Der Eklat ließ sich vorausahnen. Als bei der Vorstellung der internationalen Juror:innen für das gestrige Finale des weißrussischen Vorentscheids Eurofest der quietschige Wiwiblogger William Lee Adams über die Bühne spurtete, wusste man bereits tief drinnen: der Zuschauer:innenfavorit wird bei dieser Natsionalniy Otbor nicht obsiegen. Denn nur, wer als Sender den Durchmarsch eines Publikumslieblings um jeden Preis verhindern möchte, bucht den amerikanischen Strategen. Genau so kam es: am Ende einer ungewohnt hochklassigen, kurzweiligen Show mit 12 Acts, die von der Verlegung des Events in die BelarusFilm-Studios profitierte, wo es wesentlich glamouröser zuging als sonst, stand der erwartbare Clash der Kulturen. Die Jury, zu der ebenfalls die früheren Teilnehmer:innen Dmitry Koldun und Zena gehörten, stimmte in einem ansonsten ausschließlich von Frauen und hauptsächlich von Uptempoware bevölkerten Feld geschlossen für den einzigen balladierenden Mann, Jan Yarosh, der an der Bontempi-Orgel sitzend den Sadboi gab. Alles, was ihm zur Eins-zu-eins-Kopie des Vorjahressiegers fehlte, war eine gigantische Lampe über dem Schädel. Die stets klugen und geschmackssicheren Televoter:innen hingegen bevorzugten das Ethno-Quartett Chakras, das mit einer ungewöhnlichen, sphärischen Nummer aufwartete, deren “Text” ausschließlich aus den Silben ‘La-ley-la’ bestand.
Öffnen Deine Wahrnehmungspforten und nehmen dich mit auf eine schamanische Geisterreise: die Chakras.
Sowie aus allerlei Wolfsgeheul, Vogelstimmen, Wiehern, Maultrommeln und Flötentönen, erzeugt von einer am Boden sitzenden Schamanin. Dazu wedelnden die drei restlichen Damen zu psychedelischen Hintergrundprojektionen apart mit den Armen und la-ten und lay-ten höchst harmonisch in den unterschiedlichsten Tonlagen. Es war nichts weniger als ein dreiminütiger Pilztrip, zu dem sie uns einluden, und damit dieser bedrohungsfrei und sanft ablaufe, hängte sich die Leadsängerin eigens zwei handgeklöppelte Traumfänger an die Ohren. Gran-di-os! Natürlich stufte die bornierte Jury diesen fantastischen Act vorsätzlich auf ihren fünften Rang herunter, während die Zuschauer:innen das Gleiche mit dem Discount-Duncan taten, den die organisierten Manipulatoren um den Wiwiblogger bevorzugten. Wenn zwei sich streiten, freuen sich die Dritten; in diesem Fall das in beiden Wertungen jeweils zweitplatzierte Duo Val, bestehend aus den ehemaligen Kunststudent:innen Lera Gribusova (Gesang) und Vlad Pashkevich (Instrumente). Die entboten mit der in der Landessprache gesungenen Midtemponummer ‘Da Vidna’ (‘Bis zum Morgengrauen’) einen okayen Popstampfer, der aufgrund seines gebremsten Tempos beim Mitwippen keinesfalls die Gelenke überlastete.
Mach’ kein Auge: Val.
Was die in einem schicken Hosenanzug und mit einem hübschen, perlenfunkelnden Haarnetz angetane Frontfrau sowie ein ihr zur Seite gestellter, blonder Ephebe mit perfekt synchronen Hüftschwüngen illustrierten. Nun gehört ‘Da Vidna’ sicherlich nicht zu den schlechtesten belarussischen Eurovisionsbeiträgen und man musste froh sein, dass uns dank des Einsatzes der Zuschauer:innen zumindest ein weiterer greinender Jammerlappen erspart blieb. Dennoch herrscht beim Hausherren die massive Wut vor, dass man uns die fantastischen Chakras vorenthielt. Und bei so etwas bin ich nun mal nachtragend bis in die Steinzeit. Wiwibloggs ist für mich ab sofort für alle Zeiten gestorben! Neben diesem Dreikampf-Drama unterhielt die Natsionalniy Otbor mit zahlreichen weiteren Perlen, die gegenüber der letzten Monat erfolgten Vorauswahl insbesondere durch die grandiosen Inszenierungen erheblich an Glanz gewannen. So wie zum Beispiel bei der seit 2014 jedes Jahr aufs Neue am Eurofest teilnehmenden Olga Shimanskaya alias Napoli, deren verzweifelter Appell ‘Don’t let me down’ bei den Jurys und dem Publikum erneut auf taube Ohren stieß. Kein Wunder, hatte sie sich zur Unterstützung zwar jeweils ein tanzendes Auge und einen Mund mitgebracht, das Hörorgan jedoch vergessen.
