf ein VE-Konzept aus der Mottenkiste, mit dem Schreiber hierzulande 2017 vollkommen zurecht gescheitert ist.….
Mir gefällt roi ganz gut, wobei ich auf dieses franzenglisch gut verzichten kann.
Über die katzen(die singt zwar eher gatze=schwiizerdütsch für suppenkelle) kann ich nur den kopf schütteln.
Courtney act find ich toll und ich bin sicher, sie wird ne super performance hinlegen.
@mariposa.…..trümmertranse, unterschichtenunterhaltung.….frecher kerl))
@ Rainer1
Sorry, das mußte sein.…
Ich habe langsam keinen Bock mehr, daß uns ständig diese Klischees um die Ohren gehauen und mit Acts wie dieser Courtney noch der Rest gegeben wird. Dabei geht es doch auch anders.
Mein Ding ist “Roi” nur bedingt, dieser Bilal klingt leider wie eine drittklassige Version von Conchita und wenn schon das Thema Homosexualität ESC-mäßig behandelt wird, dann schon eher von Emmanuel Moiré. Beim Thema “Sprachenmix” gebe ich Dir natürlich Recht, hat Frankreich das wirklich nötig ?
Hochinteressant dagegen “Hyäne Fischer”. “Laibach meets Rosenberg-Stil” trifft es schon ziemlich gut und wer die Satire dahinter nicht versteht – was soll´s.…
Gefällt mir um Längen als die meisten deutschen Beiträge seit 1990 und insbesondere 2013–2017 (da war ja durchgehend “fremdschämen” angesagt, vielleicht mal mit Ausnahme von Elaiza).
Pardon… Emmanuel Moiré (ohne Akzent) muß es natürlich heißen. In Frankreich habe ich aber bislang andere Favoriten, nämlich Naestro, Ugo und den hübschen korsischen Titel von Battista Acquaviva.
Den Katzen-Song finde ich sogar liebenswert-trashig. Bin mir aber nicht sicher, ob ich ihn für Tel Aviv möchte… Besser wäre wohl ÖED.
Freut mich das Australien jetzt ein öffentlichen Vorentscheid hat. Im übrigen ganz aktuell der siebte Act für die deutsche VE ist bekannt. Es ist das weibliche Duo Sisters. Der Song heißt origineller Weise Sister.