Ist das herrlich: nuttiger Trash, schmutzige Politik, Aufregung, Drama, Ränkespiele und ein stürmischer Rückzug – so kennen und so lieben wir die Ukraine! Seit dem Finale des Vorentscheids Vidbir am vergangenen Samstag überschlagen sich dort die Ereignisse und haben mit der heute verkündeten Suspendierung der Siegerin durch den Sender UA:PBC nun ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden. Doch der Reihe nach: gegen den Willen der dreiköpfigen Jury gewann vor knapp 48 Stunden die Sängerin Hanna Korsun unter ihrem Bühnennamen Maruv aufgrund des klaren Plazets des ukrainischen Publikums die Vidbir. Und zwar mit einem gräuslich gesungenen, aber erfrischend billig bollernden Uptempo-Trasher mit dem sprechenden Titel ‘Siren Song (Bang!)’ und einer SM-inspirierten Bühnenshow, die mit großer Sicherheit bei dem ein oder anderen heterosexuellen Zuschauer und dem ein oder anderen Hüter von Sitte und Moral für harte Verspannungen der ein oder anderen Art sorgte. Ein klarer Sieg der Show über die Musik also, und damit eine Rückbesinnung auf die besonderen Stärken der Ukraine beim Eurovision Song Contest. Gerade für viele deutsche Grand-Prix-Fans, die noch frisch unter dem Schock des enttäuschenden Heimbeitrags standen, hellte sich der Horizont am Samstag kurzzeitig auf.
Falls Sie sich gerade fragen, warum ihnen das “Ohoh, ohoh” aus dem Vidbir-Jingle so bekannt vorkommt: es findet ebenfalls im Refrain des deutschen Eurovisionsbeitrags ‘Sister’ Verwendung.
Denn der ‘Siren Song’ beginnt mit den deutschen Worten “Komm zu mir, komm zu mir” und taugte damit bestens als spirituelles Asyl für enttäuschte germanische Eurovisionistas auf der Suche nach einem Lied, dem sie aus vollem Herzen die Daumen drücken könnten. “Endlich mal ein Song in diesem müden Jahrgang, der richtig abgeht,” lautete nur einer von vielen begeisterten Kommentaren in den Fan-Foren. Doch es soll uns heuer einfach nicht vergönnt sein! Denn bereits in der Live-Sendung kam es zu unangenehmen Szenen zwischen der erst nach dem kurzfristigen Rückzug von Tayanna von der Vidbir eilends nachnominierten Maruv und der Jurorin Jamala, die sie nach ihrem Auftritt vor laufenden Kameras einem hochnotpeinlichen politischen Verhör in bester Stasi-Manier unterzog. In dem ging es um ihre Einstellung zur Krim-Frage und um vergangene und künftige Auftritte Maruvs in Russland, wie sie in den Terminkalendern etlicher ukrainischer Künstler/innen stehen, die Jamala jedoch angesichts der weiter schwelenden kriegerischen Auseinandersetzung mit der Föderation als Landesverrat betrachtet. Eine Ansicht, die der verantwortliche staatliche Sender UA:PBC offensichtlich teilt: bevor man Frau Korsun als Repräsentantin des Landes bestätige, müsse sie einen Kontrakt unterzeichnen, in dem auch dieses Thema geregelt werde, hieß es.
Wollen keine Profiteure des Krim-Krieges sein: die Rosinenbomberinnen Freiheits-Jazzerinnen stehen nicht für Tel Aviv zur Verfügung.
Und zwar dergestalt, dass sie sich verpflichten müsse, alle noch anstehenden Gigs im Feindesland umgehend abzusagen. Maruv selbst veröffentlichte in den sozialen Medien weitere Klauseln des Vertragswerks, das nicht auf ihre Zustimmung stieß, weil sie damit die künstlerische Kontrolle über ihren Auftritt vollständig an den Sender abgeben, ihre Reise nach Tel Aviv dennoch weitestgehend aus eigener Tasche bezahlen muss – ein nicht nur, aber gerade in finanziell gebeutelten ehemaligen Ostblockländern durchaus übliches Verfahren. In mehreren intensiven Gesprächen zwischen UA:PBC und der Vidbir-Siegerin konnte keine Einigung erzielt werden, so dass Maruv nun nicht als Repräsentantin der Ukraine fungieren darf. Ironischerweise begründete der Sender die politisch motivierte Absage heute mit den EBU-Regeln hinsichtlich der “unpolitischen Natur des Wettbewerbs”. “Die aktuelle Situation rund um die diesjährigen Nationalwahlen” sowie die “Informationsstrukturen des Aggressors” (lies: Russland) hätten zu einer “Politisierung der Ergebnisse der nationalen Vorentscheidung” geführt. UA:PBC sehe daher die “Gefahr einer Vertiefung des Risses durch die ukrainische Gesellschaft,” wie es in einer Stellungnahme hieß. Dies widerspreche jedoch der eigenen Aufgabenstellung.
Fast vier Stunden Show für nur sechs Lieder: die Ukraine ist das Italien Osteuropas.
