Ist endlich das Ende der unsäglichen Jury beim Eurovision Song Contest in Sicht? Anlass zu leiser Hoffnung gibt eine Meldung von Wiwibloggs von gestern, die aus einem Interview der Unterhaltungschefin des spanischen Senders RTVE, Toñi Prieto, mit dem heimischen Nachrichtenportal vertele! zitiert. Nach ihrer Aussage habe die EBU verschiedene Eurovisionsdelegationen kontaktiert, um deren Meinung zum derzeitigen Votingverfahren bzw. möglichen Änderungen daran einzuholen. Genf wolle “wissen, wie wir das sehen. Ob man eine Jury haben muss, ob ausschließlich per Jury oder nur durch das Publikum” abgestimmt werden solle, so Prieto. Das aktuelle 50/50-Verfahren geriet zuletzt wieder beim diesjährigen Wettbewerb in Kritik. Nicht nur, dass – nicht zum ersten Mal seit der Wiedereinführung der Jury im Jahre 2009 – dem klaren Sieger im Televoting, dem norwegischen Trio Keiino, aufgrund einer massiven Abwertung durch die “Profis” die Krone vorenthalten blieb: auch die Juryfavoritin Tamara Todevska aus Nordmazedonien konnte sich in der Gesamtwertung nicht durchsetzen, so dass mit Duncan Laurence aus den Niederlanden ein Teilnehmer gewann, der weder beim Publikum noch bei den Jurys führte.
Was für ein Arsch: der anmutige Duncan war trotz vollen Körpereinsatzes am Ende nur Verlegenheitssieger.
Dazu kamen gleich mehrere (!) Skandale bei der Ermittlung der Jurystimmen: da der EBU bei der Zusammenstellung des virtuell errechneten Ersatzergebnisses für die noch vor dem samstäglichen Eurovisionsfinale suspendierte weißrussische Jury ein Reihungsfehler unterlief, erhielten dort nicht die zehn besten Länder Punkte, sondern die zehn schlechtesten. Was zur Folge hatte, dass in der Live-Show anstelle von Tamara Todesvka fälschlicherweise der Schwede John Lundvik zum Jurysieger ausgerufen wurde. Noch gravierender: wie sich im Nachgang herausstellte, hatten bereits in den Semis einzelne Jurorinnen ihr Voting falsch herum abgegeben, was dem polnischen Damenquartett Tulia den eigentlich zustehenden Einzug ins Finale kostete. Auffälligkeiten und Ungereimtheiten im Jury-Voting säumen seit jeher den Weg dieses Gremiums, befördert unter anderem durch die Nachlässigkeit der EBU, die es an einer effektiven Überwachung mangeln lässt, aber auch durch die geringe Personalstärke von nur fünf Menschen pro Länderjury, was die Anfälligkeit für versehentliche wie beabsichtigte Votingfehler sowie für ein gleichförmiges Abstimmungsverhalten deutlich erhöht.
Das Einlaufen in umgekehrter Reihenfolge scheint nicht nur bei der Deutschen Bahn ein unlösbares Problem: auch die ESC-Juror:innen stellen ihre Wertung gerne mal auf den Kopf. 2019 wurde Polen zum unbeabsichtigten Opfer dieses Faux-pas.
Denn nicht nur, dass der technische und finanzielle Aufwand zur Bestechung von fünf Einzelpersonen deutlich geringer ausfällt als für die Verzerrung des Televotings durch Callcenter oder mit Guthabenkarten ausgestatteten Fanclubs; die Juror:innen sitzen bei der Stimmabgabe während des Juryfinales ohne jegliche Außenüberwachung gemeinsam in einem Raum und können sich problemlos untereinander absprechen. Und so nimmt es nicht Wunder, dass es immer wieder zu verdächtig uniformen Abstimmungen innerhalb der einzelnen Länderjurys kommt. Auch gegen politisch gefärbtes Voting wie absichtlichen letzten Plätzen für Kriegsgegner (z.B. Aserbaidschan und Armenien) oder absichtlich ersten Plätzen für enge Verbündete (z.B. Zypern und Griechenland) scheint kein Kraut gewachsen. Was Wunder, werden die Juror:innen doch von den öffentlich-rechtlichen Sendern ihrer Heimat bestimmt und tun im eigenen Interesse gut daran, die Staatslinie mitzutragen. Dass die EBU nun (angeblich) den Fortbestand dieses Gremiums evaluiert, könnte auch daran liegen, dass dessen Abstimmungsverhalten durch die zugespitzte Ergebnispräsentation im Finale, bei der nun scheinbar Jury und Publikum gegeneinander abstimmen, ein besonderes Augenmerk zukommt.
