Depi Evra­te­sil 2020: Mama, du sollst doch nicht um dei­ne Per­len weinen

Nach dem Semi­fi­nal-Aus für die intern bestimm­te Srbuk beim Euro­vi­si­on Song Con­test 2019 kehr­te das erfolgs­ver­wöhn­te und ‑hung­ri­ge Arme­ni­en in die­sem Jahr zum Vor­ent­schei­dungs­for­mat Depi Evra­te­sil zurück. 12 hoff­nungs­vol­le jun­ge Talen­te ver­sam­mel­te der Sen­der ARMTV am gest­ri­gen Sams­tag­abend in Jere­wan, die fast aus­nahms­los mit selbst geschrie­be­nen Lie­dern antra­ten. Tra­gi­scher­wei­se alle­samt in eng­lisch, auch wenn sich, wie an Song­ti­teln (‘What it is to be in Love’), Sil­ben-zu-Melo­die-Ratio und Into­na­ti­on erkennt­lich, die Sprach­kennt­nis­se der meis­ten Teilnehmer:innen rein auf das Pho­ne­ti­sche beschränk­ten. Die musi­ka­li­sche Qua­li­tät des Ange­bo­tes glich der einer weiß­rus­si­schen Vor­auswahl­run­de, mehr­fach ertapp­te man sich beim Zuschau­en, wie man nach weni­gen Sekun­den laut “Spa­si­ba!” rief, in der Hoff­nung, damit dem Auf­tritt ein Ende zu set­zen. Ein leich­tes Spiel somit für das ein­zi­ge pro­fes­sio­nel­le Ange­bot des Abends, vor­ge­tra­gen von der in der hel­le­ni­schen Haupt­stadt gebo­re­nen, arme­nisch­stäm­mi­gen Athe­na Manou­ki­an. Seit 2007 im Geschäft, kann sie in Grie­chen­land bereits etli­che Top-Hits vor­wei­sen. 2008 nahm sie, damals noch im zar­ten Alter von 14, an der hel­le­ni­schen Vor­auswahl zum Juni­or-ESC teil. Zuletzt schrieb sie einen Titel für Hele­na Papa­riz­ou. Auch ihr Euro­vi­si­ons­bei­trag ‘Chains on you’, in dem sie sinn­ge­mäß davon singt, ihren Gespie­len als Auf­be­wah­rungs­sta­ti­on für ihr dia­man­te­nes Geschmei­de zweck­zu­ent­frem­den, stamm­te aus eige­ner Feder.

Der per­fek­te Sound­track zum Stan­gen­tanz in der Tit­ten­bar: die Alpharü­din Athe­na legt ihre Ker­le an die Kette.

Eine ein­ge­hen­de Bewer­tung ihres aggres­si­ven, bass­be­ben­den Gebel­fers möch­te ich mir inso­fern erspa­ren, als dass es sich klar an eine ande­re, deut­lich jün­ge­re Ziel­grup­pe rich­te­te: an eine, der sol­cher­art ret­tungs­los anti­quier­ten Din­ge wie Har­mo­nien oder Melo­dien Fremd­wör­ter sind und für die sich die Qua­li­tät eines Pop­songs dar­an bemisst, dass sich älte­re Men­schen in der irri­gen Annah­me, einem Dri­ve-by-Shoo­ting bei­zu­woh­nen, panisch zu Boden wer­fen, wenn er aus dem Laut­spre­cher eines vor­bei­fah­ren­den Autos dröhnt. Pas­send zum prol­li­gen Sound ihrer Musik bre­zel­te sich die 26jährige auf, als gin­ge es gleich zur Ani­ma­ti­ons­schicht im ört­li­chen Strip­schup­pen, und brach­te zum Schutz vor über­grif­fi­gen Män­nern gleich vier ker­ni­ge Body­guards mit. Athe­na sieg­te mit Hil­fe der inter­na­tio­na­len und der hei­mi­schen Jury, die gemein­sam zwei Drit­tel der Ent­schei­dungs­ge­walt auf sich ver­ein­ten und in einer kon­zer­tier­ten Akti­on die arme­ni­schen Zuschauer:innen gna­den­los über­stimm­ten. Die ver­schenk­ten ihr Herz näm­lich geschlos­sen an Vla­di­mir Arzu­man­yan, den Heint­je aus Berg-Kara­bach, der 2010 mit sei­ner upt­em­po­rä­ren Ode an die ‘Mama’ den Juni­or-ESC gewann und damit dem Land der Apri­ko­sen sei­nen bis­her ein­zi­gen Trost-Sieg beim euro­päi­schen Gesangs­wett­be­werb bescherte.

