Peinlich: der EBU unterlief beim Zusammenrechnen der Jury-Ergebnisse im Finale des diesjährigen Eurovision Song Contest ein derartig frappierender Fehler, dass die Wertung heute korrigiert werden musste. In einem Statement bestätigte die EBU, was ein nerdiger Grand-Prix-Fan bereits am Sonntag entdeckt hatte: bei der Ermittlung des “aggregierten” weißrussischen Jury-Ersatzergebnisses erhielten versehentlich nicht die besten Zehn Punkte, sondern die Schlechtesten. Dies ändert zwar nichts am Gesamtsieg des niedlichen Niederländers Duncan Laurence, bedeutet aber unter anderem, dass nicht, wie in der Live-Show verkündet, der schnucklige Schwede John Lundvik Jurysieger wurde, sondern die taffe Tamara Todevska aus Nordmazedonien mit ihrer fantastischen Female-Empowerment-Hymne ‘Proud’. Die drögen deutschen Sisters hingegen, denen die ihnen fälschlicherweise zugeschanzten acht belarussischen Jurypunkte verloren gehen, rutschen im Gesamtergebnis vom dritt- auf den vorletzten Platz. Als noch unangenehmer erweist sich die Korrektur für das Gastgeberland Israel, das im Juryvoting statt mit Douze Points nun mit völlig leeren Händen dasteht.
Kann stolz sein: die mazedonische Frauenrechtlerin Tamara ist die Jurysiegerin beim ESC 2019.
Der Vorfall wirft erneut ein Schlaglicht auf die fragwürdige Institution der Jury, deren Sinnhaftigkeit gestern bereits der Songwriter Tom Hugo vom Trio Keiino, dem diesjährigen Publikumssieger, in Frage stellte: “Es ist völlig subjektiv, was gut oder schlecht ist, und so ist es merkwürdig, dass ein paar Leute zur Hälfte darüber entscheiden, wie viele Punkte ein Land vergibt,” sagte er dem heimischen Portal VG. Wie Wiwibloggs berichtet, hatten die Norweger nach dem Juryfinale am Freitag, bei dem es während ihrer drei Minuten mehrfach zu Bildausfällen kam, einen zusätzlichen Auftritt beantragt und gegen die Ablehnung ihrer Bitte eine formelle Beschwerde bei der EBU eingereicht, die allerdings ebenfalls verworfen wurde: “Wir sind enttäuscht über diese Entscheidung, aber es liegt im Ermessen der EBU, die aus ihrer Sicht richtige Wahl zu treffen,” zitiert das Portal den norwegischen Delegationsleiter. Dessenungeachtet gratulierten Keiino am Sonntag auf Instagram Duncan Laurence von Herzen: “Du warst fantastisch letzte Nacht. Wir wissen, wie sehr du die Musik liebst, und wir freuen uns so sehr, dass du den Eurovision Song Contest 2019 gewonnen hast”. Schlechte Verlierer sehen anders aus.
Die rechtmäßigen Sieger des ESC 2019: Keiino aus Norwegen.
Bereits in den Semis verfälschten einzelne Jurorinnen unbeabsichtigt das Ergebnis, weil sie das Abstimmungssystem nicht kapierten. Eurofire fasst es zusammen: “Sowohl die schwedische Jurorin Lina Hedlund als auch die tschechische Jurorin Jitka Zelenková haben in ihren jeweiligen Halbfinals ihr Ranking falsch herum abgegeben. Statt ihrer Favoriten setzten sie ihren letzten Platz an die Spitzenposition. Statistiker haben herausgefunden, dass sich bei einer korrekt abgegebenen tschechischen Wertung Polen statt Weißrussland für das Finale qualifiziert hätte”. Diese Ergebnisse änderte die EBU heute nicht ab: wie sollte das im Falle Tulias auch gehen? Eine nachträgliche Finalteilnahme lässt sich nun nicht mehr organisieren. Und auch, wenn es sich beim Eurovision Song Contest natürlich nur um eine Unterhaltungssendung handelt und menschliche Irrtümer immer passieren können, wirft es doch die Frage auf, ob die EBU bei der Auswahl, der Schulung und der Überwachung der Jurymitglieder die notwendige Sorgfalt walten lässt, wenn ein simpler Verständnisfehler im Zweifel dafür sorgen kann, dass ein Land bereits vor der großen Show am Samstag wieder abreisen muss.
