Gefühlt deutlich später und zähflüssiger als in vorangegangenen Jahren nimmt die Vorentscheidungssaison 2020 nun doch langsam Fahrt auf: die ersten beiden Samstage mit parallel laufenden Auswahlrunden liegen hinter uns, wenngleich es sich lediglich um Semis beziehungsweise Nachwuchswettbewerbe handelte. Nichtsdestotrotz können wir bereits zum jetzigen Zeitpunkt den Banjo-Laura-Preis für die dümmste und kriminellste Fehlentscheidung des gesamten Jahrgangs verleihen, und zwar an die litauischen Juror/innen. Der Sender des Baltenstaates, LRT, verpasste der dortigen Vorentscheidung zwar heuer den hoffnungsvoll-trotzigen Untertitel Pabandom iš naujo! (Lass es uns nochmal versuchen!). Viel Neues ließ sich aber bislang nicht finden: wie gewohnt liegt die Dichte an offensichtlich Bekloppten mit völlig abwegigen Beiträgen in der Nacionalinė Atranka exzeptionell hoch. Hurra! Zu ihnen zählt das skurrile Herrenquartett Twosome, das bereits 2019 im heimatlichen Viertelfinale punktelos ausschied und es diesmal skandalöserweise nicht über die Vorrunde hinaus schaffte. Dabei steuerten die Parodisten mit dem Titel ‘Playa’ den infektiösesten Gute-Laune-Ohrwurm der Saison bei, bestehend aus einer erquicklich an Pasha Parfenys ‘Lăutar’ erinnernden kleinen Melodie; der sensationell sinnbefreiten Hookline “I’m a Lithuanian Basketball Player”; doppelten Handklatschern, bekanntlich stets ein Zeichen für musikalische Qualität, sowie allerlei albernen Bühnengimmicks wie beleuchteten Jacken und einem inszenierten Violinenunfall.
Schön, dass die Litauer dem Gedanken des Recyclings so sehr huldigen: beim Abschmücken des Christbaums kam den beiden Twosome-Frontmännern die Idee für ihr Bühnenoutfit.
Die Lyrics von ‘Playa’ preisen selbstlobend die Qualität des Songs als Scheiß-drauf-ESC-ist-nur-einmal-im-Jahr-Seelentröster-Nummer an: bist Du traurig, so heißt es in der ersten Strophe, stimmt er dich fröhlich. Und wenn du schon gute Laune hast? Dann erst recht: “Wen schert schon die Strophe?”, so die dichterisch versierten Jungs, “jetzt kennst du den Song und kannst mitsingen, denn das macht Spaß”. Und wie! Das sahen auch die litauischen Televoter/innen so, die ihn zu Recht weiterwählten. Ein Null-Punkte-Strafvoting (!) der Arschkrampen Wichser Vollhonks Spaßbremsen von der Jury machte jedoch einen Strich durch die Rechnung. Was natürlich bedeutet, dass Litauen in diesem Jahr automatisch auf dem letzten Platz im aufrechtgehn.de-Ranking steht, völlig unabhängig davon, welchen Song sie in Vilnus nun noch auswähen. Bei so was bin ich nachtragend. Dass während der siebenwöchigen Atranka-Saison die Insass/innen der Psychiatrien Freigang haben, stellten noch weitere Acts unter Beweis. So zum Beispiel eine zahnlückige Sängerin mit Namen Abrokenleg, die sich zu einem gar nicht mal so schlechten Elektro-Poprock-Track mit aufgerissenen Augen und verdrehter Betonung einen ‘Electric Boy’ zum Freund wünschte. Vermutlich als Begleiter bei der Elektroschocktherapie.
Welche Internetseite man via des auf das Bühnenoutfit aufgedruckten QR-Codes erreicht, habe ich mich nicht getraut, auszuprobieren. Weil Litauen.
