Spüren Sie ihn auch, liebe Leser:innen, den steigenden Adrenalinspiegel? Kein Wunder: pünktlich zum 1. Februar erhöhte die laufende Vorentscheidungssaison 2020 am gestrigen Supersamstag europaweit die Drehzahl und bombardierte uns mit gleich vier Semifinalen, darunter der ersten Runde des schwedischen Melodifestivalen. Überall, so scheint es, kommt man mittlerweile in die Gänge. Außer in Deutschland. In Hamburg schreckte man gestern nur kurz aus dem eurovisionären Dornröschenschlaf auf und postete folgende Nicht-Info zum heimischen Vorentscheid:
Ende Januar ist vorbei, wir haben das Gefühl, wir haben etwas vergessen.. 🤔
Tut uns sehr leid, wirklich. Am 10. Februar gibt es mehr Infos. Versprochen! 🙏#ESC2020 #UnserLiedfürRotterdam #ULfR pic.twitter.com/emK1uDoY1F
— ESC Deutschland (@eurovisionde) February 1, 2020
Und ehrlich gesagt: egaler könnte es mir mittlerweile nicht mehr sein, erwarte ich vom NDR schon längst nichts mehr außer gelegentlichen versehentlichen Zufallstreffern. Daher flugs wieder zurück zum gestrigen Supersamstag, dessen wichtigste Show bereits am helllichten Nachmittag über die Antenne ging: im TV-Studio des moldawischen Senders TRM nämlich scheuchte ein hoch effektiver Moderationsroboter in unter zwei Stunden Sendezeit ganze 32 Beiträge über die steril ausgeleuchtete Bühne, von denen eine fünfköpfige Jury nach reiflicher Überlegung 20 Titel für das zunächst auf der Kippe stehende, nun aber doch stattfindende Finale der O Melodi pentru Europa am 29.02.2020 auswählte. Enttäuschend wenig Trash bot die musikalisch erstaunlich gut bestückte Vorrunde, wirkliche Fehlgriffe musste man mit der Lupe suchen. Das ist nicht mehr mein Moldawien!
https://youtu.be/AvsqaVLi2Sc
Einzig die OMPE-Legende Tudor Bumbac enttäuschte nicht und lieferte verlässlich wie immer das Highlight der moldawischen Auditions.
So blieb es dem legendären Tudor Bumbac vorbehalten, unter Beweis zu stellen, dass auch hohes Alter nicht vor schlimmem Lampenfieber schützt. Wie eine hypnotisierte Schildkröte im Lichtkegel des herannahenden Autos stand der mehrfache OMPE-Teilnehmer da und brachte vor Aufregung kaum den Text seines apart-nostalgischen Schunkelschlagers ‘Te-am vazut în vis pe tine’ heraus, dessen Melodie zu den wenigen des Nachmittags gehörte, die man nicht vier Sekunden später schon wieder vergessen hatte. Der schönste Moment kam aber nach dem vorletzten Refrain: da verbeugte sich der rüstige Senior bereits erleichtert und bedankte sich artig – während das Playback im Hintergrund fröhlich weiter lief, denn an dieser Stelle war eigentlich noch eine Rückung vorgesehen. Königlich! Ähnlich ging es Iuri Rîbac, dem Astronauten-Tänzer von Lidia Isac vom ESC 2016, der heuer unter dem Künstlernamen Ray Bark und mit einem geradezu hinreißenden Spitzbart antrat. Leider drückte sich sein Songtitel ‘I’m shy’ auch im akustisch kaum wahrnehmbaren Gesang aus. Schade drum! Schade auch um Moldawiens international berüchtigsten Popstar, Sasha Bognibov, den die einheimische Jury – wie jedes Jahr – erneut stumpf aussortierte. Wobei: im Hinblick auf seine ungelenken Verrenkungen, die dünne, brüchige Stimme und vor allem Sashas verstörendem Serienmörder-Blick sollte diese Entscheidung als Beruhigung für alle dienen, die vorhaben, im Mai nach Rotterdam zu reisen.
Wir wissen nicht, welche Drogen der Bognibov so einwirft. Aber es sind zu viele und die falschen.