Konnte nicht auf viel Liebe seitens der armenischen Jury rechnen: der schöne Chingiz.
Denn dadurch, dass die 40+ nationalen Punktesprecher:innen zunächst in der bekannt langwierigen Live-Schalte einzeln ihre Länderstimmen durchgeben, die alleine auf dem Plazet der Jury basieren, während die Publikumspunkte im zweiten Teil der Präsentation pro Lied zusammengerechnet werden und damit in einer anonymen, europaweiten Masse untergehen, fokussiert sich die öffentliche Wahrnehmung, welches Land welchem Nachbarn diesmal wieder die Douze Points zugeschanzt hat, alleine auf die Jurys. Und die betreiben das Blockvoting, zu dessen Abschaffung sie eigentlich installiert wurden, mindestens genau so schamlos wie das Publikum, wenn nicht sogar intensiver. Dass nun jedoch ein spanisches Delegationsmitglied öffentlich über eine (offiziell nicht bestätigten) Neujustierung des Juryverfahrens spekuliert, lässt allerdings noch eine andere Deutung offen: dass es sich nämlich die EBU nicht weiter mit den fünf Hauptzahlerländern verscherzen möchte, die seit der Einführung der Big-Five-Regelung meist sehr weit hinten in der Tabelle landen (mit Ausnahme Italiens: aber ausgerechnet dieses meist sehr stark mit Jury-Liebe überschüttete Land brachten die “Professionellen” im Jahre 2015 um den Sieg, als sie die klaren Publikumslieblinge Il Volo massiv heruntervoteten).
Einer der wenigen 2019er Beiträge mit einem messbaren Puls: der Spanier Miki mit ‘La Venda’. Das missfiel den Jurys natürlich.
Spaniens letzter Repräsentant Miki Núñez hingegen, der mit seinem peppigen Mitklatschschlager ‘La Venda’ und seinem etwas überladenen Bühnenbild vom Publikum zumindest noch ins Mittelfeld gewählt wurde (Rang 14 im Televoting), erhielt in Tel Aviv gerade mal ein (!) Mitleidspünktchen von den Jurys und landete im Gesamtranking auf einem beschämenden 22. Platz. Das seit seiner Erstteilnahme im Jahre 1961 vonseiten der Jury stets sträflich unterbewertete Land, das kulturell bedingt eher zum uptemporären Liedgut neigt und über einen besonders ausgeprägten Sinn fürs Dramatische verfügt, leidet naturgemäß besonders stark unter den allem all zu Fröhlichen oder Leidenschaftlichen abholden, vertrockneten alten Spassbremsen, welche die Jurys in großer Mehrzahl bevölkern. Insofern bleibt Vorsicht angeraten, ob es sich bei der Äußerung von Frau Prieto nicht gar um bloßes Wunschdenken handelt. Deutschland, das ausgesprochen gerne vollkommen Unauffälliges schickt und dafür vom Publikum meist die Rote Laterne kassiert, profitiert tendenziell eher von den grauen Staubmäusen unter den Juror:innen, die musikalische Beruhigungspillen präferieren: so erhielten die Sisters 24 Punkte von ihnen, aber (gerechterweise) Nul Points aus dem Televoting.
Tired of always losing: das scheint im Falle des NDR eine bloße Schutzbehauptung.
Der NDR fiel bislang daher nicht unbedingt mit Kritik an der Jury auf, obwohl gerade hierzulande das stimmliche Missverhältnis zwischen den meist um einer Million Anrufer:innen und nur fünf willkürlich ausgewählten Juror:innen so krass ausfällt wie in keiner anderen ESC-Nation (für Rechenfaule: der persönliche Geschmack des 2019er Jurymitglieds Nico Santos zählt also genau so viel wie der von zweihunderttausend [!] Normalsterblichen). Mit gravierenden Änderungen am Abstimmungsverfahren oder gar einer vollständigen Abschaffung des Manipulationsinstrumentes braucht man daher wohl eher nicht rechnen. Auch die Chancen auf eine Vervielfachung der Anzahl der Jurymitglieder:innen, von ESC-Fans gerne vorgeschlagen, um die Abstimmungsergebnisse der auch von ihnen oftmals als notwendiges Korrektiv zum horriblen Publikumsgeschmack begriffenen “Professionellen” auf eine etwas breitere Basis zu stellen und weniger anfällig für Bestechung zu machen, dürfte aus Kostengründen wenig Aussicht auf Erfolg haben. Für kleinere, ärmere Nationen nämlich bedeutet jedes weitere Delegationsmitglied, für welches Flüge und Hotelzimmer gebucht werden müssen, eine nicht mehr schulterbare finanzielle Mehrbelastung.
