Bevor am heutigen Abend beim weißrussischen Vorentscheid zwölf leider durch die Bank uninteressante Songs im Kampf um die Fahrkarte nach Rotterdam antreten, gilt es, noch schnell einen nostalgisch getrübten Blick auf die legendären jährlichen öffentlichen Auditions in Minsk zu werfen. Diese fanden heuer vor gut einem Monat statt und versammelten weniger Interessierte als in früheren Jahren. Denn im Versuch, der unter anderem mit den ehemaligen Repräsentant:innen Zena und Navi bestückten Auswahljury das Schlimmste zu ersparen, hatte der Sender BTRC verfügt, dass nur noch weißrussische Staatsangehörige vorsingen dürfen. Nicht alle kapierten das: neben 65 inländischen Acts bewarben sich dennoch 30 ausländische, die man fein säuberlich aussortierte. 49 Auserwählte durften sich schließlich vor der Kamera präsentieren, der größte Teil davon leidende Frauen. Doch auch ein paar wenige Trash-Perlen ließen sich ertauchen, so wie die belarussischen Kessler-Zwillinge Katya und Volga. Zwar vermochten die beiden eineiigen Schwestern weder mit dem gesanglichen noch dem tänzerischen Talent des historischen deutschen Duos mitzuhalten, dafür aber überzeugten sie in den Kategorien Langbeinigkeit, Blondheit und Stoizismus. Punkte gab es auch für das stilsichere Siebziger-Jahre-Outfit und den dazu passenden, originalgetreuen Discoschlager ‘Noy’.
Als habe sich Amanda Lear geklont: Katya und Volga.
Ihr Pech, dass ihnen das grell ausgeleuchtete BTRC-Studio keine Möglichkeit bot, ihre Backgroundsängerinnen zu verstecken, so dass auffiel, das diese beiden ungefähr 90% der Stimmarbeit leisteten. Was die Jury dazu veranlasste, die Zwillinge nach erfolgtem Vorsingen dazu aufzufordern, zu Prüfzwecken den Refrain nochmal ohne Fremdunterstützung acappella anzustimmen. Die Zwillinge bewerkstelligten dies übrigens überzeugend. Eine, wie ich finde, sehr schöne Idee, die man sehr gerne beim Melodifestivalen übernehmen dürfte! Einen flotten Uptemposong im retrohaften Mid-Achtziger-Synthie-Sound präsentierte der in einem roséfarbenen Trainingsanzug angetretene Solokünstler Artyom Mikhalenko mit ‘Move’. Seine Moves beschränkten sich allerdings auf gelegentliches Shoe-Shuffling im Barei-Stil: eindeutig zu wenig für eine dermaßen energetische Nummer. Gesanglich versuchte er, uns in die goldene Ära von Modern Talking zurück zu entführen, wobei er höchstpersönlich gleich beide Stimmfarben übernahm, einschließlich des im Original durch massive Vocoderverfremdung erzielten Kastratengejaules von Dieter Bohlen. Das klang bei Artyom, der dies ohne technische Hilfsmittel zu bewerkstelligen suchte, dann doch etwas windschief und fiepsig. Aber lustig!
Wie der uneheliche Sohn von Dieter Bohlen und Thomas Anders: Artyom.
Einen mit ihrem Namen versehenen, durchsichtigen Heiligenschein aus Plexiglas hatte sich die Teilnehmerin Tani Faredo aufgesetzt. Aus unerfindlichen Gründen schien dieser ihr nicht nur aufs Hirn, sondern auch auf die Stimmbänder zu drücken: kaum mehr als ein Flüstern war von ihr zu vernehmen. Schreckliches muss dem Kontestanten Serge Berkov zugestoßen sein: er habe sich in den Teufel verliebt, wie uns der schmerzbeladene Jüngling berichtete. Nun stiehlt der Beelzebub, wie wir aus religiösen Mythen wissen, üblicherweise gerne die Seele eines Menschen; bei Serge hingegen schien er sich mit dessen Stimmbändern zu begnügen. Praktisch nicht einen einzigen Ton seiner jammervollen Depri-Ballade traf dieser richtig, zur diabolischen Freude aller Car-Crash-Connaisseure. Er scheiterte natürlich wie alle hier vorgestellten Titel an der Vorauswahljury, in seinem Fall zu Recht. Zu den Selektionsopfern zählte allerdings auch das gefühlt bislang an jeder einzelnen belarussischen Vorentscheidung beteiligte Herren-Duo Provokatsyia, dank hysterischer Teenager-Liebe stets führend im Televoting und von der Jury jedesmal konzertiert heruntergevotet. Und obschon ihre komplett egale Poprocknummer ‘Suddenly’ keinesfalls zu den schlechtesten Beiträgen des Nachmittags zählte, verhinderte man sie diesmal gleich im Vorfeld.
Wenn Serge schon leidet, sollen wir das auch: es war ein einzig Heulen und Zähneklappern.
Offensichtlich auch in die weißrussischen Kinos muss es der Disney-Zeichentrickfilm König der Löwen geschafft haben. Anderswo vermag die Inspiration für den Beitrag von Alena Grand und Pasha Pashkevich kaum herzurühren, glich ihre Hookline “Can you feel the Love” doch Ton für Ton und Wort für Wort dem Titelsong des kapitalistischen Kinderstreifens. Nur das dort abschließende ‘Tonight’ hatte man vorsorglich weggelassen. Für zusätzliche Zuschauer:innenverwirrung sorgte, dass Alena zunächst alleine in Begleitung eines kernigen, anmutig voguenden Tänzers sang, der unmittelbar nach besagter, inkriminierter Hookline jedoch – wohl eine teure Urheberrechtsklage antizipierend – schleunigst das Weite suchte. An seiner Stelle spazierte mit Pasha der vermutlich weißeste Rapper in der Geschichte der kulturellen Aneignung schwarzer Musikkultur ins Bild. Auch er hatte den Braten zwischenzeitlich gerochen und hielt von seiner diebischen Duettpartnerin weitestmöglichen Abstand; fast stieß er dabei den eigentlich den rechten der beiden den Act umschließenden Trommler um.
Vergleichen Sie selbst: Can you feel the Love…
…tonight?
Hört sich genauso an, wie unzählige, ähnlich produzierte Songs. Es hebt sich in keinster Weise von diesen ab. Keinen nennenswerten Teil der in Erinnerung bleibt und ohne ‘Ecken und Kanten’.
Gerade diese machen aber einen erfolgreichen Beitrag aus. Meiner Meinung nach zu durchschnittlich, um in Rotterdam ordentlich zu punkten.
Erinnert mich eher an den Refrain-Beginn von Aserbaidschan 2015 “Hour of the wolf”.
Ja, die Clips der weißrussischen Audition habe ich vor ein paar Wochen ebenfalls sehr genossen.
Schmerzlich vermisst habe ich allerdings Herrn Spasiba, der die letzten Jahre neckische Akzente zu setzen vermochte, indem er so manchen hoffnungslo.…ähm…hoffnungsvollen Aspiranten abgewü.…sensibel darauf hingewiesen hatte, es doch mit anderem als singen zu versuchen.