Einen “Plastic Boy” begehrte stattdessen ihre Kollegin Donata Virbilaitė in der ersten Vorrunde der Atranka. Genauer gesagt: eine lebensgroße Figur ‘Made of Wax’ von Madame Tussaud. Klar: die gibt nun mal deutlich weniger Widerworte als so ein echter Mensch aus Fleisch und Blut. Vielleicht kann Donatas Krankenkasse ja eine Wachspuppe springen lassen, für den höchstwahrscheinlichen Fall, dass auch eine langjährige Therapie bei ihr nichts nützt.
Auch Donata huldigte dem Recycling und schneiderte sich aus einer alten Regenplane ein hautenges Kleid auf die drallen Kurven.
Mehr Hoffnungen hege ich für Lukas Norkūnas, denn die Einsicht des Patienten, dass er unter einer geistigen Störung leidet, bildet bekanntlich den Grundstock einer erfolgreichen Behandlung. Und die Einsicht scheint bei dem kajalumkränzten Sänger vorhanden, schließlich lautete der Titel seines Beitrags schuldbewusst ‘Atsiprašyk’ (‘Tut mir leid’). Sollte es ihm auch, so wie er während seiner drei Minuten herumsprang und sich wild schüttelte, als müsse er sich von inneren Dämonen befreien. Was ihm offensichtlich nicht gelang, da im Verlaufe seines Auftrittes mehrere völlig unterschiedliche Stimmen von ihm Besitz ergriffen und versuchten, an die Oberfläche zu drängen. Schade, dass keiner seiner mindestens vier Persönlichkeiten in der Lage war, die Töne auch nur annähernd zu treffen. Wobei selbst ein fehlerfreier Gesang seine wirre Nummer nicht erträglicher gemacht hätte. Auch vor Lukas scheint also noch ein langer, steiniger Weg zu liegen.
Sieht ein bisschen aus wie Chingiz Mustafayev nach langjährigem Drogenkonsum. Und klingt auch so: der Lukas.
Zeitgleich mit Litauen starteten vorvergangenen Samstag die Vorrunden des norwegischen Melodi Grand Prix. Anlässlich dessen sechzigjährigen Jubiläums hatte sich der veranstaltende Sender NRK heuer entschlossen, dem sonst stets einzügigen MGP gleich fünf regionale Vorrunden (Nord, Ost, Süd, Mitte, West) voranzustellen, in denen jeweils vier Kandidat/innen in nach dem Vorbild der schwedischen Andra Chansen gestalteten Zweier-Sing-Offs im K.O.-Verfahren um einen Platz im Finale kämpfen. Zwei dieser Regioduelle liegen nun hinter uns, und die bislang präsentierten Beiträge lassen erahnen, warum der norwegische Sender sich bislang immer nur auf eine Sendung beschränkte. Immerhin glänzten beide der bisherigen Vorrunden jeweils mit einem eigenen äußerst tragisch Veranlagten: im ersten Semi repräsentiert durch Kim Rysstad, bei dem selbst der gepflegt-gestutzte Wikingerbart es nur noch offensichtlicher machte, und der sich mit stets den richtigen Ton um mehrere Noten verpassendem Tremolo und schwebendem Händchen durch seinen ausgesprochen klassisch konstruierten Schmachtfetzen ‘Rainbow’ kämpfte. Über den sich immerhin zwei positive Dinge sagen lassen: nämlich erstens, dass er über eine amtliche Rückung verfügt.
Als trete er im Why not von Trølleborg auf, ca. 1977: Kim Reichsstadt besingt – was sonst – den Regenbogen.
