Nach der völlig enttäuschenden Amateurveranstaltung in Großbritannien gestern Abend zeigten die entfernten Verwandten aus Down Under heute Mittag den Briten, wie man einen ordentlichen Eurovisions-Vorentscheid aufzieht. Nachdem die Australier ihren Beitrag bislang stets intern festlegten, organisierte der Sender SBS erstmalig eine öffentliche Vorauswahl und fuhr dafür zehn im Lande (und teils darüber hinaus) etablierte Acts mit musikalisch sehr diversen, teils verzichtbaren, teils aber auch herausragenden Songs auf, eingebettet in eine selbstironisch moderierte, runde Show. Seht her, ihr TV-Stationen Europas: so wird’s gemacht! Der einzige, dafür um so größere Wermutstropfen: die Entscheidung lag somit in den Händen des australischen Publikums und einer “professionellen” Jury, und beide stimmten unisono für das absolute musikalische Grauen in Form eines stakkatoartig gekrischenen Popera-Riemens namens ‘Zero Gravity’, nach Aussage seiner Interpretin Kate Miller-Heidke in ihrem Einspielfilm ein Lied über (postnatale) Depression. Und die kann man von dem unerträglichen Gejodel auch bekommen, vor allem, wenn man überlegt, welche Chancen ihre Landsleute dafür aus den Händen gaben.
Die Eiskönigin macht ihre Aufwartung: Kate Miller-Heidke.
Immerhin lieferte die klassisch ausgebildete Kate eine spektakuläre Show ab, die Elemente aus ‘La Forza’, ‘Flame is burning’ und Zlata Ognevichs ‘Gravity’ miteinander kombinierte und vor allem für die an einer Stange befestigten, schwarzgewandeten Tänzerin im Gedächtnis bleibt, die hinter unserer Eisprinzessin in luftiger Höhe über die Bühne schwang und ihr dabei des Öfteren gefährlich nahe kam. Offen gestanden wartete ich die kompletten drei Minuten lang sehnsüchtig darauf, dass sie versehentlich mit dem Kopf in Kates plexigläserne Eiskrone einschlüge und sich Blut und Hirnmasse auf der Operettendiva verteilten. Eine weitere verschenkte Gelegenheit! Wenn auch nicht ganz so tragisch wie der zweite Platz für den absolut fantastischen Elektro-Banger ‘2000 and whatever’ des Duos Electric Fields, bestehend aus der dem adorablen Aborigine Zaachariaha Fielding und dem Produzenten Michael Ross, für die jemand die schöne Beschreibung “Daft Punk trifft im tiefen Wald auf Nina Simone” fand. Das teils in Zaachariahas Muttersprache Pitjantjatjara präsentierte Lied begeisterte mit seinem Mix aus treibenden Dance-Rhythmen, Ethno-Klängen, lustigen Stimmeffekten und einem mitreißenden Refrain. Es wäre die Chance Australiens auf ein Top-Ten-Platzierung beim Wettbewerb und für Electric Fields auf einen Welthit gewesen.
https://youtu.be/Nm4xDxatJII
Was macht die Diva zur Hölle in “Istanbul”?
Vielleicht sollte SBS von Europa lernen und die Entscheidung beim nächsten Mal lieber in die Hände einer internationalen Jury legen, denn die heimatlichen Zuschauer/innen und Juror/innen scheinen noch immer im längst überholten Denkmuster gefangen zu sein, nach dem eine Over-the-Top-Bühnenshow einen noch so schlechten Song überstrahlt. Wobei: die durch die Teilnahme an RuPauls Drag Race und der britischen Ausgabe von Promi Big Brother zu internationaler Bekanntheit gekommene Dragqueen Courtney Act landete trotz extravaganter Kostümierung und hübsch choreografierter Tanzshow nur auf dem vierten Rang. Mehr war für ihren inhaltlich gut gemeinten, musikalisch jedoch arg durchschnittlichen Empowerment-Song ‘Fight for Love’ auch einfach nicht drin. Shane Gilberto Jenek, so der bürgerliche Name Courtneys, landete sogar noch einen Rang hinter dem katastrophal frisierten Trio Sheppard und dessen schon fast schmerzhaft mittelmäßigem Radiorotationsriemen ‘On my Way’, der vermutlich vor allem von Sympathieanrufen für die zum Fressen niedliche Großmutter profitierte, die Sheppard mit in den Green Room genommen hatten. Und den lustigen Spruch: “Sie ist eine bezahlte Schauspielerin, die auf Kommando lacht”.
https://youtu.be/12a70_4t-6g
Obenrum Flamingoblume, untenrum Alexis Carrington im Swingerclub: Courtney wusste optisch zu gefallen.
