Richtig rund ging es am gestrigen Supersamstag: neben den Vorentscheidungs-Finalen in Australien, Italien und Montenegro fanden in fünf weiteren Ländern Vorrunden statt. Wir beginnen unsere Reise im hohen Norden, wo das erste von zwei Semis des isländischen Söngvakeppnin Anlass zum hoffnungsvollen Frohlocken gab. Unter den zwei ins Finale delegierten Beiträgen befindet sich nämlich mit ‘Hatrið mun sigra’ (‘Der Hass wird siegen’) mein persönlicher Lieblingstitel der gesamten Eurovisionssaison 2019. Die Industrial-Band Hatari (die Hassenden) liefert damit die wütend-düstere Hymne zur aktuellen Endzeitstimmung, die einen beim Anblick des Zustands Europas und der Welt unabwendbar überfällt, verpackt in eine frappante musikalische Mischung aus Rammstein und Bronski Beat und dargeboten in einer aufmerksamkeitsstarken, dezent SM-gefärbten Bühnenshow. Und sogar eine kleine Rückung packten sie dazu! Die sich selbst als “antikapitalistische BDSM-Techno-Performance-Art-Gruppe” verstehenden Künstler forderten vergangenen Donnerstag den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu öffentlich zu einem “freundschaftlichen Match” in der isländischen Kampfsportart Glíma, einer Art von Wrestling, auf.
Wollen bei einem Sieg gegen Nettanjahu die “erste BDSM-Kolonie am Mittelmeer” errichten: Hatari.
Sie machten außerdem bereits klar, sich an das weltfremde Politik-Verbot der EBU beim Eurovision Song Contest nicht halten zu wollen, das sie völlig richtig als “politischen Akt und damit sich selbst widersprechend” bezeichneten. Musik und Kunst seien ihrer Ansicht nach stets politisch und sollten das auch sein, so wie eben auch ihr Song, der das Erstarken des rechtsextremen Populismus kritisiert. Das könnte also noch sehr interessant werden, falls Hatari das Finale des Söngvakeppnin gewinnen können. Was ich so stark hoffe wie selten etwas, was aber natürlich noch nicht fix ist: neben Hatari zog auch Fan-Liebling Hera Björk Þórhallsdóttir mit einer enttäuschend konventionellen Ballade weiter, die allerdings die Stimmen aller konservativen Fans auf sich vereinen könnte. Feierabend (jedenfalls vorerst, denn der Sender RÚV behält sich die Vergabe einer Wildcard unter den ausgeschiedenen Kandidat/innen vor) war gesten unterdessen für die nur wirklich herzallerliebste Grand-Prix-Tucke Daníel Óliver Sveinsson, der mit ‘Samt ekki’ einen herrlich fistelstimmig gesungenen und perfekt vorgetanzten Discoschlager präsentierte. In der englischen Fassung heißt der Titel übrigens ‘Licky licky’, und alleine das sollte für die Wildcard reichen.
Eine 12 auf der Haldor-Lægreid-Skala: Daníel Óliver.
Wir bleiben in Skandinavien: im zweiten, erschreckend schwachen Semi des schwedischen Melodifestivalen erlebte die polnische Trash-Else Margaret mit ihrem Versuch, sich uns als einmalig zu benutzendes und dann wegzuwerfendes Papiertaschentuch anzudienen (“Let me be your Tempo”), eine krachende Niederlage. Noch nicht mal für den Einzug in die Andra Chansen reichte das von vorne bis hinten billige Liedchen, das sie vor einem quietschbunten Hintergrund im Stile von Neunzigerjahren-Eurodance-Videos präsentierte. Für Missverständnisse dürfte auch der musikalisch eher beim Junior-ESC richtig aufgehobene Titel der Finalistin Malou Prytz sorgen: ‘I do me’, also ‘Ich mach’s mir’, sang die erst Fünfzehnjährige. So genau wollten wir es gar nicht wissen! Ein von seiner komplett durchkalkulierten Machart her geradezu brechreizerregendes Loblied auf die junge, heterosexuelle Liebe bugsierten die stimmstarke Hanna Ferm und der aussehensstarke Liam Cacatian Thomassen alias Liamoo ins Finale. Und das Wandeln auf den Pfaden von Alfred & Amaya wollen wir den Beiden ausnahmsweise verzeihen, weil uns der höchst professionell mit Schlafzimmerblick in die Kamera starrende Thomassen optisch für das Song-Verbrechen mehr als entschädigte.
