Ein weiterer kleiner Supersamstag liegt hinter uns, und erneut schrägte es auf dem Weg nach Rotterdam etliche, nunja, schräge Acts. So beispielsweise in Norwegen den 19jährigen Alexandru Gros Grindvoll, der bereits 2016 am dortigen Vorentscheid Melodi Grand Prix teilnahm, damals als Teil der Boyband Suite 16, und der heuer mit der erfrischend billigen Plastikpop-Perle ‘Pink Jacket’ einen astreinen Tooji-Gedächtnisact ablieferte, wenngleich unter vertauschten Vorzeichen: während der 2012er Vertreter des erdölreichen Königtums zu seinem damaligen Klopper ‘Stay’ eine astreine Tanzperformance ablieferte, diese jedoch mit fußnägelaufrollend schiefem Gesang konterkarierte, hielt sich Alexandru in der dritten Vorrunde des MGP fern von falschen Tönen, hauptsächlich vermutlich mithilfe des dort erlaubten Teilplaybacks. Dafür gestaltete sich sein hilfloses Herumgetänzel auf der Bühne derartig erbärmlich, dass es unglückseligerweise die ganze Aufmerksamkeit der verzweifelt nach Ablenkung von dem dargebotenen visuellen Grauen suchenden Zuschauer*innen auf den dürftigen Text seines Liedleins lenkte. Der wiederum pries die kapitalistische Heilsbotschaft, dass man sich seine Wunschidentität kaufen könne und solle, selbst wenn man dafür das komplette Monatsgehalt auf den Kopf hauen muss. Was zumindest erklärt, warum kein Geld mehr für eine gescheite Choreografie, Tanzstunden oder einen talentierten Songschreiber übrig blieb.
Stop, don’t say impossible: Alexandru, hier noch ohne sein Pink Jacket.
Reiche Beute konnten Trashgourmets hingegen erneut in Litauen machen. So beispielsweise in Form des Schauspielers Dominykas Vaitiekūnas, der unter dem Künstlernamen Vitalijus Špokaitis in seiner Heimat regelmäßig bizarre Songs mit bizarren Texten veröffentlicht, begleitet von nicht minder bizarren Verkleidungen und Bühnenshows. Für seinen Pabandom iš naujo!-Beitrag ‘Nemušk savęs’ (‘Bring dich nicht um’) ließ er sich einen albernen Topfschnitt verpassen, warf sich in einen babyblauen Seidenpyjama und ließ sich von drei stummen Backups begleiten, die ihn in allerlei absurden, gelegentlich lose an Maruuvs legendäre ‘Bang’-Performance angelehnte Posen stützten und auf Händen trugen, wenn sie nicht gerade mit Autokannibalismus beschäftigt waren und ihre eigenen Gliedmaßen annagten. Und das Ganze teils mit derartig ostentativ angenervten Gesichtsausdrücken, dass man unwillkürlich an die bedauernswerten Ranger aus der gestern Abend zu Ende gegangenen Staffel des RTL-Dschungelcamps denken musste, welche dort mit ebenso stoischer Gelassenheit wie Vitalijus’ Begleitboys die permanenten, wenngleich hochgradig charmanten Avancen des offen bisexuellen Teilnehmers und berechtigten Siegers Prince Damian über sich ergehen lassen mussten. Špokaitis war im Gegensatz zum Dschungelkönig kein Sieg vergönnt: er schied in der gestrigen Vorrunde aus.
Der Bärchen-Ranger-Backup ist meiner!
