Was für eine Blamage! Groß und glamourös sollte es werden; in einem technischen Fiasko endete es für den norwegischen Sender NRK, der aus Anlass des sechzigjährigen Jubiläums seiner stets unter der selben Marke organisierten Eurovisionsvorentscheidung Melodi Grand Prix (liest du mit, NDR?) tief in die Tasche griff und das Format auf sechs Shows erweiterte. In fünf regionalen Vorrunden (Nord, Süd, Mitte, Ost und West, was merkwürdig wirkt in einem Land, dessen Geografie eher wurmförmig anmutet als quadratisch) siebte man aus 20 Kandidat:innen im Duellverfahren jeweils eine:n Teilnehmer:in für das gestrige Finale heraus, wo sie auf weitere fünf fix gesetzte Konkurrent:innen trafen. Bereits in diesen Vorrunden zeigte sich, warum das MGP aus gutem Grund sonst nur aus einer einzigen Sendung besteht: so viel Talent vermag das skandinavische Land nicht aufzubieten, dass sich damit beliebig viele Runden füllen ließen, das musikalische Angebot erwies sich als größtenteils arg dürftig. Kein Wunder, dass der NRK die Zahl der Semifinalist:innen bereits im Vorfeld von 40 auf 20 gekürzt hatte und die Sendungen mit lustigen Archivclips über Pleiten, Pech und Pannen aus 60 Jahren MGP-Geschichte streckte. Das sollte sich jedoch als schlechtes Omen erweisen…
Wenn Du schon seit 25 Jahren unter ständiger Migräne leidest: die MGP-Siegerin Ulrikke Brandstorp sehnt sich nach ärztlicher Aufmerksamkeit.
Die Abstimmung legte der Sender in allen sechs Runden löblicherweise alleine in die Hände der Zuschauer:innen, die ausschließlich im Netz oder per App votieren sollten: Telefone muten schließlich mehr und mehr wie eine obskure Steinzeittechnik an. Dabei kam es jedoch bereits in der ersten Vorrunde zu Problemen; einzelne Nutzer:innen berichteten, dass sie im entscheidenden letzten Duell nicht für die (dort letztlich unterlegene) Lisa Børud stimmen konnten. Der Sender justierte nach, die restlichen Semis verliefen problemlos. Bis zum gestrigen Finale. Dort brachen in der ersten Abstimmungsrunde unter dem Ansturm der Zuschauer:innen die Server zusammen. Als Auslöser erwies sich dabei ironischerweise nicht die Votingfunktion, sondern die Möglichkeit, per App während der Livesendung Emojis über den Bildschirm zu schicken. Die Norweger:innen nutzten diese Spielerei derartig intensiv, dass sie die Rechner überlasteten. Eine für Notfälle bereitgehaltene, dreißigköpfige Zuschauer:innenjury musste einspringen und bestimmte ersatzweise, welche vier Kandidatinnen ins Goldfinale weiterziehen durften. Was natürlich für einen Aufschrei sorgte, zumal besagte Jury unter einer offensichtlichen Penisphobie litt und sämtliche männlichen Semifinalisten geschlossen aussortierte, darunter mehrere potentielle Siegesaspiranten.
https://youtu.be/171OxMrpNS8
Auf seinem Bio-Bauernhof gilt noch die traditionelle Rollenverteilung: Magnus Bokn.
So zum Beispiel der frühere norwegische Eurovisionsvertreter Didrik Solli-Tangen, der in Begleitung seines jüngeren, deutlich heißeren Bruders Emil mit ‘Out of Air’ eine herrlich harmonisch gesungene, wenn auch arg pompös-klebrige Neunzigerjahre-Boybandballade ablieferte. Dafür aber stimmte die Chemie zwischen den Geschwistern derartig, dass bei dementsprechend prädisponierten Zuschauer:innen vermutlich die inzestuösen Phantasien Amok liefen. Der bärige, mit unprofessionellen (Knast?) Unterarmtätowierungen übersäte Magnus Bokn wiederum nährte mit seiner mediävalen Inszenierung mit tanzenden Mägdelein, Stallburschen und Kindern zur keltisch anmutenden Kelly-Family-Melodie von ‘Over the Sea’ meinen nagenden Verdacht, dass sich bei denjenigen, die am entschlossensten auf Heile Welt machen, die meisten Leichen im Keller finden. Der massige, wie ein Koloss statisch herumstehende Rein Alexander schließlich gab uns mit dem musicalhaften, wunderbar billigen Schlager-Trash-Titel ‘One last Time’ den kriegslüsternen Wikinger, wirkte mit seinen ins Haupt- und Barthaar geflochtenen Zöpfchen und Extensions sowie in Begleitung von gleich sechs jugendlichen, ihn wie Rehböcklein in der Frühlingsbrunft umspringenden Tänzern doch nur wie das skandinavische Äquivalent zum griechischen Sugardaddy von 2010, Giorgos Alkeos (‘Opa’).
https://youtu.be/yEWs4JJz3GA
Rasmussens Großvater Rein Alexander wollte – anders als sein friedliebender Enkel – noch erobern und unterwerfen. Behauptet er zumindest.