Und zweitens, dass er in Sachen Fremdscham nicht ein Sechzehntel so peinlich wirkte wie sein Kollege Tore Petterson, der im kanariengelben Frack mit schwarzem Revers und zweireihiger Weste auftrat und herumgestikulierte, als sei er der verheimlichte Sohn von Liberace und Phillip Kirkorov. Ihm gelang das beinahe unglaubliche Kunststück, noch konsequenter und meilenweiter an jedem einzelnen Ton vorbeizusingen als Kim, womit er seiner Refrainzeile “This could be the Start of something new” einen herrlich ironischen Biss verlieh. Denn wenn sein Beitrag, der sich nur als eine Muscial-Nummer von einer derartigen Verstaubtheit beschreiben lässt, dass er selbst als Bordunterhaltung auf einer ausschließlich von sedierten Rentner/innen bevölkerten Schiffsreise von der Bühne gebuht worden wäre, tatsächlich der Anfang etwas Neuen sein soll, dann jedenfalls von nichts Gutem: in seiner Gesamtheit löste die Darbietung bei mir den dringenden Wunsch aus, mich einer Konversionstherapie zu unterziehen, denn wenn das unter schwuler Unterhaltung läuft, möchte ich nicht mehr länger zur Familie gehören. Gut also, dass dieser Müll rechtzeitig aussortiert wurde.
Als trete er am Regenbogen-Tag im Europapark Rust auf, ca. 1949: Tore Petterson.
Als (wenn auch verschmerzbaren) Verlust zu vermelden ist allenfalls Anna Jæger, die norwegische Discount-Variante von Saara Aalto, die ihren irgendwie ganz putzigen Elektro-Disco-Schlager ‘How about Mars’ in einem für eine Trashqueen absolut standesgemäßen pinkfarbenen Onsie aus Ballonseide vortrug, ihr Duell aber aus unerfindlichen Gründen gegen den Großvater von Rasmussen verlor, der praktisch mit demselben Song antrat wie sie, nur unter einem anderem Titel (mehr zu Rein Alexander zu einem späteren Zeitpunkt in der Finalbesprechung des MGP). Andererseits hätte Annas Song mitsamt namentlicher Nennung eines klebrig-kalorienreichen Schokoriegels in der Titelzeile ohnehin niemals die EBU-Zensur passiert: wir erinnern uns an Referenzfälle wie den ‘Facebook Song’ oder ‘Fyra Bugg och en Coca Cola’.
https://www.youtube.com/watch?v=x6zCaogQeGo
Bringt verbrauchte Energie zurück: Anna Jäger.
Trauriges gibt es abschließend aus Slowenien zu vermelden. Der dortige Sender RTVSLO schaltete heuer seiner Vorentscheidung zum Zwecke der Nachwuchsförderung die sogenannte EMA Freš vor, deren Finale am gestrigen Samstag über die Antenne ging. In diversen Internet-Vorrunden hatte man zehn hoffnungsvolle Talente ausgesiebt, die es nun live gegeneinander angingen und dabei vor allem durch jaulend schiefe Töne hervortraten. Von der im Sendungstitel versprochenen Frische ließ sich allerdings nicht das Geringste verspüren, im Gegenteil: eine ermüdende Phalanx immergleicher, adrett frisierter und angezogener junger Damen trug irgendwelche völlig vergessenswürdige, laue Liedlein vor, unterbrochen allenfalls mal von einem mitleiderregend tapsigen Rapper. Eine einzige nennenswerte Ausnahme gab es: die Songwriterin Astrid Ana Klun, die ihren selbstverfassten, moderat düsteren Elektrosong ‘Sing to me’ unter dem Bühnenname Astrid in Avantgarden sitzend zu Gehör brachte, eingehüllt in einen zehn Nummern zu großen, orangefarbenen Overall. Klang ein bisschen so wie ein Albumtitel von Aminata, fiel aber an diesem Abend der musikalischen Belanglosigkeiten angenehm aus dem Rahmen. Doch weder die Zuschauer/innen noch die Jury, die jeweils einen Beitrag ins EMA-Finale weiterdelegieren durften, konnten sich für sie erwärmen und wählten stattdessen irgendwas Egales. Eine weitere verpasste Chance und Beleg dafür, dass man die Macht in den nationalen Vorrunden vielleicht doch lieber in Form internationaler Jurys in die Hände des Auslands legen sollte.
Blieb im Avantgarden sitzen: Astrid.
Bitte beim Kim Rysstad Video bei 2:14 auf das Publikum achten; es wird von mal zu mal lustiger 😉