Obschon sich angesichts der Berichterstattung um das weißrussische Jury-Gate und die Unfähigkeit der EBU, einfachste Kontrollmechanismen gegen die menschliche Fehleranfälligkeit in ihren Punkteermittlungsprozess einzubauen, bislang noch gar keine richtige Post Eurovision Depression einstellen wollte, veröffentlichten gestern gleich zwei der in Tel Aviv teilnehmenden diesjährigen Acts neue Songs, wohl auch um musikalisch erst gar keine Entzugserscheinungen auftreten zu lassen. Interessanterweise verbindet beide Lieder eine Art wohltuender trotziger queerer Stolz. Der offen schwule französische Vertreter Bilal Hassani zeigt in ‘Jaloux’ (‘Eifersüchtig’) seinen Hatern den metaphorischen Mittelfinger: er zitiert in den Strophen aus den zahlreichen hasserfüllten Kommentaren, die seine bisherige Karriere inklusive der Grand-Prix-Teilnahme begleiteten und in denen ihm unter anderem der Tod gewünscht wird, und setzt ihnen im Refrain entgegen, dass ihre auf purem Neid hinsichtlich seines Erfolgs basierenden, verletzenden Worte ihm nichts anhaben können. “Ich werde meinen Kopf niemals beugen,” singt der junge, paradiesvogelhafte Youtube-Star. Das ist genau die richtige Einstellung! Und es kann niemals zu viele solcher Ermutigungslieder geben.
“Die Leute mögen dich nicht, weil du gut bist, sondern weil du eine Perücke trägst und schwul bist”. Dass alle drei Adjektive auf Bilal zutreffen, stellte er in Tel Aviv unter Beweis.
“Ich bin standfest, ich werde mich nicht beugen” verkündet auch der ebenfalls offen schwule palästinensische Künstler Bashar Murad in ‘Klefi / Samad’ (‘Zelle / Standfest’), einer ebenfalls gestern veröffentlichten Kollaboration mit den isländischen Eurovisionsrepräsentanten Hatari. Die sorgten vergangenen Samstag bekanntlich für Aufruhr, als sie während der Live-Sendung im Greenroom einen “Palästina”-Schal in die Kameras hielten und so den von der EBU und dem ausrichtenden israelischen Sender KAN während der Eurovisionswoche und der Show sorgsam totgeschwiegenen politischen Konflikt für wenige Sekunden ins mediale Bewusstsein brachten. Hataris Kostüme und das Setting legen die Vermutung nahe, dass der Clip für den Song während ihres Eurovisionsaufenthaltes entstand. Wie bereits ‘Hatrið mun sigra’ koppelt der Nachfolgetitel musikalisch zwei ziemlich unterschiedliche Parts: Hatari gröhlen in bekannt brachialer Weise auf isländisch von der eiskalten “Zelle” der gesellschaftlichen Einsamkeit, die uns in unserem modernen, individualistischen Einzelkämpferdasein umgibt, während Bashar Murad auf arabisch von Heilung, eigener Wertschätzung, dem Überstehen des Leids und dem unbedingten Willen singt, nicht klein beizugeben. Und das klingt hervorragend!
“Auf einer höheren Ebene, wertvoll, warm und geheilt”: Bashars Lyrics könnten aus einem Esoterik-Seminar stammen.
Bashirs Durchhaltewillen bezieht sich allerdings nicht nur auf seine Erfahrungen als queerer Künstler in einem überwiegend homophoben Umfeld. Wie eurovisionen.eu schreibt, sieht sich der in Ost-Jerusalem lebende Songwriter “als politischen Menschen und seine Musik als Beitrag zur Befreiung Palästinas. So hat er auch am in Bethlehem von den Boykottbefürwortern organisierten Gegenkonzert zum ESC, Globalvision, teilgenommen”. In einem Interview mit der kanadischen Zeitung The Globe and Mail anlässlich eines Musikfestivals in Toronto sprach Murad davon, “diesen politischen Druck” auf sich lasten zu fühlen und gleichzeitig die Erwartungen einer Gesellschaft, die ihn “auf eine bestimmte Weise” haben wolle. “All diese Dinge, die dir sagen, was du tun sollst, wo du hingehen darfst und wie du dich anzuziehen hast. Unsere Generation hat davon genug. Wir wollen unseren eigenen Weg gehen”. Klingt wie ein Statement, das auch von Bilal Hassani stammen könnte! Zum bisherigen Werk des Palästinensers gehört mit ‘Ana Zalameh’ (‘Ich bin ein Mann’) unter anderem ein Song, der sich mit den leider global vorherrschenden, strikten gesellschaftlichen Rollenvorgaben und ermüdenden Mann-Frau-Klischees auseinandersetzt und dafür von der UN ausgezeichnet wurde. Und der ist ebenfalls richtig, richtig gut.
Ob Herbert Grönemeyer, Conchita Wurst, Bilal Hassani oder Bashar Murad: alle, welche die erstickenden gesellschaftlichen Rollenvorgaben für Männer und Frauen thematisieren, sind meine Helden.
Wer auch für den anstehenden Sommer in Sachen PED-Substitution vorsorgen möchte, dem sei ein Besuch der Unescon empfohlen, die vom 28. bis 30. Juni 2019 in Hannover stattfindet. Grand-Prix-Stars wie die fantastische Şebnem Paker, die mit dem herausragenden ‘Dinle’ 1997 die mit Abstand schönste Phase des Eurovision Song Contests einläutete, nämlich die der Ethno-Disco, aber auch die letztjährige estnische Vertreterin Elina Nechayeva oder die maltesische ESC-Legende Chiara Siracusa treten dort in einer großen Gala zur musikalischen Live-Begleitung (!) des heimischen Orchesters im Treppenhaus auf. Ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Empfang, Meet & Greet, diversen Stadtführungen und der Teilnahme am Schützenausmarsch des zeitgleich stattfindenden Hannoveraner Volksfestes runden das Programm ebenso ab wie die im Anschluss an das Galakonzert terminierte Grand-Prix-Disco mit DJ Ohrmeister und der grandiosen Kaia Tamm, die mit ‘Wo sind die Katzen?’ beim Eesti Laul den memorabelsten Vorentscheidungsbeitrag der aktuellen Saison ablieferte. Günstige Gelegenheit: an diesem Wochenende gibt es die verschiedenen Ticketpakete mit 30% Nachlass. Da heißt es: schnell zuschlagen!
Alleine für sie lohnt sich bereits die Anreise: Kaia Tamm ist Stargast der Unescon-Grand-Prix-Disco.