Der Sofa­schlumpf fängt an: Vla­di­mir “Heint­je” Azur­man­yan fiept sich in die Her­zen arme­ni­scher Mütter.

Vla­di­mir blieb sei­nem Erfolgs­the­ma treu: mit ‘What’s going on Mama’ illus­trier­te der ansehn­lich her­an­ge­reif­te 21jährige, dass auch ein in vol­lem Saft ste­hen­der jun­ger Mann gele­gent­lich noch des müt­ter­li­chen Bei­stands bedarf. Der kal­ku­lier­te kol­lek­ti­ve Milch­ein­schuss zahl­te sich aus: 3.344 geschmei­chel­te Eltern­tei­le rie­fen für ihn an, gut drei­mal so vie­le wie für die Zweit­plat­zier­te und gar gut fünf­mal (!) so vie­le wie für Jury­lieb­ling Athe­na. Auf­grund des absicht­lich (?) abson­der­li­chen arme­ni­schen Wer­tungs­sys­tems, wel­ches die Anru­fe nicht line­ar, son­dern in Fünf-Punk­te-Stu­fen umrech­ne­te, nutz­te ihm dies jedoch rein gar nichts. Kei­nen Nut­zen zog auch der Kon­kur­rent David Bad­a­ly­an ali­as tokio­ni­ne aus sei­ner kom­po­si­to­ri­schen Mit­be­tei­li­ung am letzt­jäh­ri­gen arme­ni­schen Grand-Prix-Song ‘Wal­king out’. Mit sei­nem kon­tem­po­rär-düs­te­ren Dance­song ‘Save me’ mach­te der 30jährige DJ und Pro­du­zent das ein­zi­ge wei­te­re pro­fes­sio­nel­le Ange­bot in einem See von blu­ti­gen Ama­teu­ren. Doch noch nicht ein­mal die ihn enga­giert umquir­len­den, an den Auf­tritt von Lena beim ESC 2011 erin­nern­den, tan­zen­den Sper­mi­en ver­moch­ten ihn zu ret­ten. Lag es an dem ver­stö­ren­den, gigan­ti­schen Tau­ben­schiss auf sei­ner schwar­zen Zwangs­ja­cke? An sei­nem kräch­zend-röh­ren­den Gesang? Oder an sei­ner kom­pak­ten Gestalt, die ihn in Ver­bin­dung mit der schwar­zen See­fah­rer­strick­müt­ze wie einen mensch­li­chen Deo­rol­ler aus­se­hen ließ?

Die Sper­ma­spu­ren­scan­ner brin­gen es ans Licht: unser David ist ein Bukakke-Fan.

Etli­che Kurio­si­tä­ten gab es noch zu bestau­nen. Den Anfang mach­te ein ver­däch­tig wohn­sitz­los wir­ken­der Lang­haar­z­ot­tel namens Agop, der zu abge­ranz­ten Syn­thie­tö­nen stak­ka­to­ar­tig von ihn aus nicht wei­ter erwähn­ten Grün­den hyp­no­ti­sie­ren­den “Bet­ter Flies” berich­te­te. Klar, wenn man auf der Stra­ße lebt und kei­ne Gele­gen­heit zum Duschen hat, umschwir­ren einen halt bald Insek­ten. Wenn man dann noch zu sehr dem Tetra­pack-Wein zuspricht, kann es einem ver­mut­lich ganz schön karus­se­lig im Kopf wer­den, wenn man die­sen beim Her­um­flie­gen zusieht. Ob man damit jedoch ein Sams­tag­abend­pu­bli­kum behel­li­gen muss, ist frei­lich eine ande­re Fra­ge. Mit Kari­na Evn folg­te eine kahl­schä­del­i­ge Frau in einem auf­se­hen­er­re­gen­den, figur­be­to­nen­den Sand­uh­ren­kleid, deren mas­siv zusam­men­ge­schnür­te Mam­mae einen deut­lich grö­ße­ren Durch­mes­ser auf­wie­sen als ihr Kopf. Und zwar jede ein­zel­ne davon. Kari­na zele­brier­te Eman­zi­pa­ti­on auf ihre ganz eige­ne Wei­se: ihr Gesang (wenn man das so nen­nen mag) befrei­te sich von den Fes­seln der Musik und folg­te sei­nen eige­nen, nur für die Inter­pre­tin erkenn­ba­ren Regeln. Dann die unver­meid­li­che Pha­lanx der übli­chen auf­ge­scheuch­ten Bal­la­dessen in Abend­ro­be, eine schrill­stim­mi­ger als die ande­re und kei­ne davon wirk­lich in der Lage, auch nur eine ein­zi­ge Text­zei­le unfall­frei zu singen.