Der Drogentrip geht weiter: Napoli.
Genau so wie den dringend überfälligen Sprachkurs: dass sie ihren englischen Text allenfalls phonetisch interpretierte, davon legte nicht nur die von ihr als “Donlemmeda” intonierte Hookline so schmerzhaft wie beredt Zeugnis ab. Sprachvergewaltigung begingen auch etliche ihrer Kolleginnen. Die propere Anastasia Malashkevich, die sich mit einem riesigen Wagenrad von Hut, mit dem sie einer ganzen Schulklasse Schatten spenden könnte, alles andere als ‘Invisible’ machte, sprach ihren Liedtitel beispielsweise hartnäckig als “Imiesibal” aus. Sie fand sich umringt von zwei deutlich jüngeren und schlankeren Tänzerinnen, die ihre Gesichter unterhalb der Augen mit schwarzen Seidentüchern verhüllten: auch in Minsk scheinen im Zeichen des Coronavirus wohl die Atemschutzmasken überall ausverkauft zu sein, so dass frau halt zum Notbehelf greifen musste. Dabei handelt es sich gerade bei Weißrussland doch um eines der abgeschottetsten Länder Europas – muss man auch dort den Schwachsinn der vermutlich mal wieder von der Pharmaindustrie gesteuerte Massenpanik mitmachen? Ob Feuer gegen Viren hilft, ist fraglich; jedenfalls erwies es sich als Leitthema dieses Vorentscheids.
Gut behütet: die Anastasia.
Jurysieger Jan jaulte vom erloschenen ‘Fire’, die durchweg mit den richtigen Tönen ringende Disco-Daria Khmelnitskaya zeigte sich ob ihrer zwei muskulösen Tänzer ‘On Fire’ und die zarte Nastya Glamozda beklagte mit ‘Burning again’ wohl die mit bunten Stoffgirlanden getarnten, stark juckenden Ekzeme auf ihren Schultern. Auch die feurige Keysi heizte mächtig ein: sie sei so heiß und würzig wie ‘Chilli Pepper’, röhrte die belarussische Elena Foureira zu ihrem billig-brachialen Dance-Banger etwas atemlos ins Mikrofon. Sie zählte ebenso zur Riege der Rückkehrerinnen wie die aparte Ethnofolkpopperin Aura, die sich für ihre in Landessprache intonierte Weise ‘Barani svajo’ (‘Verbiete ihnen’) Unterstützung sowohl von einem Dudelsackspieler (!) als auch einem vierköpfigen Frauenchor holte. Wie um das Grand-Prix-Klischee voll zu machen, durfte daneben zudem weder die Windmaschine fehlen noch eine Rückung. Oder die ebenfalls schon längst nicht mehr praktiziert geglaubte, hohe, lange Note mitten im Lied, deren fehlerfreies Meistern die Interpretin mit einem so überraschenden wie verständlichen Freudenschrei quittierte. Das kam bei den heimischen Zuschauer:innen, die Aura auf ihren vierten Rang wählten, deutlich besser an als bei den Juror:innen, die scheinbar aus einem merkwürdigen Verständnis ihrer Aufgabe heraus solche als altertümlich gebrandmarkten Elemente wie Tonartwechsel und traditionelle Instrumente geradezu zwanghaft abzuwerten müssen glaubten. Wie ich niemals müde werde, zu betonen: Jurys sind Wichser!
Wehrlos im Sturm der Gefühle: Aura.
