‘Shaj’ (‘Schrei’), so heißt der albanische Eurovisionsbeitrag für den Eurovision Song Contest 2020 in Rotterdam. Und genau so klingt er. Dass man in Tirana nach dem letztjährigen, zaghaften Experiment mit einem moderat aufgefrischten Festivali i Këngës wieder zum klassischen Format mit verpflichtender Orchesterbegleitung und ausschließlichem Juryentscheid zurückkehrte, wies bereits den Weg: folgerichtig wählte man auch beim Beitrag ein altbekanntes Konzept, nämlich das der dissonant kreischenden Frau. Die heißt heuer Arilena Ara, stammt (wie Rona Nishliu) gebürtig aus dem Kosovo und gewann 2013 die Castingshow X‑Factor. Die dort gelernten Lektionen beherzigte sie denn auch bei ihrem siegreichen FiK-Auftritt: es kommt nicht darauf an, sauber zu intonieren oder sich emotional involviert zu zeigen. Hauptsache, du schreist möglich lange und möglich laut, um die Juror/innen zu beeindrucken. Arilenas vom mazedonischen Songschreiber Darko Dimitrov (‘Proud’) rein auf Oberfläche hin komponierte Stangenware-Ballade bot ihr dazu das perfekte Vehikel. “Ein ‘Icebreaker’, der gerne ‘Suus’ sein möchte” fasste im ESC-Nation-Chat ein Mitkommentator das Wesen der völlig steril bleibenden Nummer sehr treffend zusammen, die jedoch sowohl im Kongresszentrum von Tirana als auch in den Fan-Foren auf großen Applaus stieß.
Nicht für das Leben, sondern für die Prüfung lernen wir: Arilena Ara drückte bei den Juror/innen erfolgreich alle Knöpfe.
Die Interpretin mit dem Papageiennachnamen ließ bereits durchblicken, dass sie ihren weniger als dreiminütigen Beitrag in Rotterdam höchstwahrscheinlich auf englisch unter dem Titel ‘Curse’ zum Vortrage bringt, und das könnte im vorliegenden Falle (anders als eben bei ‘Suus’) egaler nicht sein, denn zusätzliche Glaubwürdigkeit kann der Song nicht mehr verlieren. Ara lieferte sich in der Beliebtheit bei den Fans und dem Saalpublikum bis zum Schluss ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der letzten Endes leider nur Zweitplatzierten Elvana Gjata, die ihren rundheraus fabulösen Ethno-Disco-Schlager ‘Me tana’ mit Aplomb und einer perfekt durchgetakteten Tanzchoreografie ablieferte, bei der sie – wie fast alle ihrer Kolleg/innen, die auf dieses Element setzten – einen FiK auf die beim “großen” ESC noch immer bestehende, steinzeitliche Sechs-Personen-Beschränkung gab. Bravo! Interessanterweise stimmten, wie die Kollegen von ESC kompakt recherchierten, die drei Nicht-Skipetaren innerhalb der alleine entscheidungsberechtigten, fünfköpfigen internationalen Jury geschlossen für den Uptemposong: der Mello-Chef Christer Björkman, der griechische Komponist Dimitris Kontopoulos (‘You’re the only one’) und der isländische Delegationsleiter Felix Bergsson vergaben allesamt die Höchstpunktzahl an Elvana, die jedoch tragisch an einem gezielten Strafvoting ihrer Landsfrau Mikaela Minga scheiterte.
https://youtu.be/PQyXHhB8xMM
Ein rotes Tuch für alle Uptempo-Hasser/innen: Elvana Gjata.
Am Beispiel der 32jährigen, die erst diesen Sommer mit der Ardian-Bujupi-Kollaboration ‘Meine Liebe’ einen deutschsprachigen Mini-Hit in der Schweiz landete, können wir übrigens lernen, wie Gruppendynamik funktioniert. Da ihre Hauptkonkurrentin Ara zuvor aufgrund des anhaltenden Saalapplauses nochmals auf die Bühne geholt wurde und ein paar Worte sagen durfte, befand es auch Elvana für erforderlich, schwer atmend von ihrer anstrengenden Darbietung ein paar Belanglosigkeiten ins Mikrofon abzusondern, um ihren Status als Mitfavoritin zu unterstreichen. Wobei: nach Ara taten das alle. So zum Beispiel die 45jährige Albërie Hadërgjonaj, die sich mittels eines in ihre Jonida-Maliqi-Perücke gesteckten metallenen Heiligenscheins und einer um die Brust drapierten Goldfolie jahreszeitlich stimmig als Marienerscheinung fürs Krippenspiel kostümierte, dank ihres äußerst fahrigen Gesangsvortrags und außer Kontrolle geratener Mimik jedoch den Eindruck erweckte, sie trage das Ding vielleicht doch eher, um damit Stimmen aus dem All zu empfangen. Albërie beendete ihren Song – neben einem völlig verkrächzten Schlusston – ebenfalls mit einem kleinen Monolog. Die nach ihr und Elvana auftretende FiK-Rückkehrerin Olta Boka und die herrlich durchgeknallte Era Rusi schlossen sich dem an. Eigentlich hätte die RTSH-Sendeleitung aus Gründen der Fairness an dieser Stelle die fünf ersten Starter/innen des Abends erneut auf die Bühne holen müssen, um ihnen ebenfalls die Chance einzuräumen, ein albernes Statement abzugeben.
