Wie das mit der Rückbesinnung auf eigene Stärken funktioniert, machte uns gestern Abend der kroatische Sender HRT vor, der nach mehreren Jahren schmählicher, der Finanzknappheit geschuldeter Pause wieder zum traditionellen Vorentscheidungsformat zurückkehrte, nämlich der im mondänen Küstenstädtchen Opatija veranstalteten Dora. Zwar zog man vom früheren Hotel Kvarner weiter in die größere Marino-Cvetković-Sporthalle. Doch auch dort schaffte es der Sender, eine nostalgiegesättigte, festliche Sendung hinzulegen, die alles beinhaltete, was des Grand-Prix-Fans Herz höher schlagen lässt. Dem Dora-Finale mit 16 (!) Acts gingen zwei Auftakttage voran, an denen die Teilnehmer/innen zur Einstimmung klassische Melodien und sogenannte “Opatija-Serenaden” darboten, bevor sie gestern Abend ihre Wettbewerbstitel präsentieren durften. Und wie es sich für Kroatien gehört, gewann am Ende ein Komponist, der es verstand, die Eurovisionsklischees am schamlosesten zu bedienen: Jacques Houdek, der persönlichkeitsgespaltene Tenor von 2017, hatte für seinen persönlichen Schützling, den gerade erst volljährigen Roko Blažević, seines Zeichens Sieger einer heimischen Kinder-Castingshow, eine kitschtriefende, klassisch aufgebaute Grand-Prix-Hymne namens ‘The Dream’ verfasst.
Der Traum jedes Pädophilen: der engelsgleiche Roko schmachtet in die Kamera und ins Mikrofon.
Das komplett in unschuldsweiß gekleidete Milchbübchen stattete Houdek zudem noch mit riesigen Engelsflügeln aus, die er dem vergesslichen Interpreten zur Siegerreprise eigenhändig geduldig hinterher trug. Um sämtliche eventuellen Separationsbestrebungen Rokos umgehend im Keim zu ersticken, beeilte Houdek, dessen Grabbeleien an seinem Schützling während der Green-Room-Interviews unschöne Bilder über die Tiefe der professionellen Beziehung der Beiden in den Köpfen der Zuschauer/innen hervorriefen, sich nach dem Dora-Sieg außerdem umgehend zu betonen, dass “das Bühnenkonzept” für Tel Aviv das Gleiche bleibe, Blažević also auch dort der albernen Kostümierung nicht entkommen werde. Man strebe mit dem zweisprachig auf englisch und kroatisch gesungenen Schmalzriemen eine Top-Drei-Platzierung an, so Houdek laut Eurovoix. Und wie schon bei seinem damaligen eigenen, ebenfalls zweisprachigen Beitrag ‘My Friend’ (seinerzeit #13) lässt sich auch der Song-Monstrosität ‘The Dream’ eine gewisse schräge Faszination des Grauens nicht völlig absprechen.
Immer wieder schön: ein Ausflug in die Grand-Prix-Geschichtsdisco.
Neben Houdek steurte mit Tonči Huljić auch der kroatische Ralph Siegel zwei erwähnenswerte Trash-Titel zum Dora-Geschehen bei, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Das hochgradig campe ‘Tower of Babylon’, mit dem die fabulöse Lorena Bućan auf den Spuren von Penny McLean und ihrem legendären 1979er Luxemburger Vorentscheidungstitel ‘Tut Ench Amun’ wandelte, schaffte völlig zu Recht den zweiten Platz, auch wenn man sich wünschte, Huljić hätte sich beim Texten etwas mehr Mühe gegeben. So kämpfte die adorable Lorena in den Strophen schon arg erkennbar damit, die vielen Silben in die hierfür deutlich zu knapp kalkulierte Melodie zu quetschen. Auch fehlten für das optische Gesamtpaket noch ein paar butche Tänzer aus aller Herren Länder. Dafür jedoch entschädigte das auftrumpfende Ende mit der kämpferisch nach oben gereckten ‘I love Belarus’-Faust – ein Stilmittel, dessen sich übrigens auch Roko Blažević bediente. Punktelos auf dem geteilten letzten Platz landete hingegen Huljićs zweites Eisen im Feuer, das auf den Spuren von MeKaDo wandelnde, erschreckend dünnstimmige Damentrio Domenica, das sich besondere Verdienste auf dem Felde des Synchrontanzes und des choreografierten, energischen Einherschreitens erwarb, einer beim Eurovision Song Contest bedauerlicherweise langsam aussterbenden Kunstform.
