So langsam geht es in die Vollen: heute Abend steigt der erste Supersamstag der Vorentscheidungssaison 2019. Um so dringender ist es daher an der Zeit, rasch noch ein paar der in den letzten Wochen liegen gebliebenen Vorentscheidungsperlen abzuarbeiten. Und da kein ESC-Jahrgang komplett wäre ohne ihn, darf, nein: muss die moldawische Eurovisionslegende Alexandru “Sasha” Bognibov natürlich den Auftakt geben. Der machte bekanntlich erstmals 2008 von sich reden, als er sich mit dem lyrisch fragwürdigen Titel ‘I love the Girls of 13 Years old’ für den Vorentscheid des Landes bewarb und auch auf die vom Sender vorab veröffentlichte Auswahlliste kam, es dann aber nicht in die Sendung schaffte. Ein Ritual, das sich seither regelmäßig wiederholt, wobei seine Lieder von Jahr zu Jahr musikalisch besser und textlich weniger gruselig werden. Bis auf 2019: heuer knüpft Alex mit ‘Love me like my Daughter’ wieder an seine Anfänge an. Wenn ich seinen jaulenden Gesang richtig verstehe, umschwärmt unser Karpaten-Goth darin eine jugendliche Halbwaise mit Vaterkomplex. Der moldavische Sender TRM erklärte bei der Vorstellung der Bewerberliste für die O Melodie Pentru Europa bereits, dass einer der eingereichten Beiträge aufgrund seines Textes nicht eurovisionskompatibel sei und vom öffentlichen Vorsingen für die Auswahljury ausgeschlossen werde, das am 2. Februar 2019 mittags in Chișinău stattfindet. Und ich habe das Gefühl, ich weiß auch schon, welcher das ist!
Gruselig-düsteres Sujet vor weihnachtlich-steriler, hell erleuchteter Studiokulisse: ein unpassenderes Setting hätte man sich kaum ausdenken können.
Vorfreude breitet sich unterdessen im Hinblick auf das Festival da Cançāo aus. In dessem ersten Semi am 16. Februar 2019 tritt nämlich Conan Osiris an, ein portugiesischer Singer-Songwriter, bekannt für einen experimentellen, wüsten Stilmix aus “Dancehall, Bollywood, Fado, kapverdischer Funaná [Akkordeonmusik], Metal & Hip-hop sowie verschiedenen Ausprägungen von Eurodance, Tarraxo [afro-portugiesische Rhythmen] und Dubstep” (Quelle: Genius). Und für so bizarre wie unterhaltsame Musikvideos und Auftritte, meist in Begleitung eines ausgesprochen aparten, sehr gelenkigen Ausdruckstänzers. Wüst und bizarr klingt auch Osiris’ FdC-Beitrag ‘Telemóveis’ (‘Mobiltelefon’): man schwankt die kompletten drei Minuten zwischen schräger Faszination und leichter Befremdung. Da Conan zudem zu rund 70% so aussieht wie genau dieser eine arabische Schläfer, für den man Familie und Freunde verlässt und sich bereitwillig dem IS anschließt, und zu 30% wie Slavko Kalezić, könnte man geneigt sein, die Befremdung auszuhalten und die Faszination die Oberhand gewinnen zu lassen. Ich bin jedenfalls auf seine Performance extrem gespannt!
He planted a Rose between my Teeth: Conan Osiris (Lyric-Video).
In Malta bedient man sich in diesem Jahr, vermutlich in dem verzweifelten Versuch, die immergleichen Interpret/innen und Komponist/innen loszuwerden, des Castingshow-Formats X‑Factor. Das wohl mit schmalem Budget auskommen musste: den selben Bürostuhl wie der, auf dem die Juror/innen sitzen, habe ich auch zu Hause. Und der war wirklich billig! Heute Abend steigt das Finale, in dem jedoch meines Wissens lediglich der/die Vertreter/in für Tel Aviv gewählt wird und noch kein Song. Aktuell finden sich noch vier Kontestant/innen im Rennen. Darunter mit Owen Leuellen ein junger Mann mit Vollarm-Tattoo und Pornoschnauzer, der rein optisch geradewegs einer Scripted-Reality-Vorabendserie aus dem Prekariatsfernsehen entstiegen sein könnte. Der dem Hip-Hop zugeneigte Owen präsentierte in einem der bisherigen Duelle gar einen selbst komponierten Rap und ist mit dieser Genrewahl heute natürlich ebenso aussichtslos wie beim Eurovision Song Contest selbst. Weswegen er hier dennoch Erwähnung finden muss, liegt schlichtweg daran, dass es mir bis dato völlig unbekannt war, dass ein solcher Look im sittsam-katholischen Malta überhaupt zulässig ist und man damit sogar ins Fernsehen darf, anstatt von Nonnen gekidnappt und in einer der 365 Kirchen der Insel gefangen gehalten und mit Weihwassereinläufen bekehrt zu werden. Man lernt nie aus!