Von seiner inneren Zerrissenheit berichtete der ebenfalls gescheiterte Teilnehmer Bernardas Garbacauskas in seiner zerbrechlichen Klavierballade ‘Dad, don’t be mad at me’. Mit brüchiger Stimme beklagte er sein schweres Schicksal als aufgrund seiner Andersartigkeit von seinen Mitschülern gepiesackten Kindes, der auch von seinem den leider tief in unserer Gesellschaft verankerten falschen Werten der toxischen Männlichkeit anhängenden Vater bis heute nicht den Respekt und die Unterstützung erhielt, die er sich erhoffte. Und der ihn dennoch, wie er in seinem Abschiedssong schluchzend bekannte, liebt und noch immer um seine Anerkennung buhlt. Innerlich zerrissen hinterließ Bernardas auch den Rezensenten, der dem bebrillten Litauer jedes einzelne Wort und jede absolut glaubwürdig dargebotene Emotion bis in die Tiefen der Seele nachfühlen konnte und vor Ergriffen- und Betroffenheit beinahe mitgeheult hätte. Und der sich doch im gleichen Augenblick vor dem Bildschirm vor Fremdscham wand und unwillkürlich dachte: “Wäre ich der Vater dieses weinerlichen Häufchens Elend, wäre ich sicher auch nicht stolz”. Was nurmehr beweist, wie nachhaltig giftig das Konzept der ständigen Unterdrückung alles als schwach Empfundenen wirkt, das in unserer Gesellschaft mit dem Konstrukt von Maskulinität verbunden ist.
Jahre der Therapie in 2 Minuten 44: Bernardas mit einem Liebeslied an seinen toxischen Vater.
Wo wir uns gerade mit dem Konzept der toxischen Männlichkeit befassen: in keiner Figur kristallisiert sich dieses wohl besser als im Soldaten, der sein eigenes (Mit-)Gefühl so erfolgreich unterdrückt, dass es ihm das Töten seiner Mitmenschen gestattet. Was uns zu Ruslanas Kirilkinas und seinen Beitrag ‘Soldier’s Heart’ bringt, einem musikalisch völlig belanglosen Synthie-Geklimper, das nur deswegen hier Erwähnung findet, weil der glitzernde Aufzug des optisch und in seinen grazil-raumgreifenden Bewegungen ein klein wenig an den Erasure-Frontmann Andy Bell erinnernden Ruslanas von der ersten Sekunde an den Verdacht nährte, der Anblick eines uniformierten Bewaffneten dürfte beim Interpreten noch ganz andere Körperteile ansprechen als nur das Herz.
Würde für diese stimmliche wie kompositorische Leistung wohl selbst auf einem schwulen Straßenfest von der Bühne gebuht: Ruslanas.
Und damit kommen wir zur ebenfalls prall gefüllten Schatzkammer des moldawischen Vorentscheids. Ob es in dem kleinen rumänischen Bruderstaat in diesem Jahr erneut eine Melodie Pentru Europa gibt, steht derzeit in den Sternen. Bis dato selektierte der Sender TRM 36 potentielle Repräsentant*innen aus, die an einem (hoffentlich im Netz übertragenen) öffentlichen Vorsingen am Nachmittag des 1. Februar 2020 teilnehmen sollen, wo eine Jury Punkte verteilt. Ob man dort gleich das Lied für Rotterdam bestimmt oder ob doch noch eine TV-Show folgt, will man dann erst entscheiden. Mit dabei sind bekannte Namen wie die ehemaligen Eurovisionsteilnehmer*innen Geta Burlacu, Natalia Gordienko und Pasha Parfeny, allesamt jedoch mit eher schwachen Songs. Beim ehemaligen Augenschmaus Pasha kommt erschwerend eine grauenhafte Frisur hinzu, die einen audiovisiuellen Gesamtgenuss seines Beitrags ‘My Wine’ selbst bei großzügigem Genuss des besungenen Rebensaftes vollständig verunmöglicht. Und natürlich kann es keine moldawische Vorrunde geben ohne den legendären Sasha Bognibov! Der überrascht in diesem Jahr mit einem überzeugend rockigen, hervorragend produzierten Stück über den schon längst zur Realität gewordenen, alle düsteren Prognosen aus 1984 übertreffenden Überwachungsstaat in ‘Big Brother’. Der Clou: wie Roy Delaney von Eurovision Apocalypse recherchierte, stammt der Song aus der Feder des Komponisten Jacob Jonia, der unter anderem für das unentschuldbare volksmusikalische Verbrechen ‘En lille Melodi’, Dänemarks ESC-Beitrag 1987, verantwortlich zeichnet. Von dem ‘Big Brother’ musikalisch dankenswerterweise nicht weiter entfernt sein könnte.