Von einer einzelnen, begriffsstutzigen Jurorin ums Finale betrogen: die Polinnen.
Und nun das Belarus-Gate! Auslöser der ganzen Affäre war der Jury-Vorsitzende Valeri Prigun, der verbotenerweise öffentlich darüber plapperte, wie er und seine vier Kolleg/innen im ersten Semifinale abgestimmt hatten. Die EBU suspendierte daraufhin die Belarussen vom Jury-Finale am Freitagabend. Stattdessen wurde ein fiktives, “aggregiertes” Ergebnis errechnet aus den tatsächlichen Punktevergaben der vier Mitbewerberländer, die sich im selben Lostopf befanden: Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Russland. Nachdem das in der Sendung am Samstag verlesene Juryvoting für Aufsehen unter den Fans sorgte, weil die Punkte fast allesamt an Länder auf der rechten Seite der Tafel gingen, setzte sich der portugiesische ESC-Fan Euro_Bruno hin und kalkulierte selbst. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass auch in diesem Falle nicht die Top Ten der Stichprobe Punkte erhalten hatten, sondern die Bottom Ten, und zwar in umgekehrter Reihenfolge: also Douze Points für die letztplatzierten Gastgeber, zehn für Estland, das den zweitschlechtesten Wertungsdurchschnitt hatte, acht für Deutschland, das auf dem drittletzten Rang lag, und so weiter.
here’s a picture with all the calculations I made which shows this pic.twitter.com/USCwBkjsX5
— Bruno 🧮🍉 | 🇮🇹🇧🇪🇮🇪 (@euro_bruno) May 19, 2019
Der kurze Glücksmoment Samstagnacht, als es überraschende Douze Points für den Heimbeitrag regnete, erwies sich leider nur als Irrtum. Aber Kobi ist natürlich trotzdem ein Jemand.
Und während der Produzent von Zenas Wettbewerbsbeitrag ‘I like’ der EBU eine Klage androhte, weil Mütterchen Russland, mit dem der Diktator des Landes, Alexander Lukaschenkow, bekanntlich ein besonders enges Verhältnis pflegt, keine Jury-Punkte von seinem eifrigsten Verbündeten erhielt, was für diplomatische Verwicklungen sorge und ihn selbst in der Öffentlichkeit zum “Feind Russlands” mache, veröffentlichte Euro_Bruno auf Twitter seine Berechnungen, welche die Fan-Medien eifrig aufgegriffen und auch die EBU umgehend damit konfrontierten. Dennoch verstrichen ganze drei Tage, bis man in Genf den Fehler zerknirscht einräumen musste und das Ergebnis korrigierte: “Die EBU und ihre Partner digame und Ernst & Young bedauern zutiefst, dass dieser Fehler nicht früher erkannt wurde und werden den Prozess und seine Kontrollmechanismen untersuchen, um zu verhindern, das so etwas nochmal passiert,” hieß es heute. Ist ja schön, noch besser wäre es aber, dieses Instrument ganz zu streichen. Will man ernsthaft das Diasporavoting eindämmen, dessen sich die Juroren ja selbst munter schuldig machen, so muss man einfach nur das Televotingverfahren ändern: maximal ein Anruf pro Land pro Anschluss. Problem gelöst.
Klage abgewendet: nach der Korrektur konnte Sehrgay einen zusätzlichen Jurypunkt für sich verbuchen. Da hat man bei der EBU ja gerade noch mal Glück gehabt!
