Wer hat an der Uhr gedreht? Mit dem Finale des schwedischen Melodifestivalen ging am gestrigen Samstagabend bereits die letzte öffentliche Vorentscheidung der Saison 2019 über die Bühne. Trotz – oder vielmehr wegen – des erneut geänderten Auszählungsverfahrens im Televoting, das die Stimmen des Publikums nunmehr nach verschiedenen Altersklassen gewichtet und damit den starken Einfluss der netzaffinen Jugend zurückdrängt, die seit der Einführung der Voting-App ihre Punkte gleichmäßig auf sämtliche Titel verteilte und damit die Entscheidungsgewalt faktisch in die Hände der Jury legte, geriet die Votingsequenz des MF 2019 zur langweiligsten seit Menschengedenken. Der bereits vorab in allen Umfragen stark favorisierte Sieger John Lundvik erhielt 96 von 96 maximal möglichen Punkten von der internationalen Jury sowie 85 von 96 Zählern im Televoting und damit fast doppelt so viel wie seine nächsten Konkurrenten. Der in London geborene ehemalige Sprinter tritt in Tel Aviv in gewisser Weise gegen sich selbst an: Lundvik hatte ursprünglich zwei Songs zum Melodifestivalen eingereicht.
Easy on the Eye and Ear: John Lundvik überzeugt optisch wie stimmlich.
Auf kluges Anraten von Mello-Chef Christer Björkman gab er jedoch das von ihm mitkomponierte ‘Bigger than us’ auf und reichte es an die BBC weiter, wo es, gesungen von Michael Rice, den britischen Vorentscheid gewann. Stattdessen konzentrierte er sich in Schweden auf das uptemporäre, geschmeidig ins Ohr gehende ‘Too late for Love’, das vor allem von dem mitreißenden Gospelchor aus vier fabelhaften Frauen lebt, der dem Ganzen eine moderat beflügelnde Note verleiht. Eine kluge Wahl! Sorgen um den Finaleinzug muss sich der schwedische Sender SVT nun genau so wenig machen wie um die Kosten einer erneuten Austragung im Wasa-Land: das mit einer der unaufwändigsten Bühnenshows der MF-Geschichte arbeitende Lied kommt ganz oben auf den riesigen Stapel der diesjährigen Eurovisionsbeiträge mit dem Label “nett”. Und “nett” reicht in Verbindung mit dem Absenderland Schweden in Tel Aviv ohne Frage für eine Top-Ten-Platzierung, gewinnt aber nicht den ESC. Dass John zuhause so haushoch obsiegte, lag auch mit daran, dass er und seine vier Lundviks als einer der wenigen Acts des Abends eine saubere Vokalarbeit ablieferten.
Harald Glööckler hat angerufen und will seine futtige Bling-Bling-Jacke zurück: Jon Henrik Fjällgren.
Das beim Mello seit vielen Jahren praktizierte Verfahren der Chorstimmen vom Band hat die schwedischen Künstler/innen nämlich mittlerweile offenbar so stark verdorben, dass kaum noch eine/r von ihnen in der Lage zu sein scheint, die Töne ihrer Lieder live durchgehend mehr als nur näherungsweise zu treffen. Besonders ärgerlich fiel die Dominanz des Playbacks gleich beim ersten Starter des Line-ups auf: der langsam aber sicher zur Mello-Dauereinrichtung verkommende Jon Henrik Fjällgren ließ sich den kompletten Refrain seines melodisch aus Versatzstücken des Tanzstundenklassikers ‘La Paloma Blanca’ von der George Baker Selection (ZDF-Hitparaden-Schauer/innen eher bekannt durch die kommerziell deutlich erfolgreichere großartige Eindeutschung von Nina & Mike) und Abbas ‘Fernando’ zusammengeschusterten Schlagers von der Konserve beisteuern und joikte halbherzig ein paar samische Wörter darüber. Dass er eine amtliche Rückung einbaute, bescherte ihm beim schwedischen Publikum einen soliden vierten Platz, zog aber den Zorn der schlagerhassenden Jury nach sich, die ihn ganz nach hinten verbannte.
Scannte bereits während des Auftritts das Publikum nach etwas Besserem ab: der superheiße Liamoo und die naïve Hanna Ferm, die seinem haltlosen Gesäusel als Einzige Glauben schenkte.
Wenig Zuspruch gab es auch für die optisch kaum wiederzuerkennende Anna Bergendahl, für deren Bühnendeko eine komplette Blume-2000-Filiale dran glauben musste, sowie für die erkennbar in die Jahre gekommene Dansband Arvingarna, die sich seit ihrer Eurovisionsteilnahme im Jahre 1993 mit dem damals schon hoffnungslos verstaubten ‘Eloise’ musikalisch jedoch kein Jota weiterentwickelte. Ihr aktueller Mello-Beitrag ‘I do’ schaffte das Kunststück, dass man sich unverzüglich Fabrizio Faniello zurückwünschte. Und das will schon etwas heißen! Zum Junior-ESC mit Gruselfaktor verkam das Mello mit dem Auftritt des angeblich sechzehnjährigen Bishara, der allerdings keinen Tag älter aussah und klang als zehn. Weswegen es gelinde irritierte, dass er sich wünschte, nicht mehr “alleine im Bett” zu erwachen und ähnliche Dinge mehr. Vorsichtig mit solchen Äußerungen, Bishara, die Michael Jacksons dieser Welt warten nur darauf!