Doch sie alle mussten draußen bleiben. Statt ihrer ließen die Juror:innen vier Frauen ins Goldfinale weiterziehen, drei davon die Sieger:innen der regionalen Vorrunden. Gewinnen sollte am Ende jedoch die einzige fixe Finalistin. Nach einem ausgesprochen hübschen Pausenact, in dem norwegische Menschen aller Altersklassen, zusammengestellt zu kleinen Chören, ein Medley heimischer Eurovisionsbeiträge anstimmten, funktionierte die Voting-App wieder, so dass die übrigen Acts mit Hilfe der Zuschauer:innen zunächst auf zwei reduziert werden konnten. In der finalen Abstimmung standen sich die spätere Siegerin Ulrikke Brandstorp mit der von ihr selbst sowie von Kjetil Mørland effektiv komponierten und von der sehr verkniffen dreinblickenden Interpretin herausragend gesungenen Ballade ‘Attention’ und ihre Konkurrentin Kristin Husøy gegenüber, für deren Midtempotitel ‘Pray for me’ deren Songschreiberteam zwei Teile Gospel und einen Teil Country zusammengerührt und über dem Lagerfeuer getrocknet hatte. Das wiederum nach Regionen aufgeschlüsselte Schlussvoting lieferte ein hochspannendes Kopf-an-Kopf-Rennen, illustrierte aber auch das Stadt-Land-Gefälle: in den sehr dünn besiedelten, ländlich geprägten nördlichen Regionen führte Frau Husøy. Die entscheidenden Stimmen, mit denen sich die ehemalige Voice-Teilnehmerin Ulrikke einen mit weniger als einem Prozent Vorsprung wirklich hauchdünnen Sieg erkämpfte, kamen aus den südlichen Ballungsräumen.
https://youtu.be/bHShSfZf7pY
Ein Y weniger und der Nachname käme einer genderverwirrten Beleidigung gleich: Kristin, Söhnin einer Sexarbeiterin.
Viel Aufwand also für eine konventionelle, wenn auch gut gemachte Eurovisionsballade, die Norwegen in Rotterdam wohl eine mittlere Top-Ten-Platzierung sichern dürfte. Und viel Ärger mit den zu Recht erbosten, ausgebooteten Fans, zumal sich im Nachgang herausstellte, dass die Not-Jury auf Basis der Studiofassungen und nicht der Live-Auftritte wertete. Insbesondere Fans des Schlager-Wikingers Rein Alexander schäumten, wäre dieser nach einem vom Boulevardblatt VG nachträglich durchgeführten (und natürlich nicht repräsentativen) Online-Poll ins Goldfinale gezogen. Hätte dort aber, auch das gehört zur Wahrheit, wiederum gegen Ulrikke Brandstorp den Kürzeren gezogen, die – und das muss selbst ich als Balladenhasser einräumen – fraglos zu Recht siegte. Versöhnlich stimmte immerhin die ansteckende, kindlich-glaubhafte Freude der Gewinnerin, die in der Siegerreprise mehrfach zwischen jauchzenden Kieksern und voller Gesangsstimme hin- und herwechselte und damit meinen Groll gegen sie zerstäubte.
Zweieinhalb Stunden Pomp und Peinlichkeiten: das komplette norwegische MGP 2020.
Vorentscheid NO 2020
Melodi Grand Prix. Samstag, 15. Februar 2019, aus dem Spektrum in Trondheim, Norwegen. 10 Teilnehmer:innen. Moderation: Kåre Magnus Bergh, Ingrid Gjessing Linhave, Ronny Brede Aase.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Silberfinale | Anrufe |
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01 | Raylee | Wild | Q | x | – |
02 | Didrik + Emil Solli-Tangen | Out of Air | x | – | – |
03 | Magnus Boken | Over the Sea | x | – | – |
04 | Akuvi Kumordzie | Som du er | x | x | – |
05 | Kristin Husøy | Pray for me | Q | Q | 194.667 |
06 | Rein Alexander | One last Time | x | – | – |
07 | Tone Damlie | Hurts sometimes | x | – | – |
08 | Sondrey | Take my Time | x | – | – |
09 | Ulrikke Brandstorp | Attention | Q | Q | 200.345 |
10 | Liza Vassileva | I am gay | Q | x | – |
“Mit inzestuösen Fantasien prädisponierte Zuschauer” bei den Solli-Tangen Bros – keine Ahnung, wovon Du redest… das Lied war einfach…äh, ja, klar, ganz OK. Und der Text auch. Ehrlich!
Zum Siegertitel:
Eine Frau mit hohen Schultern und kurzem Hals presst sich einen ab bei ihrer sehr klassischen, mit Drama überladenen ESC-Ballade.
Mehr ist da nicht (gut, singen kann sie natürlich).