Owen nennt Eminem als seinen größten Einfluss. Tja: “All you other Slim Shadys are just imitating”.
Als stets verlässlicher Quell perpetueller Schadenfreude dient bekanntlich seit Menschengedenken die litauische Nacionalinė Eurovizijos Atranka. So auch 2019. Letztes Wochenende verendete dort beispielsweise ein so drollig wie kompetent tanzender silberhaariger Bär mit einer, wie soll ich sagen: interessant geschnittenen Hose völlig punktelos auf dem letzten Platz. Hoffen wir mal für Banzzzai, dass er seinen Titel ‘I don’t care’, der sich musikalisch ausgesprochen großzügig bei Trash-Techno-Klassikern wie ‘Pump up the Jam’, ‘No Limit’ und ‘Gangnam Style’ bediente und diese Versatzstücke zwanglos zu einem fluffigen, von jeglichem kulturellen Nährwert befreiten Ohrensnack verarbeitete, wörtlich meinte. Und uns nun nicht aus Rache die hinter ihm tanzenden, vermummten Ninjas auf den Hals hetzt. Wobei: die LRT-Jury hätte eine leichte körperliche Bestrafung durchaus verdient für ihre himmelschreiende Ignoranz, mit der sie auch die vom letzten Goa-Festival übrig gebliebene Verstrahlten-Band Tiramisu (ernsthaft?) und ihr esoterisch-nutzloses ‘The Smell of your Eyes’ rauskegelte, das beim Publikum immerhin den dritten Rang belegte.
Cesàr Sampson hat angerufen und will sein Beinkleid zurück: Banzzzai.
Umgekehrt verlief es in der bereits länger zurückliegenden ersten Atranka-Runde (da LRT die Show zum Teil bereits mehrere Wochen im Voraus aufzeichnet und die Jury-Wertung bereits veröffentlicht, habe ich mittlerweile komplett den Überblick verloren, wo wir gerade sind): da erfuhr ein auf schon possierliche Weise tragischer Interpret namens Gebrasy für sein schon possierlich hoffnungsloses Liedlein über zwar mit acht Punkten eben solche von der Jury, fiel aber beim Publikum durch. Und wenn man die traurige Mélange aus halbherzigem Moonwalk, Overacting und der durch eine “künstlerische” Seitenaufnahme bloßgelegten kieferchirurgischen Gesamtkatastrophe betrachtet, die Gebrasy darbot, lässt sich das gut nachvollziehen. Wie Eurofire vermeldete, zog sich übrigens der für die vierte Vorrunde gesetzte ehemalige litauische Eurovisionsvertreter Sasha Song kurzfristig vom Wettbewerb zurück und musste daher eine Vertragsstrafe von rund 2.000 € berappen. Über die Hintergründe ist leider nichts Genaueres bekannt. Das bringt uns direkt zu einem weiteren notorisch eingeschnappten alten Bekannten, nämlich der dauerbeleidigten Dramaqueen Mihai Trăistariu.
Verließ die Mariah-Carey-Schule für bewusstes Einsetzen der Schokoladenseite offenbar ohne erfolgreichen Abschluss: Gebrasy.