https://www.youtube.com/watch?v=c‑vJJayppB0
Achten Sie mal auf die Nase: entweder leistete der Schönheitschirurg kompletten Pfusch oder Albërie muss mit dem Koksen etwas kürzer treten.
Doch in punkto Labern machte niemand der aus vielerlei Gründen bemerkenswerten Gastgeberin dieses Jahrgangs, Alketa Vejsu, etwas vor. Die in Tirana geborene TV- und Radiomoderatorin, deren offensichtlich selbst verfasster Wikipediaeintrag mit der denkwürdig blumenreichen Einleitung “Sie wuchs in einer liebevollen Familie auf, in der ihre Eltern mit ihrer Liebe zur Kunst und Schönheit ‘gesündigt’ hatten und glaubten, dass gute Dinge kommen, wenn Sie sich entscheiden, Ihren Träumen und Ihrer Leidenschaft nachzugehen” beginnt und danach nicht weniger schambefreit weitergeht, trug an den drei Abenden wenigstens fünfzehn verschiedene Modekreationen zur Schau, die von spektakulär bis Augenkrebs reichten; konnte minutenlang stakkatoartig reden, ohne auch nur einmal Luft holen zu müssen; parlierte in flüssigem Italienisch mit Stargästen wie Mahmood (erstes Semi) oder der vielfachen San-Remo-Teilnehmerin Giusy Ferreri; sang selbst etliche Duette und Solonummern und hielt im Finale eine gefühlt fünfundvierzigminütige, von trauriger Streichermusik unterlegte, hochgradig pathetische Ansprache über die Lage der Nation oder die Kraft der Liebe oder was sonst immer. Schließlich unterstellte die albanische Marlène Charell dem Jurymitglied Christer Björkman mehrfach fälschlich, dieser sei für die Produktion des aktuellen ESC verantwortlich, und bewarb sich bei ihm öffentlich um die Moderation des europaweiten Wettbewerbs.
https://www.youtube.com/watch?v=F5zicMXxw7s
Achten Sie mal auf den Donald-Trump-“Grab-her-by-the-Pussy”-Moment am Ende des Songs: die fabelhafte Era Rusi und ihre drei Me-Too-Tänzer.
Was der sichtlich unangenehm berührte Schwede mit der zutreffenden Bemerkung parierte, dazu müsse Albanien erstmal den Grand Prix gewinnen. Nun, die Gefahr besteht mit dem gestern ausgewählten Song sicherlich erstmal nicht. Danke für den Bärendienst, Frau Minga!
Vorentscheid AL 2020
Festivali i Këngës 58. Sonntag, 22. Dezember 2019, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Alketa Vejsu.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Valon Shehu | Kutia e Pandorës | 23 | 09 |
02 | Sara Bajraktari | Ajër | 50 | 03 |
03 | Robert Berisha | Ajo nuk është unë | 18 | 10 |
04 | Tiri Gjoci | Me gotën Bosh | 23 | 08 |
05 | Bojken Lako | Malaseen | 45 | 04 |
06 | Arilena Ara | Shaj | 67 | 01 |
07 | Gena | Shqiponja e lirë | 18 | 11 |
08 | Kamela Islamaj | Më ngjyros | 35 | 06 |
09 | Albërie Hadërgjonaj | Ku ta gjej dikë ta dua | 27 | 07 |
10 | Elvana Gjata | Me tana | 64 | 02 |
11 | Olta Boka | Botë për dy | 17 | 12 |
12 | Era Rusi | Eja merre | 43 | 05 |
Mal wieder eine schrill schreiende Frau für Albanien. Das ist…
- …ermüdend. Langsam wäre es mal Zeit für ein neues Konzept. (33%, 15 Votes)
- …Quatsch, denn von “schrill” kann hier keine Rede sein. Das ist eine schöne, sauber gesungene Qualitätsballade und ich mag die. (33%, 15 Votes)
- …ein enttäuschender Start in die neue Saison. Es kann nur besser werden! (33%, 15 Votes)
- …clever, denn meistens funktioniert das ja. Vor allem bei den Jurys. (0%, 0 Votes)
Total Voters: 45
Lieber Oliver,
ich liebe deine Seite und freue mich, dass es mit der nun beginnenden Saison demnächst wieder mehr “liebevoll bösartige” Artikel zu lesen geben wird 😉
Aber in zwei Punkten muss ich auch mal “bösartig” werden…
Deine Kollegen von ESC-Kompakt stellen doch dar, dass gerade die internationale Jury eben Elvana Gjata bevorzugt hat (hätte ich übrigens auch). Also, die sind nicht schuld am Ergebnis.