“Die überzeugendste 45jährige Drag Queen, die ich jemals sah,” urteilte ein estnischer Forenkommentator über Linas Auftritt.
Da sollte sich der Kleine, der laut aufgeschlüsseltem Voting-App-“Slutresultat” in den beiden Altersgruppen der Kinder (3–9 Jahre) und Jugendlichen (10–15 Jahre) klar gegen John Lundvik obsiegte, eher ein Vorbild an seiner angeblich gleichaltrigen, jedoch deutlich erwachsener wirkenden Mitbewerberin Malou Prytz nehmen, die mit ‘I do me’ die richtige Idee vorgab: Masturbation hat noch niemandem geschadet! Der Preis für das dreistete Rip-off ging an Lina Hedlund, die für ihren Titel ‘Victorious’ die deutsche Vertreterin von 2013, Cascada, mit ihrem Plagiat von Loreens 2012er Siegertitel ‘Euphoria’ plagiierte, inklusive Showtreppe. Von selbiger soll Lina dem Vernehmen nach während der Proben zwar zweimal gestürzt sein, beim Mello-Auftritt selbst beherrschte sie das graziöse Herabschreiten der Stufen aber dann um Längen besser als die galoppierende Natalie Horler. An visuelle Nötigung grenzte hingegen der tiefe Ausschnitt von Linas fadenscheinigen Oberteils, der den Blick auf die frisch mit Silikon verfüllten Brüste lenkte, die in ihrer betonharten Festigkeit im harten Kontrast zu den sonst deutlich wahrnehmbaren Zeichens des altersadäquaten körperlichen Verfalls der Sängerin standen.
Fühlte sich scheinbar nicht wohl in ihrer Haut: die Perrelli.
Das Stichwort “in Würde altern” bietet abschließend die ideale Überleitung zum Pausenprogramm: das bestritten neben der reaktivierten Lynda Woodruff (yay!), die neben vielen eher lahmen Aussprache-Witzchen auch etliche echte Bonmots lieferte (“Make Eurovision straight again”), aus Anlass des zwanzigjährigen Jubiläums des letzten ESC auf israelischem Boden die damalige schwedische Vertreterin (und Siegerin) Charlotte Perrelli und ihre Vorgängerin Dana International, welche ihr 1999 bei der Preisübergabe auf unvergessene Weise die Schau stahl. Die beiden Grazien arbeiteten sich durch ein Vollplayback-Potpourri ihrer seinerzeitigen Siegertitel und eines eigens für das Mello geschriebenen, in Beat und Melodie stark an Donna Summers Disco-Klassiker ‘I feel Love’ erinnernden Songs namens ‘From Diva to Diva’. Sie gaben dabei einen spannenden optischen Kontrast ab: Frau International quetschte ihre spektakulären Hüften in einen hautengen Latexdress, in dem sie atemberaubend aussah.
Hut ab für den wunderbar blasphemischen Scherz über Conchita Wurst: Lynda Woodruff.
Während Frau Perrelli, die vor sechs Jahren zum dritten Mal Mutter wurde, ihre Pfunde unnötigerweise (und vergeblich) unter einem grotesken rosafarbenen Tüllmonster von Kleid zu verstecken suchte, in dem sie sich keinen Millimeter bewegen konnte und in dem sie ein bisschen an das Julia-Samoylova-Gebirge vom ESC 2018 erinnerte, allerdings nach dem Zusammenstoß mit einer Dampfwalze. Für den schwulsten Moment des Abends sorgte im Anschluss der Gastgeber Eric “Sa-day-dee” Saade, der sich für die Abmoderation dieses Auftritts in Danas Pfauenfeder-Kostüm von der Siegerreprise in Birmingham schmiss, ihr praktisch eine öffentliche Liebeserklärung machte und ihr die Gelegenheit zu einer gefühlt minutenlangen kitschtriefenden Ansprache einräumte, während er die arme Charlotte in Sekundenschnelle mit einem verzickt-ironischen “Dein Kleid… fantastisch!” abspeiste. Die nahm es immerhin mit Humor und einem herrlich dreckigen Lachen. So lieben wir unsere tragischen Trash-Mamsellen beim Grand Prix!
Zwei Stunde schwache Songs und tolle Bühnenpräsentation: das Mello-Finale 2019.