Saugfähig sah Margrets Kleid zwar aus, aber reinrotzen wollte dennoch keiner.
Vor exakt fünfzig Jahren nahm der schwedische Schauspieler und Sänger Jan Malmsjö, älteren deutschen Filmfans am ehesten bekannt in seiner Rolle als Bischof im Ingmar-Bergman-Drama Fanny und Alexander, erstmalig am Melodifestivalen teil, damals mit der Nummer ‘Hej Clown’. Dieses Jubliäum nahm der mittlerweile 86jährige zum Anlass, sich ein zweites Mal der Konkurrenz zu stellen. Mit ‘Leva livet’ präsentierte er einen ziellos vor sich mäandernden Final-Curtain-Schlager, der allerdings deutlich darunter litt, dass sowohl der greise und erkennbar mit den Anforderungen des Live-Gesangs kämpfende Interpret als auch die ihn in sicherer Entfernung beineschmeißend umtanzenden Showgirls scheinbar ein jeweils völlig anderes Lied im Kopf zu haben schienen als das, was vom Band kam. Ausdrücklich zu loben ist jedoch die Fürsorge des Senders SVT, der in weiser Voraussicht, dass der immer stärker keuchende Jan keine drei Minuten durchhalten würde, dem Karaōke-Opi eine Parkbank auf die Bühne stellte, auf welche er sich nach zwei Dritteln seiner Zeit auch völlig erschöpft hernieder ließ. Ein milder vorletzter Platz war der Lohn seiner Mühen.
Das betreute Singen nimmt im Wohlfahrtsstaat Schweden eine bedeutende Rolle in der Altersfürsorge ein.
Wenig Berichtenswertes passierte beim ersten Semifinale in Litauen, wo acht grauenhafte Beiträge ausschieden und vier ebenso grauenhafte Lieder weiterkamen. Komplett punktefrei auf dem letzten Platz landete ein Sextett mit dem irreführenden Namen Twosome, in dessen stellenweise ohrenzermürbend schief vorgejaultem Song es um die Zahl ‘1000’ ging. In welchem Zusammenhang, entzieht sich meiner Kenntnis und ist mir auch komplett egal. Er findet auch nur deswegen hier Erwähnung, weil er einen weiteren Beweis dafür ablegte, dass es sich bei dem Baltenstaat um die größte Freiluft-Irrenanstalt Europas handeln muss. Und weil der leicht Bärige von den Sechsen ganz niedlich ist. Nichts Neues auch in Ungarn, wo die Vorentscheidungsreihe A Dal ebenfalls ins erste Semi ging. Dort landete das anstrengende rumänische Hip-Hop-Duo USNK (Kund Filep und Nimród Laskay) dank der Jury auf dem letzten Rang und ist draußen; die Zuschauer/innen retteten den superlangweiligen Beitrag von András Kallay-Saunders, der das Zeit-Raum-Kontinuum-Wunder vollbrachte, zeitgleich zu seinem A‑Dal-Auftritt als Promi-Juror in der Montevizija zu fungieren. Spooky!
“Oh-oh-oh, oh-oh-oh” ist ein klar eurovisionstauglicher Refrain. Trotzdem bin ich froh, dass die draußen sind.