Die korrigierten Ergebnisse:
ESC 2019, Finale
Finale des Eurovision Song Contest 2019. Samstag, der 18. Mai 2019, 21 Uhr, aus dem Expo Convention Center in Tel Aviv, Israel. 26 Teilnehmer:innen. Moderation: Bar Refaeli, Erez Tal, Assi Azar und Lucy Ayoub.# | Land | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Summe | Platz |
---|---|---|---|---|---|---|---|
01 | MT | Michaela Pace | Chameleon | 020 | 087 | 107 | 14 |
02 | AL | Jonida Maliqi | Ktheju Tokës | 047 | 043 | 090 | 17 |
03 | CZ | Lake Malawi | Friend of a Friend | 007 | 150 | 157 | 11 |
04 | DE | Sisters | Sister | 000 | 024 | 024 | 25 |
05 | RU | Sergey Lazarev | Scream | 244 | 126 | 370 | 03 |
06 | DK | Leonora Jepsen | Love is forever | 051 | 069 | 120 | 12 |
07 | SM | Serhat Hacıpaşalıoğlu | Say na na na | 065 | 012 | 077 | 19 |
08 | MK | Tamara Todevska | Proud | 058 | 247 | 305 | 07 |
09 | SE | John Lundvik | Too late for Love | 093 | 241 | 334 | 05 |
10 | SI | Zala Kralj + Gašper Šantl | Sebi | 059 | 046 | 105 | 15 |
11 | CY | Tamta Goduadze | Replay | 032 | 077 | 109 | 13 |
12 | NL | Duncan Laurence | Arcade | 261 | 237 | 498 | 01 |
13 | GR | Katerina Duska | Better Love | 024 | 050 | 074 | 21 |
14 | IL | Kobi Marimi | Home | 035 | 000 | 035 | 23 |
15 | NO | Keiino | Spirit in the Sky | 291 | 040 | 331 | 06 |
16 | UK | Michael Rice | Bigger than us | 003 | 008 | 011 | 26 |
17 | IS | Hatari | Hatrið mun sigra | 186 | 046 | 232 | 10 |
18 | EE | Victor Crone | Storm | 048 | 028 | 076 | 20 |
19 | BY | Zena | Like it | 013 | 018 | 031 | 24 |
20 | AZ | Chingiz Mustafayev | Truth | 100 | 202 | 302 | 08 |
21 | FR | Bilal Hassani | Roi | 038 | 067 | 105 | 16 |
22 | IT | Mahmood | Soldi | 253 | 219 | 472 | 02 |
23 | RS | Nevena Božović | Kruna | 054 | 035 | 089 | 18 |
24 | CH | Luca Hänni | She got me | 212 | 152 | 364 | 04 |
25 | AU | Kate Miller-Heidke | Zero Gravity | 131 | 153 | 284 | 09 |
26 | ES | Miki Núñez | La Venda | 053 | 001 | 054 | 22 |
Jurys sind Wichser. Ende der Durchsage.
Für alles andere fehlen mir gerade die Worte.
bei aller berechtigter Kritik an den Juries – was sagt denn Ernst & Young dazu? Letztendlich werden Consultants doch dafuer bezahlt, gerade dies zu verhindern (und mehr noch, das Semifinale). Die werden sicherlich nicht wenig dafuer bekommen, dass sie Fehler feststellen und korrigieren, bevor sie relevant werden? Sorry, guys – aber die wirklichen Wichser hier sind die in Nadelstreifen (what else is new). ich hoffe jedenfalls, dass E&Y jetzt schnellstens diesen (sicherlich) lukrativen Job verlieren – und hoffentlich nicht nur den…
*Besswiss-Modus on*
Slowenien ist aufgrund der höheren Televoting-Punktzahl 15. und Frankreich 16.
*Besswiss-Modus off*
*Traurig-Modus on*
Für Polen tut es mir jetzt noch mehr leid!
*Traurig-Modus bleibt an*
Ich bleibe dabei: Jurys brauchen wir weiterhin, um Diasporavotings einzudämmen. Erinnern wir uns an früher, als der deutsche Zwölfer immer an die Türkei ging… Den Olivers eigentlich richtigen Vorschlag, dass man nur einen Anruf pro Land tätigen darf, würden diverse Länder, die über die Telefongebühren Kosten kompensieren wollen und müssen, sicher nicht mitmachen.
Allerdings finde ich nach wie vor, dass fünf Leute in der Jury einfach zu wenige sind. Da ist das Ergebnis dann zu unausgeglichen. Mehr und bessere Überwachung der korrekten Wertungen (wie Marcus schreibt) halte ich auch für nötig.
