Bevor der heutige letzte Supersamstag der Vorentscheidungssaison 2019 unsere letzten Kraftreserven fordert, gilt es noch, die beiden Semifinale der serbischen Beovizija Revue passieren zu lassen, die am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche über die Bühne gingen und die sich über weiteste Strecken in einer schier unglaublichen Nostalgie ergingen. Während man nämlich die jeweils 12 Kombattant/innen je Runde, von denen die Hälfte ins Finale passieren durfte, in einer knappen Dreiviertelstunde Schlag auf Schlag durch das Programm prügelte, unterbrochen nur von kaum einminütigen Einspielern (sieh und lerne, NDR!) füllte der Sender RTS die verbliebenen mehr als zwei Stunden Sendezeit bis zum Bersten mit namhaften Stargästen aus dem gesamten Balkan. So wie beispielsweise der anbetungswürdigen Kaliopi, dem etwas abgehärmt aussehenden Laka, der frisch gestrafften Sanja Vučić, dem sichtlich gealterten Knez oder der zuckersüßen Bojana Stamenov, die nicht nur jeweils ihre eigenen Eurovisionsbeiträge nochmals zum Besten gaben, sondern auch, zusammengestellt zu Superstar-Duetten bis Quartetten, weitere Balkan- und Eurovisionsklassiker präsentierten. Und damit das zuvor gezeigte aktuelle Beovizija-Teilnehmerfeld dermaßen grell überstrahlten, dass nur die gelegentlich eingestreuten Schnelldurchläufe es vor dem völligen Vergessen bewahrte.
https://youtu.be/dL88r6TrmFw
Ob die Lipide für Sanja Vučićs Lippenaufspritzung direkt aus dem Gesäß von Jacques Houdek abgesaugt wurden?
Dabei gab es durchaus was zu sehen in der Beovizija. So zum Beispiel die Sängerin Dunja Vujadinović, die in einem tief ausgeschnittenen, umweltfreundlichen Kleid aus recyceltem Toilettenpapier antrat. Allerdings schien sich ihre schwarzgewandete Begleitballetteuse im Streik zu befinden: die meiste Zeit verharrte sie regungslos auf dem Bühnenboden, erst zur Songmitte hin schlich sie sich hinterrücks an Dunja an, benannte mittels Klopfzeichen ihre Gagenforderung und ließ sich nach offensichtlich erfolgreichem Abschluss der Verhandlung zu einer Performance verleiten, bevor sie sich für die letzte halbe Minute wieder schlafen legte. Durch das zweite Polufinale zog sich unterdessen ein sprichwörtlicher optischer Faden als Leitthema: so sorgte zum einen die Kapelle Gipsykord mit strategisch eingesetzten, neonfarbenen Schnürsenkeln für einen echten Hingucker.
Reißfest und saugstark: Dunjas Krepppapierdekolleté.
Diese hielten nämlich den hautengen, lediglich aus ein paar dünnen vertikalen Lederstreifen bestehenden Body ihrer kurvenstarken Leadsängerin notdürftig zusammen und lenkten so den Blick sehr erfolgreich ab von ihren gleich drei bulligen Zuhältern, die im Hintergrund saßen und so taten, als spielten sie Instrumente, während ihr prallgeschnürtes Pferdchen die Hüften rotieren ließ, als hinge ihr Leben davon ab. Was es vielleicht auch tat. Insofern schlecht für sie, dass die Zigeunerkordel ebenso am Finaleinzug scheiterte wie die Frau im Umweltkleid. Mehr Glück mit dem Finaleinzug hatte der Konkurrent Dženan Lončarević mit seiner tief melancholischen und den Titel ‘Nema Suza’ (‘Keine Tränen’) damit Lügen strafenden Balkanballade über eine Mutter, die den Verlust ihres musisch begabten, dennoch in den Krieg gezogenen und dort gefallenen Sohns betrauert.
Man könnte sie so wunderbar als Postpaket verschicken…: Gipsykord.