Allerdings brauchen wir uns gar nicht erst der Hoffnung hingeben, dass nun die Jurylieblinge und Zweitplatzierten der Vidbir das Ticket nach Tel Aviv erhielten: die drei Damen der Neo-Swing-Kapelle Freedom Jazz (nein, das denke ich mir nicht gerade aus, die heißen wirklich so!) möchten dieses unter den gegebenen Umständen ebenfalls nicht annehmen, wie sie bereits vorsorglich verkündeten. Ob sie die strengen Anforderungen an die politische Linientreue nicht erfüllen wollen oder ob die offensichtlich hochschwangere Leadsängerin des Trios bis zur Eurovision im Mai 2019 einem Flug- oder Auftrittsverbot nach dem Mutterschutzgesetz unterliegen bzw. gar bereits die Elternzeit angetreten haben könnte, blieb offen. Doppelt schade, denn das, wenn man es sehr wohlwollend beschreiben möchte, irgendwie possierliche ‘Cupidon’ (‘Amor’) wäre zwar eine deutlich schlechtere, aber immerhin noch die zweitbeste Wahl und läge musikalisch zumindest im aktuellen Trend dieser merkwürdigen Zeit. Ganz anders als das unmotivierte Ethno-Genudel von Kazka, das auf dem dritten Rang landete und, da ich es persönlich vollkommen schrecklich finde, nun mit großer Sicherheit der ukrainische Beitrag in Tel Aviv wird, nur um das bereits unglaublich große musikalische Leid nochmals zu vergrößern.
Ihre Straße führt nicht nach Tel Aviv: Anna Maria.
Aber wer weiß? Noch sind es gut drei Wochen bis zur EBU-Deadline, und es sollte mich nicht wundern, wenn die Ukraine diese Zeitspanne nicht zur Gänze mit weiterem Drama füllen könnte, um am Ende jemand ganz anderes zu entsenden. Die aparten Zwillingsschwestern Anna Maria werden es allerdings sicher nicht sein. Die Letztplatzierten des Vidbir-Finales mussten sich in der Sendung von Jamala und vom Moderator Serhiy Prytula ebenfalls aufs Härteste grillen lassen, da die Mutter des Duos der russischen Besatzungsregierung auf der annektierten Halbinsel angehört und nach Aussage der ‘1944’-Sängerin direkt dafür verantwortlich sei, dass diese ihre auf der Krim lebenden Eltern nicht besuchen könne. Ob das umstrittene Territorium ihrer Meinung nach zu Russland gehöre und wie sie überhaupt an der ukrainischen Vorentscheidung teilnehmen könnten, mussten sich die Beiden anhören. Unter Tränen antworteten die Schwestern, wenn sie sich zwischen ihren Eltern und der Eurovision entscheiden müssten, falle ihre Wahl auf die Familie. Die Quittung: lediglich ein Punkt im Juryvoting. Dennoch gehen die nun reflexartig laut werdenden Forderungen nach einem Ausschluss der Ukraine vom Song Contest fehl: zum einen haben die Länder beim Vorentscheid freie Hand. Zum anderen unterscheidet sich die 2015 ohne Not erfolgte öffentliche Kreuzigung von Xavier Naidoo durch Mitarbeiter/innen des NDR nur in Details vom samstäglichen Geschehen in dem Kriegsland. Wer also ohne Sünde ist…
Verlor der schmucke Keytar-Spieler der Band Yuko sein Augenlicht als Folge einer erhitzten Debatte mit Jamala? Auszuschließen wäre es nicht!
Vorentscheid UA 2019
Vidbir. Samstag, 23. Februar 2019, aus dem Kulturpalast der Technischen Universität in Kiew, Ukraine. 6 Teilnehmer/innen. Moderation: Serhiy Prytula.# | Interpret | Titel | TV | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Freedom Jazz | Cupidon | 04 | 06 | 02 |
02 | Yuko | Galyna guliala | 01 | 04 | 04 |
03 | Maruv | Siren Song | 06 | 05 | 01 |
04 | Brunettes shoot Blondes | Houston | 03 | 02 | 05 |
05 | Kazka | Apart | 05 | 03 | 03 |
06 | Anna Maria | My Road | 02 | 01 | 06 |
Man könnte natürlich auch Jamala nachträglich den Sieg 2016 aberkennen, Wäre nur gerecht. Diese Hexe des 21.Jahrhunderts !
Ok – man wird ja noch träumen dürfen
Mist, Maruv war die perfekte Wahl für die heutige Ukraine, in seiner Schamlosigkeit wie aus dem Berlin der 20er Jahre in dieses heute genauso geschundene Land gebeamt.
“Frauen werden geschlagen weil sie stärker sind” – Zitat von ich weiss nicht wem-
Aber dass Maruv und Anna Maria von der eigenen S!ster geschlagen werden ist natürlich unschön
Das muss echt sein, denn das kann man sich nicht ausdenken, siehe: https://www.eurovision.de/news/ESC-2019-MARUV-tritt-doch-nicht-fuer-Ukraine-an,maruv104.html
@ Thomas
24-Stunden-Dauerbeschallung mit dem deutschen Beitrag wäre natürlich auch eine schöne und lehrreiche Strafe für Jamala.^^
Sehr schade, dass Maruv doch nicht antritt. Ja, es ist billig und nuttig und was weiss ich noch. Aber ich liebe es! Besonders in dem bisher sehr schwachen Feld wäre der Song echt eine willkommene Abwechslung gewesen.