Der Rumäne, der beim ESC 2006 mit dem Disco-Knaller ‘Torneró’ ein gutes Ergebnis für das Karpatenland einfuhr, bei seinen zahllosen weiteren Bewerbungen aber nie wieder an die musikalische oder gesangliche Qualität seines Erstlings anzuknüpfen vermochte, war mit seinem aktuellen Beitrag für die Selecția Națională 2019 gelistet, quittierte jedoch zwischenzeitlich mit dem üblichen lauten Getöse den Dienst fürs Vaterland, weil er sich darüber ärgerte, dass der ihm in seiner Eigenwahrnehmung feindlich gesinnte Sender TVR zwei Wildcard-Kandidat/innen nachnominierte. Zwischenzeitlich fand er in Weißrussland eine neue Heimat, wo er nun mit dem mittelmäßigen Disco-Liedchen ‘Baya’ das dortige Vorentscheidungsfeld auffüllen darf. ‘Baya’ bedeutet übrigens soviel wie ‘Sprachlos’, und das würden wir uns in seinem Fall dringend wünschen! Einen weiteren prominenten Rückzug vermeldet die Ukraine: dort zog sich die in den Vorjahren zwei Mal in Folge von der Jury favorisierte, von den Zuschauer/innen aber jeweils verschmähte Tayanna von der Vidbir 2019 zurück. Und zwar mit der noblen Begründung, “dass die Künstler, die es nicht auf die Teilnehmerliste geschafft haben, dass Ticket nach Israel mehr benötigen als ich”, wie Eurofire kolportierte. Sieh und lerne, Mihai!
Versteckt seinen Haarausfall kreativ unterm Turban: die rumänische Unvermeidliche.
So gut wie gar nicht Interessantes gibt es von der ungarischen Vorentscheidung A Dal zu berichten, die heute Abend in die zweite Vorrunde geht. Letzten Samstag landeten dort lustigerweise drei Sänger mit dem Vornamen Gergő auf den vorderen drei Rängen und qualifizierten sich damit fürs Semifinale. Ihre Beiträge lösen jedoch allesamt nicht mehr als ein müdes Schulterzucken aus, sind sie doch weder besonders gut noch wenigstens grauenerregend schlecht. Letzteres Prädikat vermochte sich lediglich der im Juryvoting zu Recht Letztplatzierte Barni Hamar zu erarbeiten, der eine Werbebotschaft über die Vorzüge des Komasaufens unters Volk zu bringen gedachte. Was vor allem die Frage aufwarf, wie es Ungarn mit dem Schutzalter für den Alkoholerwerb hält: das zahnspangentragende, nerdige Milchbüblein, das sich selbst im Songtext als “Wussie” bezeichnete, erweckte optisch nämlich keinesfalls den Eindruck, jemals etwas Stärkeres als ein einzelnes Mon Chérie zu sich genommen zu haben. Und da stirbt man eher am Zuckerschock, bevor man ernsthaft betrunken (‘Wasted’) wird.
Wie lange er wohl an dieser Hand-Choreografie probte? Stimmtraining wäre die bessere Wahl gewesen!
Wie bereits im Vorjahr lässt das tschechische Fernsehen ČT auch heuer seinen Vorentscheid Eurovision Song CZ komplett im Netz stattfinden. Alle acht Beiträge stehen seit Anfang Januar 2019 als lustigerweise offenbar alle in der selben Prager Altbauwohnung gedrehte Videoclips auf dem Youtube-Kanal des Senders zur Verfügung; in regelmäßigen Abständen dürfen internationale Promi-Juroren ihr Voting abgeben, das zur Hälfte in die Abstimmung einfließt. Die anderen 50% kommen aus dem international geöffneten Online-Voting. Bei der Jury führt derzeit die dunkle Ballade ‘True Colors’ der klassisch ausgebildeten Singer-Songwriterin Barbora Mochova, letztlich eine genau so gute oder schlechte Wahl wie einer der sieben anderen, allesamt durchaus goutierbaren, aber ziemlich egalen Songs. Das lässt sich im übrigen auch über die drei Songs sagen, die in jeweils zwei unterschiedlichen Versionen, gesungen von unterschiedlichen No-Names beim britischen Vorentscheid Eurovision: you decide zur Auswahl stehen, der in fataler Weise an das krachend gescheiterte deutsche Vorentscheidungskonzept von 2017 erinnert. Die musikalische Misere des ehemaligen Mutterlands des Pop veranlasste Roy Hacksaw von OnEurope gar zu einem geharnischten offenen Brief an die BBC, aus dessem Inhalt deutschen Grand-Prix-Fans so vieles so schmerzlich bekannt vorkommt.