Leider nur als Audioversion: Sashas Gothrock-Stampfer.
Ebenfalls hart freuen dürfen wir uns auf den stets possierlichen Auftritt des schätzungsweise 95jährigen, regelmäßigen OMPE-Gastes Tudor Bumbac, der mit ‘Te-am vazut în vis pe tine’ (‘Ich habe dich im Traum gesehen’) einen weiteren wunderbar altmodischen Schunkelschlager im Gepäck hat. Bereits raus sind hingegen die ebenfalls regelmäßig zurückkehrenden Folkrocker Che-MD, die ihren vorgesehenen Beitrag ‘Adio’ bereits Mai 2019 öffentlich aufführten. Von allen potentiellen Eurovisionssongs überzeugt jedoch einer in besonderem Maße: der herrlich trashige Ethno-Stampfer ‘Dale Dale’ von Diana Rotaru. Die zog mit ihrer fuegoesken Nummer bereits durch sämtliche Vormittagstalkshows des Landes, was ihren Vollplaybackdarbietungen einen besonders ironischen Biss verlieh: schließlich tänzelte sie stets aufreizend leicht bekleidet durch die hell erleuchtete Sterilität der jeweiligen TV-Studios und vollführte laszive Turnübungen, als bewerbe sie sich um eine Anstellung als Stangentänzerin im Rotlichtmilieu. Besonders köstlich wirkte dieser Kontrast in einer vorweihnachtlichen Ausgabe der TV-Show Vorbe bune (Gute Worte), wo die Moderatorin der Sendung Dianas erotisch gemeinter Darbietung von der Couch aus mit einem dezent betretenen Gesichtsausdruck beiwohnte und höflichkeitshalber im Sitzen mitwippte, während Frau Rotaru ihr Becken über den Studioboden rotieren ließ, als sei sie bei den Nachtclips auf Sport1. Auch, wenn abzusehen scheint, dass das Ganze live schrecklich klingt: alleine für diese TV-Sternstunde gebührt Dianna das Ticket nach Rotterdam.
https://youtu.be/f60-nK3DZYk
Noch nie wurde das Weihnachtsfest so entwürdigt: Dianna Rotaru.
Mit einem neuen aufrechtgehn Artikel wird sogar ein Montag Morgen erträglich 😉
Es muß natürlich Sasha Bognibov nach Rotterdam, der mit Abstand beste Song der bisherigen VE-Saison! Ich hab aber ein bisserl Angst vor dem Liveauftritt und bin daher ganz dankbar, dass es bis jetzt nur die coolen Standbilder im Video zu sehen gibt…
Mein Lieber Schwan – du hast nur einen Verdacht, was Ruslanas betrifft? Ist Dir dieses sein Meisterstück aus dem Jahr direkt nach Alexander Rybaks Sieg denn entgangen?
sorry, hier der Liveauftritt
Hallo Oliver, danke für Deine herrlichen Berichte zum Esc. Es macht immer wieder Spaß, diese mit den bissigen, humorvollen Kommentaren zu lesen.
Gruß
Leo
Oh nein, Sacha Bognibov ist in Moldavien schon raus in der ersten Runde!
Wer trägt jetzt diese geile Nummer in die Welt hinaus???
Immerhin hat es Irina Kovalsky diesmal weiter geschafft, nachdem es mit dem fantastischen “Ca Adriano Celentano” letztes Jahr nicht geklappt hat.
Vielleicht hat Ihr neuer bulgarischer Bodyguard und Gesangspartner diesmal genügend Druck bei der Jury gemacht…