Mit dem georgischen Beitrag schaffte es ein Lied in meine Top Ten, das in den meisten Fan-Polls und in den Wettbüros ganz weit unten landete. Dabei gelang es der ehemaligen Sowjetrepublik, von der EBU-Zensur unbemerkt ein hochgradig politisches Werk in den Wettbewerb zu schmuggeln, was alleine mir schon Respekt abnötigt.
Platz 7: Georgien – Oto Nemsadze: Sul tsin iare (Mach weiter)
Denn das mit für westliche Ohren mit beinahe schon ans Komische grenzender Inbrunst gesungene “Vaarada varada!”, das der bärige Hipster und sein Gefangenenchor im Refrain ein ums andere Mal in stetig steigender Dringlichkeit wiederholen, ist, wie Oto im Interview mit ESC Kompakt erklärte, ein althergebrachter Refrain in traditionellen Gesängen in den vom georgischen Mutterland abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien, die der bei einer Castingshow ausgewählte Nemsadze mit seinem Buhlen zur Wiedervereinigung becircen möchte. “Überwinde den Stacheldraht” lautet einer seiner Textzeilen, mit denen er die bestehenden (und auch mit russischer Hilfe finanzierten) Grenzen innerhalb der Nation niederschmettern möchte, wobei ihm die Musik als eine Art künstlerischer Friedenspfeife dienen soll: “Wir heilen uns gegenseitig die Wunden mit Gesang”. Das martialische Musikvideo macht sein der Sprachgrenze zum Opfer fallendes Ansinnen nochmals augenfälliger als sein Auftritt im Finale von Georgien sucht den Superstar, wo zu seinem Lied auf der LED-Wand hinter ihm unübersehbar die Landesflagge wehte.
Ein Lied kann eine Brücke sein: Oto will die abtrünnigen Abchasen überzeugen, den Stacheldraht an den Stränden des früheren Touristenhotspots niederzureißen.
Ob man die hochgradig nationalistische Hymne nun als musikalisches Versöhnungsangebot, als unwillkommene Einmischung in die inneren Angelegenheiten von nach Souveränität strebender De-facto-Republiken oder als simplen Balsam auf die verwundete Seele der zwischen der Bewahrung ihrer Identität und der ständigen subtilen Bedrohung aus Moskau zerriebenen Kaukasusbewohner/innen interpretieren mag, bleibt jedem selbst überlassen. Den meisten Nicht-Georgier/innen wird es in erster Linie egal sein, aber Oto verhandelt hier existenzielle Fragen für die so geschichtsreiche wie verhältnismäßig kleine und einwohnerschwache Nation. Das erklärt auch den überbordenden Pathos in seinem Song, die Dramatik in der Melodie, den scheinbar autistisch agierenden Männerchor und das Martialische in seinem Auftritt, welches der Nummer, auch wenn man um ihren Inhalt nicht weiß, eine ungeheure Kraft verleiht. Otos unglaublich maskuline Reibeisenstimme, mit der er sich durch die Strophen raspelt, passt dazu wie die Faust aufs Auge und ist auch der Grund, warum mich das Ganze dermaßen anspricht.
Jurymitglied Natia Todua (die Letztplatzierte aus dem deutschen Vorentscheid 2018) rastet schier aus bei Otos Vorentscheidungsaufritt.
Semi: 1. Finalchancen: null. Darum geht’s den Georgiern auch offensichtlich nicht, sondern um kulturelle Selbstbestätigung.
Beste Textzeile: “Iare gulit da zghva gadaiare” (“Folge deinem Herzen und laufe über das Meer”): da leidet wohl jemand unter einem Jesus-Komplex?
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Ich muss ja zugeben, dass ich hin und wieder von einem lästigen Vaaaaradaa Varadaaaa-Ohrwurm heimgesucht werde…
Ui, das ist ja Mal ein besonders schlimmes guilty pleasure!
Der Konflikt Georgien – Abchasien hat ja viele Gemeinsamkeiten mit dem serbisch-kosovarischen,
Von daher wird sein Flehen wohl vergebens sein
Ich bin nicht allein! Natürlich wird Oto sehr weit hinten im Semi landen, aber auch mich fasziniert seine Stimme ungemein. Dieser Song ist mir mehr ans Herz gewachsen, als ich je für möglich gehalten hätte…
Ich geb mir ja echt Mühe und ich würd mir wünschen, dass es mir gefällt – aber es will mir nicht gelingen 🙂 Von den kaukasischen Ländern schickt Georgien mMn die interessantesten Songs – und dann diesmal auch noch in Landessprache. Aber “Sul Tsin Iare” finde ich leider nicht gut.…
Ich hab mir mal die Mühe gemacht, und aus dem Geschrei ein Lied herauszufiltern und – siehe da – es ist mir gelungen. Da wird eine tatsächlich ganz hübsche Melodie in Grund und Boden gekrischen, dass man sich nur noch die Ohren zuhalten möchte. Hätte man das Ganze einer Frau zum singen (nicht schreien !!!) gegeben, ich fände es hörenswert. Aber so.… nein danke.
Hatte gerade Mühe, vor lachen nicht über den Boden zu rollen, aber gut, die Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Und selbstverständlich ist es legitim, den Beitrag mehr oder weniger abzufeiern.
Ich habe ja eher den Eindruck, Oto ruft da ganz eindringlich nach ’nem Arzt, weil ihm was fehlt. Muss was Schlimmes sein, denn er sieht nicht danach aus ein Hypochonder zu sein. Das Kerlsein kann man ihm sicher nicht absprechen.
@forever – wobei gerade (pseudo-)kerlig wirkende Typen oft die größten Hypochonder sind; sie weigern sich bloß zum Arzt zu gehen… unabhängig davon kann ich mit dem Song auch nix anfangen und finde ihn nur marginal weniger nervig als Spanien oder Polen.
Ich mache es diesmal kurz und schmerzlos: Nein Danke!!!
Warum sollten “gekrischene” Drama-Balladen beim ESC das Vorrecht von Frauen sein? ZUdem hier wirklich eine ungemeine Kraft drin liegt. Daumen hoch für Oto!