Meine Favoritin, alleine aufgrund des tollen Künstlerinnennamens und der schönen Badezimmerkacheln: Pam Rabbit.
Nein, die drei Songs sind, wie Roy schreibt, “nicht furchtbar. Sie werden von offensichtlich talentierten Sänger/innen gut präsentiert und sind hervorragend zusammengesetzt und produziert”. Doch sie begehen kollektiv die “größte Sünde in diesem Wettbewerb: sie sind gewöhnlich. Das bringt es in diesem Wettbewerb einfach nicht mehr.” Roy führt das Problem der britischen Eurovisionsauswahl auf die hohen Herren des Senders zurück, die so viel Angst davor hätten, lächerlich zu wirken, dass sie “wie die Hamster ihre Jungen fressen” und lediglich eine scheinbar sichere, aber todlangweilige Auswahl an MOR-Songs zulassen, wo doch die Musikszene der Insel eine breite Palette an unterschiedlichen Stilen und weiß Gott genug Ungewöhnliches, Auffallendes (oder, um Herrn Schreiber erneut zu zitieren: “Kantiges”) böte. Bleibt zum Abschluss die Meldung, dass Mazedonien nun ganz offiziell endlich den nervenden Vorsatz FYR ablegen darf und künftig auf den Namen “Nordmazedonien” hört. Und zur Feier des Tages gleich noch seine Repräsentantin für Tel Aviv benannte: die bereits vom ESC 2008 bekannte Tamara Todevska nämlich, die zuletzt 2014 als Backing für ihre Schwester Tijana Dapčević auf der Grand-Prix-Bühne stand.
Im Original deutlich schöner als in der anglifizierten ESC-Version: Tamara mit ihrem Beitrag von 2008.
Der inzestuöse Text von Alex Bognibov wurde erwähnt, aber das Lied “Father” von Laura Bretan aus dem selben Vorentscheid wurde übergangen. “Father” ist natürlich um Welten besser und scheint heißer Favorit auf den Sieg zu sein, aber die Lyrics sind doch mehr als fragwürdig. Offiziell besingt das aus einer tief gläubigen Familie stammende Mädel ja wohl ihre persönliche Beziehung zu Gott, aber wenn man das nicht weiß, klingt das verdächtig danach, als würde sich ein minderjähriges Mädchen danach sehnen, ihren heiß geliebten Papa “deep inside me” zu spüren.
Nun ja, aus meiner US-Erfahrung mit sehr “christlichen” Menschen sind die Eltern ja oft dank “home schooling” neben dem Pastor die einzigen erwachsenen Bezugspersonen. Eine ex-Kommilitonin von mir schwärmt immer völlig realitätsfremd von “sleepover nights” gemeinsam mit der 18-jährigen Tochter. Die natürlich nicht studieren will, sondern “einfach Mutter sein möchte.” Traurig aber wahr.
Oh Gott. Über 10 Jahre ist der erste Bognibov schon her?! Man wird wirklich langsam alt.
Ein Rapper für Malta beim ESC würde mich allerdings tatsächlich noch überraschen können. Das wäre echt was. Nachdem Portugal den ESC gewonnen hat und Russland und Aserbaidschan im Semi ausgeschieden sind, erscheint sowieso alles möglich.
Und Banzzzais Auftritt würde ich als Mittel gegen Depressionen empfehlen. Wer da keinen Lach-Flash bekommt, ist klinisch tot.
Oh mein Gott, dieses evangelikale Operettengejaule von der Bretan ist ja in der Tat zutiefst verstörend! Ich kannte das ehrlich gesagt noch gar nicht, weil mir die Zeit fehlt, mich durch sämtliche schon veröffentlichten Vorentscheidungstitel zu wühlen und ich mich in Moldawien tatsächlich nur auf den Bognibov beschränkt habe. Jetzt kann ich nur hoffen und beten, dass diese völlig unerträgliche Christentrulla nicht wirklich gewinnt. Moldawien ist eine meiner letzten Hoffnungen für etwas trashigen Spaß beim ESC, bitte nehmt mir das nicht auch noch weg!
Die Bretan singt allerdings in Rumänien, nicht im Moldawien.