Einen Sympathiebonus errang auch der sehr nett anzuschauende italienischstämmige Singer-Songwriter und The-Voice-Sieger Alfie Arcuri für die Hintergrundstory zu seinem Beitrag ‘To myself’, in dem er (wie allerdings auch schon in seinen drei vorangegangenen, kommerziell mäßig erfolgreichen Single-Veröffentlichungen) sein Coming-Out als schwuler Mann verarbeitete. Diesen Bonus verspielte er jedoch umgehend wieder, als er sich in einem der Einspieler, mit denen SBS für die internationalen Zuschauer/innen die zahlreichen Werbepausen überbrückte, als Anhänger der Pizza Hawaii zu erkennen gab, wofür ihm selbstredend jedwede kulturelle Verbundenheit zum Land seiner Vorfahren aberkannt gehört! Und das Lied entpuppte sich dann ebenfalls als ausgesprochen zäh und ungenießbar, wie besagter Ananas-Schinken-Fladen. Immerhin lag es von seinem Aufbau her exakt auf Linie mit den meisten der zehn Vorentscheidungsbeiträge, die aus zweieinhalb Minuten handelsüblich strukturiertem Popsong, zwanzig Sekunden ziellosem Genudel und einem völlig abrupten, antiklimatischem Schluss bestanden, so als habe man ihnen die Luft rausgelassen.
Aber nein, Alfie, selbst musst du es dir nicht machen, das übernehme ich gerne!
Die komplette Vorentscheidung als Playlist. Bitte ab sofort jedes Jahr, SBS!
Vorentscheid AU 2019
Australia decides. Samstag, 9. Februar 2019, aus dem Gold Coast Convention and Exhibition Center in Broad Beach. 10 Teilnehmer:innen. Moderation: Myf Warhurst und Joel Creasey.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televoting | Platz |
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01 | Ella Hooper | Data Dust | 12 | 06 | 10 |
02 | Electric Fields | 2000 and whatever | 44 | 70 | 02 |
03 | Mark Vincent | This is not the End | 19 | 19 | 07 |
04 | Aydan Calafiore | Dust | 38 | 10 | 06 |
05 | Courtney Act | Fight for Love | 26 | 26 | 04 |
06 | Leea Nanos | Set me free | 10 | 11 | 09 |
07 | Sheppard | On my Way | 41 | 46 | 03 |
08 | Alfie Arcuri | To myself | 35 | 14 | 05 |
09 | Kate Miller-Heidke | Zero Gravity | 48 | 87 | 01 |
10 | Tania Doko | Piece of me | 17 | 06 | 08 |
Stellt sich nur eine Frage: Soll das schön sein?
Von Polarisieren war in einem Kommentar zum britischen Vorentscheid die Rede. Tut das sicherlich – aber man muss schon Fan von unverdaulichem Katzengesang sein, um dafür anzurufen.
Liebe Leute, der ESC-Jahrgang hat bislang aber noch seeehr viel Luft nach oben frei.…
Electric Fields wären für mich der erste richtige Höhepunkt gewesen (nachdem leider Seemone gegen den Bilal-Hype keine Chance hatte). “Zero Gravity” gibt mir gar nix: Eine speziell für den ESC zusammengestellte Künstlichkeit und die Stimme ist ziemlich unangenehm. Der Vergleich zu “La Forza” hinkt: Da war wenigstens eine nachvollziehbare Melodie vorhanden. Das Niveau läßt mittlerweile zu wünschen übrig.…
Albanien 8/10
Spanien 7/10
GB 3/10
Tschechien 2/10
Frankreich 1/10
Australien 0/10
Hoffe jetzt in Montenegro zumindest auf Andrea Demirovic. Dieses D‑Moll-Geschleime geht gar nicht. Zudem möge Italien nicht nochmal Il Volo schicken. Von diesem Genre ist mein Bedarf mittlerweile gedeckt.
Liebe Australier meint ihr das jetzt wirklich Ernst mit eurem Beitrag? Komm, lasst den Quatsch, hört auf uns zu verarschen. Nee, echt jetzt, dieses Gejaule, das jede Katze in die Flucht schlägt, soll euer Beitrag für Tel Aviv sein? Ist das die Rache dafür, das ihr letztes Jahr so schlecht abgeschnitten habt? Nee, echt jetzt. Na dann ist meine Pinkelpause schon mal bei Australien vorgemerkt. Das hat nix mit Popoper zu tun, das ist einfach nur ein schreckliches Katzengejaule.
Australien schickt also eine Gerüstbauerin mit rotierender Abrissbirne & Blitzableiterhelm.
Ob sie ein Alleinstellungsmerkmal hat, muss man abwarten: Es sind in anderen Vorentscheiden auch Frauen mit bebender Glottis im Angebot. Ist für mich so auf Cezar/ROM 2013 Schiene, wobei das Rohmaterial des Liedes ohne den Popopera-Kitsch mehr Gravity hätte erzeugen können.
Hat mit “Radiorotationsriemen” wieder der Fan-übliche Floskelgenerator zugeschlagen, zu dem andere Edelfans in ihre dauerleiernde Distanzierung mindestens noch “-gedudel”, “generisch” und “mainstream” im Satz einbauen. Gibt dafür nur die pinkfarbene Valium der Woche verliehen. Courtney Acts vierter Platz war mit ihrer “Go West” / Pet Shop Boys-Clip Optik und dem 90er Jahre Beat, ziemlich schmeichelhaft.