Zum Schluss schauen wir gen Osten: in der Ukraine nahmen erneut Jamala und Verka Serduchka (in Ergänzung durch den Musikproduzenten Yevhen Filatov) Platz am Jurorentisch beim Auftakt der Vidbir, noch vor dem San-Remo-Festival die Eurovisions-Vorentscheidung mit der ungünstigsten Musik-zu-Gelaber-Ratio. Um 18 Uhr mitteleuropäischer Zeit öffnete der vom ukrainischen Fernsehen beauftragte Privatsender STB die Pforten, und zwei Stunden später, als das Melodifestivalen begann, waren gerade mal die Hälfte der acht Vorrundentitel vorgestellt – von der Ergebnisermittlung ganz zu schweigen! Kein Wunder bei mehrfachen, jeweils mehr als zwanzigminütigen Werbeunterbrechungen, mit denen STB die Kosten wieder reinzuholen versuchte. Nach einem gut viertelstündigen Einführungsgeplauder erwies sich gleich die Eröffnungsnummer des Abends erwies sich als harte Probe: eine Art von blechbläserlastiger Ska-Band namens Hypnotunez startete eine Attacke auf die Seh- und Hörnerven Europas. Die (in diesem Falle) weisen Drei vom Richtertisch und das ebenfalls abstimmungsberechtigte Publikum verbannten sie auf den letzten Platz. Zu Recht.
Alkohol isn’t free in der Ukraine.
Meinen niemals versiegenden Hass zog sich das dumme, dumme Wertungstriumvirat allerdings mit der himmelschreienden Fehlentscheidung zu, die fünfköpfige Avantgarde-Puppentheater-Truppe TseSho rauszukegeln, die in ihrem im besten Sinne an das ähnlich schräge Gesamtkunstwerk ‘Euro Neuro’ erinnernden Stück ‘Hate’ die in den letzten Jahren immer massiver um sich greifende Unkultur des zerstörerischen Dagegenseins und des persönlichen Angriffs aufgreifen, die uns vor allem (wenn auch nicht nur dort) aus den sozialen Medien entgegenbrandet und die nicht mehr an einer sinnvollen Diskussion auf Augenhöhe interessiert ist, sondern nur noch draufhauen will. Clever konterkarierten die Fünf die Aggressivität ihres Titels, in dem sie als ein Abbild der sonst von ihnen bewegten, kindlichen Holzpuppen performten. Ein bisschen anstregend zugegebenermaßen, aber große Kunst! Und sie wären eine perfekte Ergänzung zu den bereits weiter oben abgefeierten Hatari aus Island gewesen, um mit ihnen gemeinsam dem von der EBU und vielen Fans so gerne gewünschten Heia-Popeia-Heile-Welt-Gesusel beim Contest einen schmerzhaften, aber um so dringender notwendigen Hinweis auf die realen Probleme entgegen zu stellen. So, wie es Jamala 2016 mit ihrem Song ‘1944’ ja selbst tat. Hier wurde eine echte Chance vergeben, und das ist dumm. Wirklich dumm. Habe ich schon erwähnt, wie dumm das war?
Die Textzeile “I hate Eurovision” war natürlich satirisch gemeint. Nicht wahr?
Was ist denn das für ne geile Nummer aus Island!!!
Depeche Mode auf acid, wenn die das annähernd wie im Musikvideo auf die Bühne in Tel Aviv bringen spielt das ganz, ganz vorne mit!
Und wenn die Isländer nicht total bekloppt sind wählen die das mit 90% Televote und wenn du als Juror nicht als Oberspießer dastehen willst ebenfalls 😀
Kann also eigentlich nix schiefgehen außer Nethanjahu verhängt noch ein Einreiseverbot…
GOOOO HATARI GOOOOOOOOO
Ich muss bei den zu heiss in Geysiren gebadeten Hatari immer an Megalomaniac von KMFDM denken. Kein Mitleid für die Mehrheit! Könnten zum rabiaten Eisbrecher für softere isländische Elektroprojekte beim ESC und zu meinem Lieblings-Islandbeitrag neben Paul Oskar werden.