Bevor heute in wenigen Minuten der nächste Supersamstag beginnt, gilt es noch etliche Perlen vom letzten Wochenende nachzuliefern, an welchem ich im Zuge des längsten Vorentscheidungstages der bisherigen Eurovisionshistorie aus arbeitskapazitären Gründen leider gezwungen war, etliche Vorrunden und Semis zu vernachlässigen. Den herbsten Verlust gab es dabei in der Ukraine zu beklagen. Dort hatten wir das seltene Vergnügen, einem knapp vierminütigen schamanistischen Ritual beiwohnen zu dürfen, zu dem uns Katya Chilly und ihr Geistheilerzirkel einluden. Der bestand aus einem pittoresk gekleideten Druiden, der völlig in sich versunken heilige Verse murmelte; drei Damen, die den, wenn man so will, entfernt an die weißen Schreigesänge der letztjährigen polnischen Vertreterinnen Tulia erinnernden Refrain trugen; sowie der in einer Tracht angetanen Frontfrau, die selbst lediglich hin und wieder ein paar tiefe Töne beisteuerte, zu den Gesängen ihrer Backings aber stets lippensynchron den Mund öffnete, so dass es wirkte, als sei sie besessen und trällerte in Zungen. Ein Ambient-Trance-Musikbett mit synthetischem Vogelgezwitscher und ein psychedelischer Backdrop verstärkten den audiovisuellen Gesamteindruck eines exquisiten Magic-Mushroom-Trips, der einen die überraschende Wartezeit zu Beginn des Auftritts, als für eine knappe halbe Minute lediglich weißes Rauschen zu hören war und sonst nichts passierte, vergessen ließ.
In der Tat ausgesprochen chillig: Katya nimmt uns mit zu einer heilenden schamanistischen Geisterbeschwörung.
Leider vermochten sich weder die ukrainischen Zuschauer:innen noch die dreiköpfige Jury, heuer bestehend aus einem Radio-DJ, Tina Karol und wie immer Andrey Danilko alias Verka Serduchka, für die fantastische Darbietung so richtig zu erwärmen, sodass ‘Pich’ nicht ins Finale weiter zog. Und das ist ein echtes Verbrechen, denn einen so sensationellen Beitrag sahen und hörten wir zuletzt bei der ersten Türkvizyon von 2013 in Form des tuwanischen Kehlgesangsstars Sailyk Ommun. Insoweit es im Vorfeld der Vidbir Bedenken gegeben haben sollte, die als Folge des letztjährigen Eklats um Maruuv vom Sender UA:PBC neu eingeführte Krim-Klausel könne sich nachteilig auf die musikalische Qualität des ukrainischen Vorentscheids auswirken, so erwiesen sich diese als unbegründet. Mit der Hübsche-Boys-Band Cloudless und dem in irgendeiner Form mit Jamala verwandten Gio schieden gleich zwei Acts völlig zu Recht aus, deren Songs im hochklassigen Umfeld der Vidbir schlichtweg zu mittelmäßig wirkten, in einem deutschen Vorentscheid hingegen als ernsthafte Konkurrenten durchgegangen wären. In beiden Fällen erwiesen sich die Songtitel (‘Drown me down’ und ‘Feeling so lost’) als selbst erfüllende Prophezeiung, insbesondere bei Gio, der tatsächlich ein wenig verloren wirkte. An die großen alten Tage der Eesti Laul erinnerte hingegen das Trio [O] mit der superlässigen, trompetenlastigen Elektropopsong ‘Tam, kudy ya ydu’ (‘Wohin ich auch gehe’), das zu meiner großen Bestürzung ebenfalls ausschied.
Neues Krankheitsbild in der Ukraine: die Svarowski-Akne, in folge derer gläserne Pusteln das Gesicht entstellen. Hier zu beobachten bei der Fr[o]ntfrau.
