Nach dem Semifinal-Aus für die intern bestimmte Srbuk beim Eurovision Song Contest 2019 kehrte das erfolgsverwöhnte und ‑hungrige Armenien in diesem Jahr zum Vorentscheidungsformat Depi Evratesil zurück. 12 hoffnungsvolle junge Talente versammelte der Sender ARMTV am gestrigen Samstagabend in Jerewan, die fast ausnahmslos mit selbst geschriebenen Liedern antraten. Tragischerweise allesamt in englisch, auch wenn sich, wie an Songtiteln (‘What it is to be in Love’), Silben-zu-Melodie-Ratio und Intonation erkenntlich, die Sprachkenntnisse der meisten Teilnehmer:innen rein auf das Phonetische beschränkten. Die musikalische Qualität des Angebotes glich der einer weißrussischen Vorauswahlrunde, mehrfach ertappte man sich beim Zuschauen, wie man nach wenigen Sekunden laut “Spasiba!” rief, in der Hoffnung, damit dem Auftritt ein Ende zu setzen. Ein leichtes Spiel somit für das einzige professionelle Angebot des Abends, vorgetragen von der in der hellenischen Hauptstadt geborenen, armenischstämmigen Athena Manoukian. Seit 2007 im Geschäft, kann sie in Griechenland bereits etliche Top-Hits vorweisen. 2008 nahm sie, damals noch im zarten Alter von 14, an der hellenischen Vorauswahl zum Junior-ESC teil. Zuletzt schrieb sie einen Titel für Helena Paparizou. Auch ihr Eurovisionsbeitrag ‘Chains on you’, in dem sie sinngemäß davon singt, ihren Gespielen als Aufbewahrungsstation für ihr diamantenes Geschmeide zweckzuentfremden, stammte aus eigener Feder.
Der perfekte Soundtrack zum Stangentanz in der Tittenbar: die Alpharüdin Athena legt ihre Kerle an die Kette.
Eine eingehende Bewertung ihres aggressiven, bassbebenden Gebelfers möchte ich mir insofern ersparen, als dass es sich klar an eine andere, deutlich jüngere Zielgruppe richtete: an eine, der solcherart rettungslos antiquierten Dinge wie Harmonien oder Melodien Fremdwörter sind und für die sich die Qualität eines Popsongs daran bemisst, dass sich ältere Menschen in der irrigen Annahme, einem Drive-by-Shooting beizuwohnen, panisch zu Boden werfen, wenn er aus dem Lautsprecher eines vorbeifahrenden Autos dröhnt. Passend zum prolligen Sound ihrer Musik brezelte sich die 26jährige auf, als ginge es gleich zur Animationsschicht im örtlichen Stripschuppen, und brachte zum Schutz vor übergriffigen Männern gleich vier kernige Bodyguards mit. Athena siegte mit Hilfe der internationalen und der heimischen Jury, die gemeinsam zwei Drittel der Entscheidungsgewalt auf sich vereinten und in einer konzertierten Aktion die armenischen Zuschauer:innen gnadenlos überstimmten. Die verschenkten ihr Herz nämlich geschlossen an Vladimir Arzumanyan, den Heintje aus Berg-Karabach, der 2010 mit seiner uptemporären Ode an die ‘Mama’ den Junior-ESC gewann und damit dem Land der Aprikosen seinen bisher einzigen Trost-Sieg beim europäischen Gesangswettbewerb bescherte.
Der Sofaschlumpf fängt an: Vladimir “Heintje” Azurmanyan fiept sich in die Herzen armenischer Mütter.
Vladimir blieb seinem Erfolgsthema treu: mit ‘What’s going on Mama’ illustrierte der ansehnlich herangereifte 21jährige, dass auch ein in vollem Saft stehender junger Mann gelegentlich noch des mütterlichen Beistands bedarf. Der kalkulierte kollektive Milcheinschuss zahlte sich aus: 3.344 geschmeichelte Elternteile riefen für ihn an, gut dreimal so viele wie für die Zweitplatzierte und gar gut fünfmal (!) so viele wie für Juryliebling Athena. Aufgrund des absichtlich (?) absonderlichen armenischen Wertungssystems, welches die Anrufe nicht linear, sondern in Fünf-Punkte-Stufen umrechnete, nutzte ihm dies jedoch rein gar nichts. Keinen Nutzen zog auch der Konkurrent David Badalyan alias tokionine aus seiner kompositorischen Mitbeteiliung am letztjährigen armenischen Grand-Prix-Song ‘Walking out’. Mit seinem kontemporär-düsteren Dancesong ‘Save me’ machte der 30jährige DJ und Produzent das einzige weitere professionelle Angebot in einem See von blutigen Amateuren. Doch noch nicht einmal die ihn engagiert umquirlenden, an den Auftritt von Lena beim ESC 2011 erinnernden, tanzenden Spermien vermochten ihn zu retten. Lag es an dem verstörenden, gigantischen Taubenschiss auf seiner schwarzen Zwangsjacke? An seinem krächzend-röhrenden Gesang? Oder an seiner kompakten Gestalt, die ihn in Verbindung mit der schwarzen Seefahrerstrickmütze wie einen menschlichen Deoroller aussehen ließ?
