Zehn Tage ist das neue Jahr alt, und schon ist der erste Neujahrsvorsatz gebrochen: an sich wollte ich über reine Kandidatennominierungen nicht mehr berichten, so lange der Beitrag noch nicht feststeht. Doch heute bestätigte der niederländische Sender AVROTROS, dass der Sänger Jeangu Macrooy das gastgebende Land in Rotterdam vertritt. Und setzt damit, passend zum Contestmotto “Open up”, auch ein Zeichen für Diversität: denn Macrooy ist schwarz – und schwul. Der Endzwanziger kam 1993 in dem südamerikanischen Staat Suriname zur Welt, einer erst seit 1975 unabhängigen früheren niederländischen Kolonie. Wie das Portal queer.de unter Bezug auf eine dpa-Meldung berichtet, sei er im Jahre 2014 von dort auch aufgrund seiner Homosexualität ausgewandert, weil er mit der “Machokultur in Suriname” nicht zurecht kam. Bekanntheit in seiner neuen Heimat erlangte er mit Auftritten auf Festivals und in diversen TV-Shows. Nach Aussage des AVROTROS-Verantwortlichen Eric van Staade habe der intern ausgewählte Interpret schon länger auf dem Wunschzettel des Senders gestanden: “Der Song, den er ablieferte, hat uns sofort berührt”, zitiert eurovision.tv. Bis wir den zu hören bekommen, wird es aber noch ein wenig dauern (warum eigentlich?). Eine rasche Youtube-Werkschau fördert schwerpunktmäßig gefälligen englischsprachigen Soulpop mit cleveren Texten zutage, die Jeangu mit samtweicher Stimme und gewinnendem Lächeln vorträgt.
Die im Songtext vorgestellten Substanzen dürfte Jeangu auf dem Festival, auf dem der Clip gedreht wurde, problemlos bekommen (Repertoirebeispiel).
Ein – zugegebenermaßen extrem weit hergeholter – eurovisionärer Zusammenhang besteht zudem zu Macrooys Geburtsort Paramaribo, der Hauptstadt von Suriname, in welcher fast die Hälfte der lediglich rund 500.000 Einwohner*innen des verhältnismäßig kleinen Küstenstaates lebt. Diese fand im Jahre 1974 erstmalig (und meiner Kenntnis nach bisher auch einmalig) popmusikalische Erwähnung in einem meiner absoluten Lieblingssongs, nämlich dem Easy-Listening-Knaller ‘The Girls from Paramaribo’ aus der Feder des 2016 verstorbenen deutschen Bandleaders und Komponisten Friedel Berlipp alias Berry Lipman. In der Studioaufnahme des sowohl in einer deutschen als auch einer englischen Sprachfassung vorliegenden Songs steuert unter anderem die deutsche Eurovisionsvertreterin von 1965, Ulla Wiesner, die charakteristischen Scat-Vocals bei, also den elegant-jetsettigen “Ba da badabababa”-Chorgesang, mit dem die Melodie akzentuiert wird. In der Instrumentalfassung gehört die international mehrfach gecoverte Nummer auch heute noch zur essentiellen Grundausstattung des ARD-Nachtprogramms zum Zwecke der Überbrückung der Zeit bis zu den nächsten Radionachrichten.
Mit den von Lipmann hier so elegisch besungenen Girls von Paramaribo dürfte der diesjährige niederländische Eurovisionsvertreter zwar wenig anfangen können, aber toll ist die flockige Nummer dennoch.
[Nachtrag 04.03.2020]: Mit der Präsentation des Beitrags im März 2020 hatten die Gastgeber des Eurovision Song Contest 2020 dann leider wirklich Pech. Ausgerechnet am selben Tag wie die helvetische Ballade ‘Répondez-moi’ stellen sie ihren Song ‘Grow’ vor. Und das in einem bereits weit über jedes akzeptable Maß hinaus mit langsamen Liedern übersättigten Jahrgang. Ich gebe es ganz offen zu: ich bin gerade weder in der Lage noch bereit, den niederländischen Beitrag objektiv zu würdigen. Sicher, Macrooy trägt hier einen hervorragenden, tief reflektierenden Text vor über das Erwachsenwerden, die damit verbundenen Gefühle von Enttäuschung, Angst und Ohnmacht und die Hoffnung als einzige Chance, zu überleben. Der sachte Einstieg, die stetigen musikalischen Steigerungen und der sich immer weiter aufschwingende, an die goldenen Zeiten von R. Kelly erinnernde Gospelchor machen die Nummer nach hinten heraus richtig groß. Und ja, der aus Suriname stammende Sänger verfügt über eine unverwechselbare Stimme, deren heisere Intimität perfekt zum Song passt. Doch hier und heute spielt das alles für mich keine Rolle. Ich kann einfach keine traurigen Lieder mehr ertragen. Ich will nicht im Tränenmeer ertrinken wie die bedauernswerten Niederländer:innen voraussichtlich in gar nicht so ferner Zeit im Angesicht der durch die Klimaerwärmung steigenden Meeresspiegel. Ich. Will. Keine. Balladen. Mehr. Keine. Einzige! Tut mir leid, Jeangu. Du kannst nichts dafür.
Nimm’s nicht persönlich, sei nicht beleidigt, Jeangu. Kümmere dich nicht um meine Stimmungsschwankungen.
Fun Fact: Auch Ruth Jacott (NL 1993) stammt aus Paramaribo, ihr Ex Humphrey Campbell (NL 1992) wurde ebenfalls in Surinam geboren, wenn auch in Moengo (Distrikt Marowijne).
Schön, dass man sich mal wieder aus den Ex-Kolonien bedient. Das macht den Contest bunt!
Bunt, entspannt und mit Substanz, der Sänger gefällt mir gut.
Genau so wie Sondrey aus Norwegen im gestrigen ersten Melodi Grand Prix Viertelfinale.
… toll… und er trägt das Taize Kreuz. Das trug Lena bei ihrem Sieg!
Sehr schöne Worte, die Sie für meinen Vater Friedel Berlipp gefunden haben 🙂 <3 Dankeschön . Er wäre heute übrigens 100 Jahre geworden .