Was mir die Überleitung zu einem kurzen Exkurs nach Estland ermöglicht, wo am vergangenen Donnerstag das erste Poolfinaal des besagten Formats über die Bühne ging. Und auf ganzer Linie enttäuschte. Nicht nur im Hinblick auf die katastrophale Tonabmischung, das armselige Bühnenbild und die lieblose Präsentation, die sich zu einem Eindruck der völligen Unprofessionalität vermischten, wie man ihn vielleicht noch im Rahmen eines belarussischen Vorsingens tolerieren würde, keinesfalls aber bei der ehemals progressivsten Eurovisionsvorentscheidung Europas. Viel schwerer wog das inspirationslose, von jedweder Coolness gereinigte Feld der Beiträge. Wollte man früher einmal, so wie heute bei der Vidbir, um beinahe jeden in einer der Vorrunden ausgeschiedenen Song bittere Tränen der Trauer vergießen, so blieb am Donnerstag lediglich müdes Achselzucken. Nicht ein einziger der ausgeschiedenen Titel war in irgendeiner Form der Rede wert und selbst die ins Finale weitergewählten Acts schienen teils stark überrascht, so wie die ‘Verona’-Kultfrau Laura Põldvere, welche die Eesti Laul heuer offensichtlich nur nutzen wollte, ihrer neuen Single ‘Break me’ Aufmerksamkeit zu verschaffen, aber keinesfalls damit rechnete, mit ihrer müden, selbst mit komponierten Countryballade weiterzukommen. Auch wenn sie sich eigens wie für ihre nächste Schicht im Laufhaus aufbrezelte und ETV ihre Darbietung mit der Einspielung eines von Greta Salómes ‘Hear them calling’ inspirierten Videoclips aufpeppte.
Die Königin des Resting Bitch Faces, Laura, kam direkt von ihrer Haupterwerbstätigkeit im horizontalen Gewerbe zur Eesti Laul.
Und schon verfügen wir über den nächsten eleganten Übergang, denn in Frau Salómes Heimat Island fand vergangenen Samstag das erste Semifinale des Söngvakeppnin statt. Auch im dortigen, lediglich fünf Acts umfassenden Teilnehmer:innenfeld fand sich jedoch nichts wirklich Berichtenswertes, mal abgesehen vielleicht vom Strunzgeile-Wikingermänner-Quartett Dimmar, das neben der Optik mit melodischem Achtzigerjahre-Metal überzeugte und zu Recht ins Finale weiter zog. Zu den zunächst Ausgeschiedenen (unter welchen der Sender RÚV nach Belieben noch eine Wildcard verteilen kann) zählte hingegen Kid Isak, den ich aufgrund der Stimmlage und Aufmachung offen gestanden zunächst für eine Lesbe hielt. Bei dem es sich einem Interview mit der Fan-Seite escbubble zufolge aber wohl um einen jungen isländischen Sänger handelt. Dort sagte das Kid, befragt nach seinen Plänen für die Söngvakeppnin-Choreografie: “Ich will, dass es nicht prätentiös wird. Es soll sich natürlich anfühlen und nicht durchgescriptet”. Ist ihm gelungen, auch wenn sich die Natürlichkeit vor allem in Form von aufregungsbedingter, kompletter Schreckensstarrheit äußerte. Was aber immer noch sympathischer wirkte als der mit schäbigem silbernem Trickkleid und Gesichtsjuwelen routiniert dargebotene, sterbensöde Discotrash von Brynja Mary.
Stirbt offenbar gerade innerlich tausende Tode: Kid Isak.
Das litauische Fernsehen LTR sortierte vergangenen Samstag im zweiten Semifinale von Pabandom iš naujo! mithilfe der Zuschauer:innen und der Jury noch einmal vier potentielle Finalist:innen aus. Darunter fand sich der Singer-Songwriter Rokas Povilius, der mit ‘Vilnius calling’ eine gallig gemeinte Satire auf den Eurovision Song Contest präsentierte, welche unter anderem die Dominanz schwedischer Komponist:innen, das Nachbarschaftsvoting und Teile der Zuschauerschaft aufs Korn nahm. Vermute ich jedenfalls, denn dank der (absichtlich?) pidginhaften englischen Lyrics und der ostblocktypisch miserablen Aussprache zog das meiste davon an einem vorbei, ohne in irgendeiner Form zu verfangen. Was in diesem Falle keinen Verlust darstellte, anders als beim Mitwettbewerber Andriaus Vaicenaviciaus alias Andy Vaic und seinem existenzialistischen Elektropop-Opus ‘Why why why’. Der langhaarige, bebrillte Hipsterzottel stellte die drängenden Fragen, nämlich warum wir uns das viel zu kurze Leben selbst so sehr zur Hölle machen und mit Verzweiflung füllen sowie uns selbst und anderen so viel Schmerz zufügen. “Why why why, I should be strong, I should be straight” lautete eine der vielen klugen Textzeilen, die leider ebenfalls ziemlich untergingen, weil Andy arg nuschelte und, ähnlich wie der einen Absatz weiter oben besprochene Kollege Kid Isak wirkte wie das Kaninchen vor der Schlange. Schade um die tolle Nummer!