Vorentscheid SE 2019
Melodifestivalen. Samstag, 9. März 2019, aus der Friends Arena in Stockholm, Schweden. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Marika Carlsson, Kodjo Akolor, Sarah Dawn Finer und Eric Saade.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
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01 | Jon Henrik Fjällgren | Norrsken | 55 | 1.398.299 | 19 | 04 |
02 | Lisa Ajax | Torn | 23 | 1.164.997 | 39 | 09 |
03 | Mohombi | Hello | 42 | 1.349.171 | 32 | 05 |
04 | Lina Hedlund | Victorious | 08 | 883.187 | 32 | 11 |
05 | Bishara | On my own | 69 | 1.719.337 | 38 | 02 |
06 | Anna Bergendahl | Ashes to Ashes | 36 | 1.143.408 | 20 | 10 |
07 | Nano | Chasing Rivers | 10 | 951.266 | 54 | 08 |
08 | Hanna Ferm + Liamoo | Hold me | 59 | 1.592.988 | 48 | 03 |
09 | Malou Prytz | I do me | 12 | 1.010.600 | 23 | 12 |
10 | John Lundvik | Too late for Love | 85 | 2.211.811 | 96 | 01 |
11 | Wiktoria | Not with me | 28 | 1.173.276 | 36 | 07 |
12 | Arvingarna | I do | 37 | 1.159.367 | 27 | 06 |
Ich mag sowohl Schweden als auch Großbritannien nicht besonders. Im Moment ziehe ich sogar letzteres ein bisschen vor.
Das war jedenfalls inklusive Votings das langweiligste Mello seit Jahren. Die interessanteren Beiträge haben es gar nicht erst ins Finale geschafft. Wird eigentlich höchste Zeit, dass sich der musikalische Verfall des Mellos auch mal beim ESC widerspiegelt.
Sollte die internationale Jury diesen Schlager-Abklatsch von Österreich 2018 wieder zu ihrem Sieger machen, wie einige Fans bereits vermuten, ist sie jedenfalls endgültig nicht mehr ernstzunehmen.
Ich mag den Song. Und das war ein sehr überzeugender Auftritt mit diesen vier Wuchtbrummen im Gepäck. Und ob der nächste ESC nicht doch im Land der Deprikrimis stattfindet – der Drops ist noch nicht gelutscht.
Übrigens “Paloma Blanca” stammt von der George Baker Selection.
Die Schweden können Show, danke für einen kurzweiligen Abend!
John ist sicher eine Bereicherung für das diesjährige ESC Feld, das war sicher keine schlechte Wahl, I like.
Ist aber mehr Füllmaterial mit guter-Laune Bonus, aber damit zumindest meine Nr.1 bei den 3 aktuellen Wettkönigen NL RU SWE
Sieht so aus als müssen Hatari das Feld von hinten aufrollen um diesen Jahrgang zu retten…
Ein Song & ein Sänger wie Traubenzucker, geht beides sofort ins Blut!
Tolle Nummer, meine Nr. 1 dieses Jahr.
Notiz an Florian Silbereisen: SO geht ein Gospelchor!
@Meikel: das mit der George Baker Selection war mir bekannt, ich hatte mich ursprünglich aber für die auf dem deutschen Markt relevantere Version entscheiden (vgl. ‘Let your Love flow’ von den Bellamy Brothers. Kennen neun von zehn Deutschen ausschließlich als ‘Ein Korn im Feldbett’ vom Onkel Jürgen). 😉
Ich hab es mittlerweile aber im Text ergänzt, danke für den Hinweis.
Schade, dass Wiktoria in deiner – übrigens ganz hervorragenden – Analyse des gestrigen Abends keine Erwähnung fand. Mir gefiel das Lied noch am besten von allen und hätte sie nicht so überperformt, wäre das ein würdiger Beitrag für Tel Aviv gewesen.
Mit Abstand am Sehenswertesten war jedoch Linda Woodruff.
Bei einem mehr oder weniger gospelartigen Song gehört auch ein sichtbarer Chor mit auf die Bühne. Nicht nur aber auch deshalb wird John beim Publikum wohl besser ankommen als letztes Jahr Cesar Sampson. Ob’s auch zur gleich guten Platzierung des Österreichers reicht, bleibt abzuwarten, doch ich tippe durchaus auf eine einstellige.
Es war mir natürlich klar das dir das bekannt war. Dennoch stimmt die Formulierung ” kommerziell deutlich erfolgreichere deutsche Version” nicht. Ein Blick in die analen der Charts bestätigt das. Nina & Mike kamen bis auf Platz 6 und waren 15 Wochen in den Charts, die George Baker Selection waren 13 Wochen auf Platz 1 insgesamt 37 Wochen in den Charts und die meistverkaufte Single des Jahres 1975 ( noch vor Udo Jürgens und Griechischer Wein”). Sorry – ich stell den Besserwisser-Modus jetzt auch ganz schnell wieder ab.
I stand corrected, Meikel! Man sollte halt doch die Fakten checken, bevor man aus der trügerischen Erinnerung heraus irgendwas behauptet. Vielen Dank für den neuerlichen Hinweis.