Gut, dass ein kein Geruchs­fern­se­hen gibt: Agop.

Was im übri­gen auch für die männ­li­chen Kon­kur­ren­ten galt, die sich nicht min­der rade­bre­chend durch ihre arm­se­li­gen Song­ver­su­che krächz­ten und jaul­ten. Den abso­lu­ten Tief­punkt des Abends lie­fer­te indes das in sei­nem tra­gi­schen Schei­tern schon wie­der spek­ta­ku­lä­re, dem Namen nach offen­bar rus­sisch­stäm­mi­ge Vater-und-Sohn-Duo Niko­lay und Ser­gey Aru­ty­u­n­ov. Die Bei­den nah­men sich in Sachen dra­ma­ti­sche Kom­po­si­ti­on, brül­len­der Gesang und per­for­ma­to­ri­sches Over­ac­ting dem­entspre­chend unglück­se­li­ger­wei­se die rus­si­schen Grand-Prix-Grö­ßen Dima Bilan (‘Belie­ve’) und Ser­gey Lazarev (‘Scream’) zum Vor­bild und schrien uns drei Minu­ten unent­wegt an. Mög­li­cher­wei­se, um dem Schmerz des älte­ren Aru­ty­n­ovs Aus­druck zu ver­lei­hen, der im Vor­feld wohl eine unan­ge­neh­me Begeg­nung mit einem Ein­trei­ber von Mos­kau-Inkas­so gehabt haben muss, so dass er sei­nen Auf­tritt nur mit Hil­fe eines Hockers und eines Krück­stocks zu absol­vie­ren ver­moch­te. Mei­ne Bewun­de­rung für die bit­ter-trot­zi­ge Iro­nie, im Ange­sicht der eige­nen Immo­bi­li­tät den Bei­trag ‘Ha, take a Step’ zu beti­teln. Gleich­zei­tig bin ich froh, dass die arme­ni­schen Zuschauer:innen und Juror:innen in geschlos­se­ner Einig­keit jed­we­den Schritt der bei­den abge­wrack­ten Schrei­häl­se in Rich­tung Rot­ter­dam zu ver­hin­dern wuss­ten. Puh!

Huch! Was macht Klaus Mei­ne von den Scor­pi­ons beim arme­ni­schen Vorentscheid?

Vor­ent­scheid AM 2020

Depi Evra­te­sil. Sams­tag, 15. Febru­ar 2020, aus Jere­wan, Arme­ni­en. 12 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Mane Gri­gory­an und Arman Margaryan.
#Inter­pre­tenSong­ti­telInt’l. JuryNat. JuryAnru­fe | Pkt.Platz
01AgopBut­ter­flies2733111 | 1510
02Kari­na EvnWhy?3029149 | 2509
03Music HaykWhat it is to be in Love272063 | 1012
04Erna Tama­zy­anLife Faces34311.016 | 5502
05Eva RidaNo Love403956 | 0508
06Athe­na ManoukianChains on you6058662 | 5001
07Gabri­el JeegIt’s your Turn3920490 | 4005
08Ser­gey + Nickolay ArutyunovHa, take a Step1536619 | 4507
09Miri­am BaghdassarianRun away3340440 | 3504
10Vla­di­mir ArzumanyanWhat’s going on Mama27313.344 | 6003
11Arthur AleqHea­ven3015135 | 2011
12Tokio­ni­neSave me2838299 | 3006

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