Allerdings bin ich ratlos, wie man auch bei den Juroren die Nachbarschafts- und politischen Wertungen weg kriegt. Das Zypern-Griechenland-Thema nervt und ändert sich auch bei den dortigen Jurys nicht. Und wie man oben schön an der Tabelle sieht: Aserbaidschan setzt Russland auf 1, Georgien aber auf 26. Völlig “unpolitisch”…
Und ich hatte mich schon gewundert, warum Weißrussland ins Finale gekommen ist und Polen nicht. Zumindest brauche ich jetzt weniger an meinem eurovisionären Sachverstand zweifeln.
Kleine Nachbetrachtung mit etwas Abstand:
Polen hat geschmerzt, und Portugal, Conan auf den letzten Platz zu setzen ist eine bodenlose Jury-Frechheit. Keiino bereits im Semi rauskicken zu wollen ein schlechter Jury-Witz.
Und Rumänien / Dänemark hätten die Televoter rausgekickt, Die Jurys haben Gott sei Dank nur eine Nummer ins Finale schummeln können!
Aber schön zu sehen, dass mit Keiino, Duncan und Mahmood 3 Musiker im Televote vorn sind, die Ihre Songs selber schreiben können.
Und lieber NDR, nenn den nächsten Vorentscheid bitte nicht “unser Lied für Amsterdam”, es wird sowieso wieder Songtechnisch eine englische Song-Mogelpackung!
Und Hatari, ihr habt echt Leben in die Bude gebracht, und was so ein kleines Fähnchen für einen Wind machen kann 🙂 und btw. geiles neues Video+Song!
Ein Jahr ohne echten Überflieger wie man auch an den niedrigen Sieger-Punkten sehen kann. Zumindest wird ein ESC aus Holland sicher kein schlechter.
Und vielen Dank an den Hausherren für die unterhaltsame und meist treffsichere journalistische Begleitung!!
Ich bin zumindest dafür, beim Semifinale komplett auf die Jurys zu verzichten. Im Finale hat es nunmal für mich einen großen Reiz, das Duell miterleben zu dürfen und in diesem Jahr war es extrem spannend und man konnte es lange Zeit nicht vorhersehen, wer denn nun gewinnt. Zudem wäre Norwegen als Sieger eine ziemliche Katastrophe gewesen.
Beste Beiträge im Finale für mich Italien, Aserbaidschan, Niederlande und Slowenien.
Zum NDR-Liedchen: Verdiente Platzierung. Es geht aber nächstes Jahr im gleichen Trott weiter, alles andere würde mich sehr wundern.
Ach kommt schon – in jedem Blog, in jedem Forum sind Leute vor allem dann gegen Juries, wenn sie nicht nach ihrem persönlichen Geschmack werten. Wenn’s anders rum ist, liebt man sie. Erinnert euch an das NF von Portugal aus dem Salvador Sobral als Sieger hervorgegangen ist. Ohne Jurys würde Portugal noch immer auf einen Sieg warten.
Um einer eventuellen Legendenbildung vorzubeugen bzgl. Conan Osiris und den Jurys: Auch bei reinem Televoting hätte er das Finale glasklar verpasst. Sooo toll sind die TV-Zuschauer mit ihm auch nicht umgegangen.
Conan hat einen respektablen 12ten Platz im Televote für einen wahrlich nicht eingängigen Song! Und die Jurys sollten diesen Mut, sowas zu schicken nicht mit dem letzten Platz abstrafen sondern belohnen. Gleiches gilt für Polen.
Aber wahrscheinlich kann man mit einer künstlichen Intelligenz mittlerweile ganz treffsicher eine Jury Programmieren. Ein bisschen Kompatibel zur Standard-Radiomucke, ein Spritzer Balladensaft + Vokalakrobatik und fertig ist das Jury-Ranking!
Interessiert mich bloss nicht was dabei rauskommt, das spannende ist doch was die Leute vor den Bildschirmen gut finden.
Und wenn ich sehe, was in der deutschen Jury immer so drin sitzt, dann interessierts mich schon dreimal nicht…
Sorry, aber Platz 12 ist nicht respektabel, denn damit ist das Finale klar verpasst. Warum man da das Publikum als irgendwie besser ansieht als die Jurys, ist zumindest mir schleierhaft (wir reden dabei explizit vom “Fall” Conan Osiris).
@Tamara: danke, korrigiert.