Die Spermaspurenscanner bringen es ans Licht: unser David ist ein Bukakke-Fan.
Etliche Kuriositäten gab es noch zu bestaunen. Den Anfang machte ein verdächtig wohnsitzlos wirkender Langhaarzottel namens Agop, der zu abgeranzten Synthietönen stakkatoartig von ihn aus nicht weiter erwähnten Gründen hypnotisierenden “Better Flies” berichtete. Klar, wenn man auf der Straße lebt und keine Gelegenheit zum Duschen hat, umschwirren einen halt bald Insekten. Wenn man dann noch zu sehr dem Tetrapack-Wein zuspricht, kann es einem vermutlich ganz schön karusselig im Kopf werden, wenn man diesen beim Herumfliegen zusieht. Ob man damit jedoch ein Samstagabendpublikum behelligen muss, ist freilich eine andere Frage. Mit Karina Evn folgte eine kahlschädelige Frau in einem aufsehenerregenden, figurbetonenden Sanduhrenkleid, deren massiv zusammengeschnürte Mammae einen deutlich größeren Durchmesser aufwiesen als ihr Kopf. Und zwar jede einzelne davon. Karina zelebrierte Emanzipation auf ihre ganz eigene Weise: ihr Gesang (wenn man das so nennen mag) befreite sich von den Fesseln der Musik und folgte seinen eigenen, nur für die Interpretin erkennbaren Regeln. Dann die unvermeidliche Phalanx der üblichen aufgescheuchten Balladessen in Abendrobe, eine schrillstimmiger als die andere und keine davon wirklich in der Lage, auch nur eine einzige Textzeile unfallfrei zu singen.
Gut, dass ein kein Geruchsfernsehen gibt: Agop.
Was im übrigen auch für die männlichen Konkurrenten galt, die sich nicht minder radebrechend durch ihre armseligen Songversuche krächzten und jaulten. Den absoluten Tiefpunkt des Abends lieferte indes das in seinem tragischen Scheitern schon wieder spektakuläre, dem Namen nach offenbar russischstämmige Vater-und-Sohn-Duo Nikolay und Sergey Arutyunov. Die Beiden nahmen sich in Sachen dramatische Komposition, brüllender Gesang und performatorisches Overacting dementsprechend unglückseligerweise die russischen Grand-Prix-Größen Dima Bilan (‘Believe’) und Sergey Lazarev (‘Scream’) zum Vorbild und schrien uns drei Minuten unentwegt an. Möglicherweise, um dem Schmerz des älteren Arutynovs Ausdruck zu verleihen, der im Vorfeld wohl eine unangenehme Begegnung mit einem Eintreiber von Moskau-Inkasso gehabt haben muss, so dass er seinen Auftritt nur mit Hilfe eines Hockers und eines Krückstocks zu absolvieren vermochte. Meine Bewunderung für die bitter-trotzige Ironie, im Angesicht der eigenen Immobilität den Beitrag ‘Ha, take a Step’ zu betiteln. Gleichzeitig bin ich froh, dass die armenischen Zuschauer:innen und Juror:innen in geschlossener Einigkeit jedweden Schritt der beiden abgewrackten Schreihälse in Richtung Rotterdam zu verhindern wussten. Puh!
Huch! Was macht Klaus Meine von den Scorpions beim armenischen Vorentscheid?
Vorentscheid AM 2020
Depi Evratesil. Samstag, 15. Februar 2020, aus Jerewan, Armenien. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Mane Grigoryan und Arman Margaryan.# | Interpreten | Songtitel | Int’l. Jury | Nat. Jury | Anrufe | Pkt. | Platz |
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01 | Agop | Butterflies | 27 | 33 | 111 | 15 | 10 |
02 | Karina Evn | Why? | 30 | 29 | 149 | 25 | 09 |
03 | Music Hayk | What it is to be in Love | 27 | 20 | 63 | 10 | 12 |
04 | Erna Tamazyan | Life Faces | 34 | 31 | 1.016 | 55 | 02 |
05 | Eva Rida | No Love | 40 | 39 | 56 | 05 | 08 |
06 | Athena Manoukian | Chains on you | 60 | 58 | 662 | 50 | 01 |
07 | Gabriel Jeeg | It’s your Turn | 39 | 20 | 490 | 40 | 05 |
08 | Sergey + Nickolay Arutyunov | Ha, take a Step | 15 | 36 | 619 | 45 | 07 |
09 | Miriam Baghdassarian | Run away | 33 | 40 | 440 | 35 | 04 |
10 | Vladimir Arzumanyan | What’s going on Mama | 27 | 31 | 3.344 | 60 | 03 |
11 | Arthur Aleq | Heaven | 30 | 15 | 135 | 20 | 11 |
12 | Tokionine | Save me | 28 | 38 | 299 | 30 | 06 |