Statt fünf Juror:innen künftig ein Mehrfaches auf Senderkosten zum ESC karren? Da singt das sanmarinesische Fernsehen vermutlich eher “Say no no no”.
Bliebe noch, die Jurys nicht mehr vor Ort, sondern zu Hause abstimmen zu lassen. Dann aber hätte die EBU keine Möglichkeit mehr, das Zustandekommen der Ergebnisse zu überwachen. Im Falle Aserbaidschans oder Weißrusslands dürfte das “Jury-Voting” dann wohl direkt aus dem Regierungspalast kommen. Leichter umzusetzen bliebe eine neue Gewichtung, ebenfalls eine von Fans gerne vorgebrachte Forderung. Warum nicht das Televoting zu zwei Dritteln ins Gesamtergebnis einfließen lassen statt wie bislang nur zur Hälfte? Wobei theoretisch jedwede Skalierung von 55 bis 95% denkbar wäre und die Diskussionen um das rechte Maß, je nach persönlichem Geschmack, erbittert ausfallen könnten. Und wo das Televoting in der Sendung ohnehin nur noch als Gesamtsumme einfließt, bliebe schließlich noch Raum für die Idee, dieses europäischer zu gestalten und die Anrufe / SMS zwar weiterhin getrennt nach Ländern zu erfassen, um die Voten für den eigenen Beitrag herauszufiltern, die bereinigten Stimmen dann aber sofort zusammenzurechnen und nur einmalig in Punkte umzuwandeln statt wie bislang 40+ mal. Denn natürlich verzerrt auch die aktuelle Zählweise, bei der eine Million SMS aus Deutschland und – um mangels Kenntnis willkürlich eine Zahl zu erfinden – 400 aus Tschechien gleichberechtigt nebeneinander stehen, das Ergebnis. Was meint ihr?
Europa als Ganzes ist deutlich größer als die Summe seiner Nationalstaaten. Singt ausgerechnet das EU-abtrünnige Vereinigte Königreich.
(Übrigens, falls hier jemand vom NDR oder der EBU mitlesen sollte: hier finden sich gleich vier Ideen zur Optimierung des Televotings. Dürft Ihr selbstredend kostenlos nutzen, gerne geschehen!)
Interessant, dass niemand für reines Juryvoting oder wenigstens mehr Jurygewichtung abgestimmt hat.
Weil jeder weiss, dass dann mehr als 50% des Finales aus grauenhaften Whitney Houston Gedächtnisnummern bestehen würde?
Meine persönlichen Verschwörungstheorien für die Wiedereinführung der Jurys:
1. Um einen nochmaligen Sieg des Klassenfeindes zu verhindern
2. Den ESC zeitgemäßer zu machen, also alles folkloristische/landestypische/eurotraschige/poperaige abzuwerten
3. Den großen Musiklabels eine passende Bühne für Ihren x‑Faktor Schrott zu bieten
😉
So gern ich würde, kann ich leider keiner von Thomas’ Verschwörungstheorien widersprechen. Ob absichtlich oder nicht, läuft da etwas bei den Juries entschieden falsch, wenn in der Masse der unspannend-angepasste Radiopop gefördert wird, während gewagte Beiträge, die das Feld eindeutig bereichern, abgestaft werden.
Da aber die Anrufer mitunter auch nur sehr bedingt das richtige Händchen beweisen (kann nicht behaupten, dass ich Spirit in the Sky für ESC-Gold halte), wäre ich lediglich für eine Jury aus Journalisten. Sind doch sowieso aus aller Herren-Länder vor Ort, womit vielleicht sogar die Anzahl der Juroren leicht erhöht werden könnte.