Von den ins Finale delegierten Künstlern verdient vor allem Dima Jelezoglo eine lobende Erwähnung, der mit ‘Do it slow’ nicht nur einen grandiosen, apart vorgejodelten osmanophilen Ethno-Disco-Stampfer präsentierte, sondern dazu auch besonders betörend seine schmalen Hüften wiegte. Eine dringende Warnung daher an meine heterosexuellen männlichen Leser: wer bei diesem Auftritt länger als 30 Sekunden zuschaut, wird unvermeidlich schwul! Der einstmals so sexy ausschauende Pasha Parfeny ließ in Sachen Frisur und Outfit den deutschen Schlagersänger Wolfgang Petry wieder auferstehen – ein schockierender modischer Missgriff! Über seinen arg unstrukturierten Song lohnen sich die Worte nicht. Ohnehin kann es nur eine Wahl für Rotterdam geben: den herrlich trashigen Ethnostampfer ‘Dale Dale’ von Diana Rotaru! Allerdings steht zu befürchten, dass statt ihrer Natalia Gordienko das Ticket in die Niederlande bereits in den Händen hält: ihr unerträglich zähes Midtempo-Gekreische ‘Prison’ nämlich stammt aus der Feder des russischen Schlageroligarchen Philip Kirkorov, und der kauft sich seine Eurovisionsteilnahme gerne zum Vorzugspreis im finanziell schlecht betuchten Moldawien, wo die Juroren günstig zu bestechen und das Televoting bereits mit geringem pekuniärem Einsatz auszuhebeln ist. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Wunderhübsch: Dima Jelezoglu als verzauberter Dschinn.
Und damit nach Schweden. Die Auftaktrunde des diesjährigen Melodifestivalen lieferte nur wenige starke Popmelodien und ungewohnt viel erschreckend schwache Gesangsleistungen. So zum Beispiel beim Schönling Robin Bengtsson, der mittlerweile vor lauter Botox kaum noch aus den Augen zu schauen vermag, und der sich insbesondere in den höheren Stimmlagen seines mittelmäßigen Popstampfers ‘Take a Chance’ (das im Text folgerichtig folgende “…on me” ließ man aus berechtigter Angst vor Vergleichen mit Abbas gleichnamigem legendärem Klassiker im Titel weg) hoffnungslos überfordert zeigte, wovon weder die aparte Gesichtsbehaarung abzulenken vermochte noch der Augenkrebs erzeugende French Tuck seines Seidenhemdes (hinten strack reingestopft, vorne wülstig überhängend). Dennoch kam er ins Finale weiter, anders als sein stärkster Konkurrent um die Östrogenstimme, Felix Sandman. Der blieb immerhin innerhalb seiner ebenso limitierten Range und murmelte den klugen Text seiner musikalisch leider eher egalen Hymne gegen toxische Maskulinität mehr, als ihn zu singen. Ein Text übrigens, und das meine ich völlig unironisch, der unbedingt Einzug in sämtliche europäischen Schulbücher halten sollte. Denn dass sich ganze 40 Jahre nach meiner Jugend an den Zuständen scheinbar noch immer nichts geändert hat, ist erschreckend, beschämend und desillusionierend.
Bitte, bitte, bitte lasst Männer endlich Menschen sein und ihre Gefühle zeigen!
Ein Land weiter, in Norwegen, entführte uns die MGP-Vorrundenteilnehmerin Hege Bjerkreim in die bunte Welt der Achtzigerjahre-Videospiele und turnte als dreidimensionales Comic-Sternchen ‘Pang’ durch die Gegend, begleitet von einem spacigen Elektrotrack, der leider eine gute halbe Minute zu lange daher kam, um zu reüssieren. Sie verlor ihr Duell gegen die Nordic Tenors, die in ihrem alle Alarmsignale auslösenden Popera-Schleimpropfen ‘In this special Place’ von der Suche nach der einen Person fürs Leben sülzten, die sie sie schließlich wo fanden? “At this special Place called Home”, wie sie in der letzten Songzeile auflösten. Ein Hohelied also auf den Inzest? Schaut man sich die Drei so an, glaubt man es sofort. Wobei nur die Frage bliebt, ob sie untereinander oder doch mit der Mutter… lassen wir das. Diesen erschütternden Einblicken in die Abgründe der norwegischen Landbevölkerung setzte der siegreiche, an allen offen sichtbaren Körperstellen mit Tattoos minderer Güte bemalte, sehr dezent und sehr niedlich lispelnde Kuschelwikinger Magnus Bokn mit ‘Over the Sea’ eine wohltuend putzige Countrymelodei entgegen, die dank der kompositorischen Mittäterschaft von JoWSt und Alexander Rybak mit genügend rhythmischem Bumms und Violingefiedel aufwarten konnte, um zu Recht ins Finale der Melodi Grand Prix weiterzuziehen. Wobei auch der von Bokns Backgrounds inszenierten, keimfreien Kelly-Family-Idylle etwas zutiefst Beunruhigendes innewohnt. Aber manchmal tut es bereits das etwas weniger Gruselige.
https://youtu.be/5hwFpVrRojg
Bart, Bäuchlein, Brustbehaarung: als bekennender Bärchenfetischist bin ich leicht zu haben für Magnus Bokn.