Zu den Mehrfachstarterinnen gehörte ebenfalls die beim Eurofest nunmehr im dritten Jahr in Folge auflaufende Discoschlager-Königin Angelika Pushnova, die ich schon alleine für diesen fantastischen Namen abfeiere (ernsthaft: wenn Hape Kerkeling die osteuropäische Antwort auf Andrea Berg persiflieren wollte, würde er sich exakt diesen Namen für seine Figur ausdenken, oder nicht?). Sie offerierte uns mit dem federleichten, fröhlichen ‘True Love’ ein mustergültiges Vorentscheidungsbonbon: einen Song also, der es nicht zwingend zum Eurovision Song Contest schaffen muss. Der aber einen der Gründe darstellt, warum ich mir mit niemals versiegender Begeisterung ganze Wochenenden vor dem PC um die Ohren schlage und es mit buffernden Streams und bizarren Auszählungsritualen in unverständlichen Sprachen aufnehme: um von solchen hoffentlich niemals aussterbenden, klassischen Eurovisionsschlagern entschädigt zu werden, die zunehmend nur noch im Rahmen der nationalen Vorentscheidungen existieren. Da sich die von der Pushnova (erwähnte ich bereits, wie gerne ich diesen Namen sage?) besungene wahre Liebe bekanntlich nicht an Oberflächlichkeiten festmacht, begleiteten sie beim Auftritt zwei hinreißend anzuschauende, barfüßige Tänzer, die mit einer engagierten Hochleistungschoreografie um das Herz der Interpretin buhlten, welche derweil lieber mit dem Kameramann Händchen hielt.
Bitte unbedingt jedes Jahr wieder antreten, bitte stets erneut mit einem hübschen Discoschlager: Angelika Pushnova.
Dass die in der Vergangenheit nicht unbedingt durch besondere Vokalkraft aufgefallene Sängerin trotz ebenfalls engagierten Mittanzens stimmlich nicht aus der Reihe fiel, lag vor allem an ihren Backings, die ihr viel Arbeit abnahmen. Und die Arbeit abnehmen, um den Kreis zum Anfang wieder zu schließen, sollte man bitte auch William Lee Adams. Sofort!
https://www.youtube.com/watch?v=RBzAPKF9u2E
Das komplette Eurofest 2020. Das Zauberwort im Siegerbeitrag war wohl der “Zasterlaster”, der am Lieferanteneingang des TV-Studios andockte, die Juroren mit Argumenten zu versorgen.
Vorentscheid BY 2020
Freitag, 28. Februar 2020, aus den BelarusFilm-Studios in Minsk, Weissrussland. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Helena Meraai und Evgeny Perlin.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
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01 | Napoli | Don’t let me down | 03 | 29 | 09 |
02 | Sasha Zakharik | Rocky Road | 02 | 43 | 08 |
03 | Anastasia Malashkevich | Invisible | 04 | 64 | 05 |
04 | Chakras | La-ley-la | 12 | 59 | 02 |
05 | Nastya Glamozda | Burning again | 00 | 19 | 10 |
06 | Nastasea | Hello | 01 | 09 | 11 |
07 | Jan Yarosh | Fire | 06 | 80 | 03 |
08 | Angelika Pushnova | True Love | 05 | 47 | 07 |
09 | Daria Khmelnitskaya | On Fire | 00 | 13 | 12 |
10 | Aura | Barani svajo | 07 | 30 | 06 |
11 | Keysi | Chilli Pepper | 08 | 61 | 04 |
12 | Val | Da Vidna | 10 | 69 | 01 |
Das größte Rätsel bei der Bepunktung von Wiwi ist für mich eher, warum er Chili Pepper nicht seine vollen 12 Punkte gegeben hat. It doesn’t get anymore camp than this song.
Der Siegertitel raubt mir keine Energie, gibt mir aber auch keine. Kein Reinfall, aber auch kein Highlight. Füllmaterial.
Ich muss ja zu meiner Schande gestehen, dass ich diesen Retro Look und Sound der Sieger mag^^
Trotzdem wäre mir die Chakra-Nummer auch lieber gewesen.
p.s. heult da nicht der Ivan schon wieder am Anfang?
Ich freue mich wenn beim ESC Lieder antreten die irgendwie im Hier und Jetzt existieren zu scheinen und die man sich auch ohne dazugehörige Bühnenshow anhören kann. Von daher bin ich froh dass Val statt Chakra gewonnen haben. Der Song ist cool und lässig und ernsthaft eines meiner Favoriten bisher.