Blieben etwas farblos: Indigo und ihr Tralala-Liedchen über einen für seine Passivität bekannten türkischen Homosexuellen, den sogenannten “Ottom Bottom”.
Auch in Kroatien kam man am aktuellen Megatrend nicht vorbei: mit dem vergangenheitsverklärenden ‘Back to that Swing’ versuchten die Gelato Sisters (ernsthaft?) das Andenken der grandiosen Andrews Sisters in den Schmutz zu ziehen und die augenscheinlich in diesem Jahr verbindlich vorgeschriebene Swing-Quote für nationale Vorentscheidungen zu erfüllen. Waren wir mit Roger Cicero 2007 einfach nur der Zeit zu weit voraus? Die Speiseeisschwestern jedoch sangen dergestalt ohrenzermürbend schief, dass ihr Schicksal bereits nach wenigen Sekunden besiegelt war. Einen, ähm, interessanten Farbtupfer steuerte der von Kopf bis Fuß in schreiendes Kanarienvogelgelb gekleidete, im Vorfeld durchaus favorisierte Luka Nižetić bei, der mit dem auf spanisch dargebotenen Reggaeton-Sommerhit-Stampfer ‘Brutalero’ den für ihre besondere Rücksichtslosigkeit berüchtigten kroatischen Fußballspielern ein fragwürdiges musikalisches Denkmal setzte. Der, wie entsprechende Instagram-Fotos belegen, ausgesprochen sportlich durchtrainierte Luka bot mit seiner bis auf die letzte Sekunde durchgetakteten, hochenergetischen Show dazu durchaus Kurzweil fürs Auge. Leider ging das Meiste davon jedoch unter, weil die Sehnerven bereits mit dem Ansturm den grellbunten Farbpigmente seiner Bühnenklamotten und des comicartigen Backdrops ausgelastet waren.
Gipsy.cz haben angerufen und wollen ihre Bühnenshow zurück: Luka Nižetić.
Einen für die Dora ungewohnten musikalischen Farbtupfer lieferte die das Teilnehmerfeld abschließende Hardrockband Manntra (ernsthaft?) mit dem melodiösen ‘In the Shadows’. Die vier Mannen (plus, progressiv genug, eine Frau) bestätigten erneut eine uralte Wahrheit, nämlich dass in solchen Testosteron-Kapellen fast immer der Drummer die geilste Sau ist. Das völlig gegensätzliche Konzept vertraten hingegen die ersten Teilnehmer des Abends: Bojan Jambrošić und Danijela Pintarić boten mit ‘Vrijeme predaje’ (‘Zeit, sich zu ergeben’) eine rundheraus klassische Pärchenballade feil, dargeboten in festlicher Abendrobe und gesungen mit massivem Schmacht in der Stimme und der notwendigen Theatralik in den Gesten. Ein Beitrag also, wie er altmodischer und rückwärtsgewandter nicht sein könnte und wie er jedem geschmackssicheren Eurovisionista umgehend das Würgen in den Hals treiben müsste. Doch manchmal funktioniert die natürliche Immunabwehr nicht, wie sie sollte. Und so muss ich gestehen, dass dieses hemmungslose Heterosülzlied zu meinen persönlichen Guilty Pleasures gehört. Und wenn auch nur aus dem Grunde, weil ich den kroatischen Text nicht verstehe und es deshalb unbelastet genießen kann.
Wehrlos im Sturm der Gefühle: mit diesem klassischen Überwältigungsschmachtfetzen eröffneten die Kroaten den Abend.