Bleibt abschließend noch Litauen, wo es gestern Abend im ersten von zwei Semifinals von Pabandom iš naujo! den offen schwulen Gender-Bender-Künstler Alen Chicco schrägte. Und das, obwohl er sein düster-dramatisches, stimmlich anspruchsvoll konstruiertes Machwerk ‘Somewhere out there’ sehr viel klarer auf den Punkt gesungen präsentierte als noch in der ersten Vorrunde und sich anstelle des dort verwendenden, eher verstörenden Alien-Make-ups für eine dezentere, aber noch immer deutlich als queer zu erkennende Kriegsbemalung entschieden hatte. Dennoch sollte es nur für den sechsten von neun Rängen reichen, übrigens bei Jury wie Publikum gleichermaßen. Zu kompliziert und zu wenig eingängig war die Nummer womöglich, und westliche Ohren wie meine konnten sich auch nicht am Text festklammern, da – wie so oft jenseits der Oder-Neiße-Linie – es schon schwierig schien, überhaupt nur die Gesangssprache festzumachen. Ich weiß, dass die EBU sich ungern in die nationalen Vorentscheidungen einmischt, aber könnte sie nicht dennoch dort demnächst englische Untertitel verbindlich vorschreiben? Bitte? Netflix kann das doch auch!
Man möchte Alen Chicco Fleißpunkte für anspruchsvolle Musik und Gesang verleihen. In meine Playlist kommt ‘Somewhere out there’ dennoch nicht.
Eine ungute Vorahnung für das Eurovizijos-Finale in 14 Tagen warf das Abstimmungsergebnis der Weiterrücker auf: zwar entschieden sich die Zuschauer:innen mit überwältigender Mehrheit für das grandiose ‘On Fire’ von The Roop, das mit einer derartig fantastischen, halbironisch-überwältigenden Choreografie aufwartete, dass man selbst über die unvermeidlichen, eigentlich seit 1990 nicht mehr tolerablen Fire-Desire-Reime hinwegsehen konnte. Doch die Jury bevorzugte die ewige Vorentscheidungsteilnehmerin Aistė Pilvelytė und ihre von Thomas G:sson verbrochene, auch erst zum ungefähr zwei Millionsten Mal gehörte Fließbandnummer ‘Unbreakable’, die nun wirklich klingt, als habe jemand sämtliche schwedischen Grand-Prix-Schlager von 1961 bis heute in einen Mixer geschüttet und einmal kräftig durchgerührt. Natürlich durfte auch die Windmaschine nicht fehlen! Leider genießt bei Punktegleichheit in Litauen das Plazet der Jury Vorrang, so dass zu befürchten steht, dass der geistesschwache Sender LRT den generischen Mumpitz auch im Finale mit Gewalt durchdrücken könnte. Und wenn nur aus dem Grund, um Frau Pilvelytė endlich von weiteren Bewerbungen abzuhalten, ähnlich wie es HRT bereits (vergeblich) mit Jacques Houdek versuchte. Bitte Herr, wirf Hirn vom Himmel!
Bilal Hassani hat angerufen und will seine handgespielte Krone zurück: The Roop.
Herlich wie immer. Danke!
Du solltest echt mal ein buch schreiben, würd ich sofort kaufen.
Ich glaube, mit “the roop“hätten wir den ersten kanditaten, der in rotterdam ganz vorne mitmischen könnte. Aber ich liebe halt auch schwedenschlager, gerne auch in überdosis. Aisté hätte zwar in rotterdam weniger chancen, mir gefällts trotzdem tiptop.
Vielen Dank! Das Buch gab’s übrigens bereits (gemeinsam mit Mario Lackner), hieß “Friede, Freude, Quotenbringer” und ist 2015 in kleiner Auflage erschienen. Ist aber komplett vergriffen.