Woher ich das trotz nicht vorhandener Serbischkenntnisse wissen will? Nun, Dženan erwies sich als so freundlich, die komplette Geschichte für uns in einer kitschtriefenden, aber hocheffektiven Theaterinszenierung darstellen zu lassen, deren Hauptrolle eben jenes verhärmte Mütterchen einnahm, welches die meiste Zeit mit sorgenvollem Gesicht zusammengekrümmt auf einem Stuhl verharrte und einen wärmenden Schal als Willkommensgeschenk für die erhoffte Rückkehr ihres Augapfels strickte. Ein Quartett unvermittelt die Bühne stürmender Ausdruckstänzerinnen verlängerte das Strickwerk dann zu einer Art wollener Nabelschnur, die sie zum Seilspringen nutzten, während der weitestgehend charismafreie Sänger, mit silbernen Schulterkordeln als militärischer Befehlshaber gekennzeichnet, das im Vergleich zu den Klassikern aus dem Pausenprogramm etwas zähe Lied sang.
Der serbische Art Garfunkel mit seiner etwas drögen, rein von der Inszenierung lebenden Anti-Kriegs-Ballade.
Doch es sollte alles nichts nützen: am Schluss schritt der Sohn, gekrönt von einem Heiligenschein als Zeichen seines Ablebens, aus dem jenseitigen Bühnendunkel zu seiner Ma und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. Und wem an dieser Stelle nicht die Tränen waagerecht aus den Augen spritzten, hat wohl kein Herz. Nicht nur die schmerzerfüllte Vergangenheit war Thema in der Beovizija, sondern auch die unerfreuliche politische Gegenwart, repräsentiert durch den Titel ‘Do 100’ eines Acts mit dem Namen Mr. Doo. Dieser scheiterte im ersten Polufinale und wäre musikalisch auch gar nicht weiter erwähnenswert, bestand er doch hauptsächlich aus “Na na na”-Gesängen zu einem etwas wirr vor sich hin tuckernden Elektro-Pop-Bett.
“Stopp für blutverschmierte Hemden” lautet ein Motto der serbischen Protestbewegung gegen Präsident Vučić, der beschuldigt wird, Schlägertrupps gegen Oppositionelle zu schicken. Vor diesem Hintergrund macht die ansonsten verwunderliche Inszenierung auf einmal völligen Sinn.
Doch auch hier blieb die Inszenierung im Gedächtnis hängen: während Mr. Doo und seine beiden Chordamen, verpackt in flatternder Plastikfolie, im Dunkel des Bühnenhintergrunds agierten und gar nicht wahrgenommen werden wollten, stand ein mit Theaterschminke als Opfer einer Schlägerei zurechtgemachter Bauchredner am vorderen Bühnenrand im Scheinwerferkegel und bewegte seine Lippen nicht zum Gesang. Wie Roy D. Hacksaw von Eurovision Apocalypse herausfand, soll es sich dabei mutmaßlich um einen Protest gegen den Überfall auf den führenden serbischen Oppositionspolitiker und ehemaligen Punkrocker Borko Stefanović im November 2018 handeln, der eine landesweite Protestwelle gegen das immer diktatorischer agierende und die Meinungsfreiheit beschneidende Régime des derzeitigen Präsidenten Aleksandar Vučić auslöste.
Zweieinhalb rundheraus sehenswerte Stunden: das erste Semifinale der Beovizija 2019.
Nicht minder sehenswerte zweieinhalb Stunden: das zweite Semifinale der Beovizija 2019.
WOW, ich bin hin und weg – die Molitva-Version ist ja der Hammer! Gibt’s von den Duetten bis Quartetten noch mehr auf der Tube zu sehen?
Bitte nächstes Jahr Bojana Houdek schicken. Sind mit die besten Stimmen aller ESCs der letzten 10 Jahre. (Aber Obacht auf die Bühnenstatik…)
@Tamara: Auf dem eigenen Beovizija-Kanal von RTS kann man sich sowohl sämtliche Pausenauftritte als auch die kompletten Semis anschauen:
https://www.youtube.com/channel/UC38DtsndJajrtKmveBwjnTg
@Olli: Wow, danke! Da haben die Serben ja echt aufgefahren! Großartig!