Der mit Abstand schönste Dora-Moment aber fand fraglos während der Stimmauszählung statt. Zur Überbrückung bot HRT nämlich ein fantastisches Medley der zahllosen kroatischen Eurovisionsklassiker auf (muss man mal sagen: die haben gerade in den Anfangsjahren schon wirklich sehr feine Sachen zum Eurovision Song Contest geschickt!), aus dem – das Beste zum Schluss – das in einer wirklich faszinierenden und Lust auf mehr machenden Rock-Version interpretierte ‘Marija Magdalena’ besonders herausstach. Noch viel schöner und bewegender als dieser nostalgische Ritt durch die musikalische Grand-Prix-Geschichte des Landes aber war, dass die gerade eben noch aufgetretenen und im Green Room aktuell mit der Mobilisierung ihrer Freundesliste fürs Televoting beschäftigten Finalteilnehmer/innen mit erkennbarer echter Freude aus vollem Herzen zu den Liedern mitsangen. Da hatte ich an mancher Stelle vor Rührung richtig Pippi in den Augen. Also: wunderbar gemacht, HRT, ab sofort bitte wieder jedes Jahr eine Dora!
Wie auf einem Fanclubtreffen, der ganze Saal singt voller Seligkeit mit!
Vorentscheid HR 2019
Dora. Samstag, 16. Februar 2019, aus dem Marino-Cvetković-Sportkomplex in Opatija. 16 Teilnehmer:innen. Moderation: Jelena Glišić, Iva Šulentić und Mirko Fodor.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Bojan Jambrošić + Danijela Pintarić | Vrijeme predaje | 2.185 | 04 | 09 |
02 | Jelena Bosančić | Tell me | 947 | 02 | 13 |
03 | Kim Verson | Nisam to što žele | 343 | 10 | 14 |
04 | Jure Brkljača | Ne postojim kad nisi tu | 2.169 | 29 | 08 |
05 | Beta Sudar | Don’t give up | 1.815 | 41 | 10 |
06 | Lea Mijatović | Tebi pripadam | 836 | 12 | 15 |
07 | Gelato Sisters | Back to that Swing | 1.165 | 23 | 12 |
08 | Luka Nižetić | Brutalero | 6.838 | 38 | 03 |
09 | Elis Lovrić | All I really want | 1.194 | 68 | 07 |
10 | Domenica | Indigo | 1.394 | 19 | 16 |
11 | Roko Blažević | The Dream | 11.524 | 77 | 01 |
12 | Ema Gagro | Redemption | 1.970 | 62 | 05 |
13 | Lidija Bačić | Tek je počelo | 1.509 | 10 | 11 |
14 | Lorena Bućan | Tower of Babylon | 5.585 | 72 | 02 |
15 | Bernada Bruno | I believe in true Love | 1.855 | 58 | 06 |
16 | Manntra | In the Shadows | 3.921 | 55 | 04 |
Moment – im Beitrag über die Eesti Laul hieß es doch noch, dass bei allen drei Vorentscheiden vom Samstag furchtbare Fehlentscheidungen getroffen worden wären. Das passt mit dem eher begeisterten Tonfall dieses Beitrags nun gar nicht zusammen. Ist das hier Nummer 4, und Nummer 3 kriegt seinen Artikel noch nachgereicht?
Nach dem singenden Spiegelbild nun frisch aus dem Kuriositätenkabinett des Dr. Houdek ein Engelsjüngling mit einer ausprobierten Masche. Jedem CSD-Besucher wird bewusst sein, dass das von Houdek eigentlich gewünschte Engelsthema-Kostüm wahrscheinlich beim Verleih vergriffen war: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/ca/Male_Angel_in_Clothes_Show_Live_2009.jpg
Dora gesellt sich zu den (zu) vielen Vorentscheiden, in denen man die vermeintlich beliebten Fragmente und Inszenierungen wieder und wieder durchnudelt. Nett, wenn da auch Rock wie Manntra bei ist, aber auch in dem Genre muss man nicht zur Recyclingmethode greifen.
Gegen dieses Geschleime ist Estlands Beitrag fast schon Weltklasse. Was war nur Kroatien loß ? “Tower of Babylon” wäre ein akzeptabler Beitrag gewesen, auch die Rocknummer hat mir gefallen. Derzeit ist ein Trend zu reaktionären Titel erkennbar, ich nehme es mit Schrecken zur Kenntnis.
Roko ist tatsächlich erst 2001 geboren ? Er sieht aus wie Ende 30, hilfe… Dann noch dieser Houdek, der zuletzt peinlich als Nettas Hilfssheriff und homophober Moralapostel auffiel. DAS soll in die Top 3 ? Ich welcher Welt lebt er denn ?
Bitte den Abflug nach dem zweiten Semifinale !