Und ich stelle immer wieder fest, dass der Autor ein Hasser von Live-Musik ist 😛 Es funktioniert nicht bei jedem Lied, das ist klar. Aber ich finde es fast ein wenig erschreckend, dass uns Jahr für Jahr ausgerechnet Albanien (na gut, auch Italien) zeigen muss, dass man Popmusik sehr wohl LIVE spielen kann!
LG Andreas
Lieber Andreas,
herzlichen Dank für den Hinweis. Das war mir zu dem Zeitpunkt, als ich den Artikel schrieb, noch nicht bekannt. Ich habe es im Text in der Zwischenzeit auf den aktuellen Stand gebracht.
Dass ich ein Live-Musik-Hasser sei, muss ich aber zurückweisen. 🙂 Songs mit Orchesterbegleitung können absolut toll klingen. Das hat ja auch der fantastische Event von Dr. Eurovision im Sommer in Hannover bewiesen. Aber eben: es funktioniert nicht mit jedem Genre, und ich finde es blöde, wenn durch einen Orchesterzwang ein Teil potentieller ESC-Beiträge von vorne herein ausgeschlossen wird.
Außerdem sind die Interpret/innen so auch darauf angewiesen, dass die Zusammenarbeit mit dem Orchester klappt. Das ist beim FiK nicht so sehr das Problem, das RTSH-Orchester liefert wirklich hervorragende Arbeit. Aber ich erinnere mich mit Grausen an etliche alte ESC-Jahrgänge, wo unfähige Orchester etliche tolle Titel massakrierte, wie z.B. ‘Ein Lied kann eine Brücke sein’.
Lieben Gruß, Oliver
Hallo Oliver,
nun gut, wenn man den Applaus nach dem Auftritt der Siegerin hört, ist das Ergebnis wohl gerechtfertigt – auch wenn mir Elvana natürlich um Längen besser gefällt.
Tut mir leid, aber die Spitze mit dem Orchester musste sein 😉 Aber der Chronist – also du! – hat recht: es gibt Nummern, da funktioniert es einfach nicht. Spontan fällt mir der spanische Beitrag 1993 ein…
Frohe Weihnachten!
Andreas
Mit “steril” hat der Hausherr das Liedchen treffend beschrieben. Wieder mal ein X‑Factor-Sternchen, das glaubt, ein großer Star zu sein. Deswegen gibt es auch die englische Version in Rotterdam, die dann niemanden interessiert. Allerdings kommt selbst bei “Shaj” die albanische Sprache nicht richtig zur Geltung kommt. Die Stimme gefällt mir nicht sonderlich. Schade, vertane Chance.…
Albanien 2 von 10 Punkten
Wo soll ich anfangen? Einige meiner Exen (sagt man das so?) aus dem lateinamerikanischen Raum haben mir folgendes erzählt: wenn man an einer Bushaltestelle auf den Bus wartet, der um 16:45 Uhr kommen soll, dann ist es unwahrscheinlich, dass er auch um diese Zeit kommt. Man muss damit rechnen, dass der Bus vielleicht erst um 17 Uhr kommt und das vielleicht 30 Meter entfernt von der Haltestelle…
In Albanien scheint es ja ganz ähnlich zu laufen. Die Werbung vor den beiden Halbfinalen war ja echt eine Folter. Wer hätte gedacht, dass das Finale nur mit 5 Minuten Verspätung startet?
Ich kann Arilena nur alles Gute wünschen, aber Elvana nicht gewinnen zu lassen, ist für mich eine der katastrophalsten Fehlentscheidungen der letzten Jahre. Und das Orchester hat den Song wirklich phänomenal gespielt!
Das zeigt einmal mehr, dass Albanien dringender denn je eine Telefonabstimmung braucht. Unbegreiflich, wie wenig die Verantwortlichen das erkennen. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Zuschauer davonlaufen.
Netter Song, aber auch nicht mehr. Ich habe beim Hören die ganze Zeit auf irgendeinen Ausbruch gewartet, nur kam der leider nicht. Für mich persönlich ist der Song zu linear vom Aufbau her, und sollten nicht die üblichen Verdächtigen im selben Semi sein die regelmäßig Punkte an Albanien verteilen sehe ich dieses mal schwarz für den Finaleinzug, und wenn der Song dann wirklich auch noch anglisiert wird dann bin ich endgültig raus.