Zur Show: Unterhaltsam, aber auch reichlich überflüssige Referenzen an schräge ESC-“Spassmomente”. Holt man damit den Aussie-Zufallszuschauer ab?
Immer schön entspannt bleiben!.…Hier mal ein Lob an die Wahl der Australier und den “over-the-Top-Song” ZERO GRAVITY…“Over the top” geht, wenn man es gut macht…und das hat sie/haben sie…Ich Freue mich auf Kate im Finale von Tel Aviv (gesetzt!).…So “anders” die Nummer von Electric Fields auch war und super vorgetragen…einen “Welthit” habe ich da nicht rausgehört…
@ Jorge
Nein – “Mainstream” der üblichen Sorte ist dieses Machwerk definitiv wohl nicht, gehört aber zu der Kategorie “künstlich”, die in keinster Weise meinen Geschmack trifft. Dabei fand ich es anfangs in Audio noch halbwegs erträglich. Seit gestern ist es für mich Grauen pur. Mit Sheppard hätte ich gut leben können.
Wahrlich eine grauenhafte Wahl! Bei der „an einer Stange befestigten, schwarzgewandeten Tänzerin“ dachte ich seltsamerweise, das wäre Loreen, die da schemenhaft zu sehen war. Gekommen um zu erklären wie man anständige ESC Musik macht… aber es war leider eben nur eine Vision.
Ich kann die Menschheit “da draußen” (also jenseits der Fanblase) gut verstehen: Es wird verlautbart, man merkt, daß der ESC wieder näher rückt – es gibt wieder jede Menge schlechte Musik… Wir würde da diesmal widersprechen ?
@ Ralph
Das Prädikat “Welthit” sagt schließlich nix über die Musikqualität aus – bekanntlich ist viel Müll in den Charts. Aber Electric Fields hätten für einen Farbtupfer im ESC-Zirkus gesorgt und vielleicht eine Menge Leute angesprochen, das wäre doch auch was gewesen. Mutige und innovative Beiträge sind mir immer willkommen. Jetzt hoffe ich sehr auf Hatari in Island und Conan Osiris (extrem geil) in Portugal.
Diese Art von Musik mag ich gar nicht. Aber den Auftritt finde ich gar nicht mal so schlecht. Also, ich hoffe, es kommen noch ein paar Knallersongs. Im Moment führt bei mir Spanien mit Abstand vor Albanien. So richtig begeistert bin ich von diesem Jahrgang im Moment noch nicht.
Ich finde den Song ganz ganz ganz toll! Aber bin wohl kein Maßstab 🙂 Bussi
Also, liebe Katinka, natürlich bist Du und Dein unfehlbares Urteil ein ganz entscheidender Maßstab! Wenn Du es toll findest, muss es wohl etwas haben, das ich aus irgendeinem Grund nicht sehen konnte.
Wahrscheinlich, weil ich mich bereits im Vorfeld auf ‘2000 and whatever’ als unbedingten Siegersong festgelegt habe, und ich brauche erfahrungsgemäß immer so ein Dreivierteljahr, um über eine solche herbe Enttäuschung hinwegzukommen. Da muss die arme Heidi nun meinen Frust ausbaden, und da kann ich nicht wirklich objektiv urteilen.
Unter Trash-Maßstäben finde ich ihre Darbietung ja auch toll. Aber ich kann halt auf Verrecken nicht auf Popera. Meistens jedenfalls. Egal. Ich weiß nicht, ob ich mit noch damit anfreunde, aber ich freue mich, dass es dir gefällt. 🙂 Bussi
Ich würde sogar behaupten, mit electric fields hätten sie grosse chancen gehabt, den esc zu gewinnen. Das gekreische von kätchen müller-heideke ist, vor allem wenn man es nur hört und nicht sieht, absolut grauenhaft. Aber wie sagt der gemeine esc-fan.…es polarisiert. Und das soll ja was gutes sein.
Oliver: Die Diva von electric field ist ein Mann…! 😀
…und eine Rampensau der allerbesten Sorte, schade,schade dass es nicht gereicht hat!
Es ist eine Sache, andere Meinungen nicht ertragen zu können. Eine andere ist es, sich über andere Deutungsansätze lustig zu machen. Es ist kein Geheimnis, dass Emmelie de Forest die bislang letzte Siegerin war, die nicht polarisiert hat, sondern konsensfähig war.
Insofern muss man sich über die Reaktionen zu Kate Miller-Heidke wundern. Dafür muss man weder pro noch kontra “Zero Gravity” sein.
Schade, dass es schon zu viel verlangt ist, das Ganze mit mehr Gelassenheit und Distanz zu betrachten, denn gerade die gruppendynamischen Zusammenhänge machen zu einem nicht unwesentlichen Teil den Reiz des ESC aus.
@Mariposa 9.2. 18:39: hmmm, nur zur Klarstellung. Der Absatz mit dem Artikel-Zitat und den Attributen bezog sich auf die esc-fantypischen Kommentierungen zu Sheppard und Co., nicht die singende Weihnachtsbaumspitze KMH. 🙂