Dass System dass zu 100 % perfekt ist wird man glaube ich nicht finden, von daher ist die aktuelle Mischung der beste Kompromiss meiner Meinung nach.
Ich hätte ja gern “Das Publikum hat keinen Geschmack: Ich bin für reines Televoting” ausgewählt.
Ausgerechnet den in jeder Hinsicht katastrophalen spanischen Beitrag als Argument gegen Juries zu benutzen, ist eher kontraproduktiv.
Man sollte meiner Ansicht nach etwas an den Juries feinjustieren (nicht mehr alle 26 Songs ranken, ev. etwas weniger Gewicht als Televote). Im grossen und ganzen funktioniert die Kombination der beide Wertungen gut; auch wenn nicht immer mein Favorit gewonnen hat, hat seit Dima Bilan kein Schrott-Song gewonnen. Die bekannt vorhersehbaren Ergebnisse (Griechenland-Zypern; Russland und Satelliten) wirds bei jedem Modus geben und das Televote-Problem Türkei hat sich ja erst einmal erledigt.
@Thomas, @Mareike Kaa: Ich habe diesen Beitrag erst jetzt gesehen und konnte daher vorher nicht für die reine Jury-Wertung stimmen, die ich seit 1997 schmerzlich vermisse. Interessant, dass immer wieder argumentiert wird, die Juries haben dem Publikumsliebling den Sieg “gestohlen”. Ich sehe es regelmäßig anders, der Pöbel “stiehlt” den durch Experten bestimmten Sieger. Auch die zahlenmäßige Aufrechnung eines Jurymitglieds gegen eine bestimmte Anzahl von Zuschauern leuchtet mir nicht ein. Hat nicht auch ein Hochschulprofessor mehr Ahnung als seine zahlreichen Studenten? Mich stört vor allem und immer schon, dass jeder Zuschauer abstimmen darf, sogar mehrfach, auch wenn er (oder sie) längst nicht alle Beiträge gesehen hat. Da traue ich den Juroren ungleich mehr Kompetenz zu.
@Euroklaus
Klar, am besten führen wir auch noch das Orchester wieder und die Sprachenregelung wieder ein und schwupps sind wir wieder in den Neunzigern als Irland und Großbritannien ständig die ersten beiden Plätze besetzt haben weil sie als einzige auf Englisch singen durften auch wenn ihre Titel noch so mies waren. Ne, da habe ich wirklich keinen Bock drauf!!
@ toto: Ja,ganz ohne Ironie, das wäre wirklich mein Traum. Ich fand die ESCs Anfang der 1990er tatsächlich sehr schön und sehe sie mir heute noch gern an. Die Zeit geht weiter, das ist mir klar, aber man wird ja noch träumen dürfen 😉
Dann träum schön weiter, für mich und viele andere wäre dass ein völlig unnötiger Rollback und Albtraum.
@Euroklaus
die gängige Argumentation wer wem den Sieg stiehlt umzudrehen finde ich ja mal ganz erfrischend.
Das ganze so rum zu sehen ist mir noch nie in den Sinn gekommen!
Ich hätte noch einen Vorschlag für das Voting:
Die Halbfinals als reines Televote und die Jurys nur beim Finale dazunehmen.
Wieder einmal ein sehr guter und treffender Artikel, vor allem mit Hinblick auf die meisten deutschen Beiträge der letzten Jahre. Vielen Dank.
Ich bin beim ESC auch eher für das reine Televoting. Nur bei einer deutschen VE funktioniert Televoting eher weniger. Das ARD-Publikum wählt doch (fast) immer zielsicher den langweiligsten Beitrag aus. In den meisten VE’s hätte es durchaus erfrischende Alternativen gegeben. Deshalb wäre ich in diesem Fall durchaus für eine Direktnominierung, zumindest für 2020. Dann aber bitte nicht mit älteren Herrschaften vom NDR, sondern mit einer mindestens 100köpfigen ESC-Jury, möglichst unterschiedliche Altersklassen. Sorry, ich schweife ab, aber das Thema treibt mich im Moment echt um.
P. S. Spanien ist natürlich schon oft unterbewertet worden, volle Zustimmung, Allerdings fand ich Mikis Auftritt nicht sehr gelungen. Mit stimmigerem Staging hätte er bestimmt noch ein paar Plätze gutmachen können.