Only Misery inside, only Darkness with no Light: Andy ist der fleischgewordene Depri.
Mit einer Parodie auf den Grand Prix probierte es auch der norwegische Künstler Kevin Boine in der fünften und letzten Vorrunde der Jubiläumsausgabe des MGP. Sein uptemporärer Abrisspartyschlager mit dem subtilen Titel ‘Stem på mæ’ (‘Stimme für mich’) versuchte sich als eine Art von ‘Love Love Peace Peace’ und verquickte auf musikalischer Ebene einzelne Elemente unter anderem von ‘En godt Stekt Pizza’, ‘Sámiid Ædnan’ und ‘Spirit in the Sky’, während die Präsentation auf den absoluten Overkill setzte und von sich im Sekundentakt scheinbar selbstständig vermehrenden Tänzerinnenscharen über unnötige Bühnenprops und Konfettikanonen bis hin zu einem Feuerregen sprühenden Banjo alles abfeuerte, was zu einer klischeehaft eurovisionären Show dazugehört. Mit Ausnahme des Trickkleids. Damit bescherte uns Kevin drei visuell höchst vergnügliche Minuten sowie einen absoluten Kracher für die Grand-Prix-Disco. Ungerechterweise schied er bereits im ersten Duell aus. Ebenso wie die diabolische Konkurrentin Jenny Jenssen, deren rundheraus grauenerregende Dixieland-Revuenummer ‘Mr. Hello’ man nur deswegen durchhielt, ohne dem Drang nach sofortiger Selbstentleibung nachzugeben, weil sie uns freundlicherweise ein alertes Tänzerquartett zur optischen Ablenkung und Schmerzlinderung feilbot.
Mehr ist mehr: Kevins lustige Truppe füllte die Bühne bis zum Bersten.
Erstaunlicherweise bis ins Goldfinale schaffte es die singende Waldelfe Elin Kåven und ihre Begleitband The Woods, in guter Erinnerung noch aus dem MGP 2017, wo sie mit einem Hirschgeweih im wallenden Haupthaar durch die Nebel von Norwegen stolperte. Sie blieb auch heuer ihren Wurzeln treu und dekorierte die Bühne mit üppigen Efeugestecken zum verwunschenen Zauberwald um, in welchem sich ihr unglaublich lahmes, musikalisch völlig uninspiriertes ‘We are as One’ allerdings um so konventioneller ausnahm. So unterlag sie erwartungsgemäß der Favoritin Liza Vassileva, geboren in der arktischen Hafenstadt Murmansk, aufgewachsen allerdings seit dem dritten Lebensjahr in Nordnorwegen. Mit dem bei aller Eingängigkeit doch etwas faden Discoschlager ‘I am gay’ präsentiert die bekennende Hetera Liza im Kreise ihrer kribbelbunt kostümierten Tänzer:innen eine lyrisch unzweideutige Coming-Out-Hymne, die den “Tanz auf dem Regenbogen” feiert und auch sonst kein Textklischee auslässt. Sie wolle damit ihre Solidarität zeigen und das Thema “normalisieren”, zitiert Wiwibloggs die Dreißigjährige. Und nun freue ich mich als Schwulette üblicherweise über jede:n Alliierte:n im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Nur wirkt diese Nummer auf mich, ohne Frau Vassileva üble Absichten unterstellen zu wollen, ziemlich kalkuliert. Oder, genauer gesagt, verkalkuliert: an ihr offensichtliches Vorbild Taylor Swift (‘You need to calm down’) reicht Liza beim besten Willen nicht heran. Gut gemeint und gut gemacht ist nun mal nicht zwingend Dasselbe.
Immerhin lässt mich Liza Vassilieva erstmalig auch auf der Gefühlsebene begreifen, was People of Colour meinen, wenn sie von “kultureller Aneignung” sprechen.
Zu guter Letzt noch der obligatorische Sprung ins Nachbarland Schweden, wo die zweite Vorrunde des Melodifestivalen einmal mehr einen müden Aufguss des Altbekannten darbot. Mit dem Superlangweiler Jan Johansen, einem meiner liebsten eurovisionären Hasssubjekte, und der ewigen Mello-Schlagerette Linda Bengtzing sortierten die schwedischen Zuschauer:innen gleich zwei große Namen brutal heraus. Was mich bei Ersterem erfreut und beruhigt, bei Letzterer überraschend kalt lässt, denn ihr Beitrag ‘Alla mina Sorga’ brachte zwar auf dem Papier sämtliche Bestandteile eines amtlichen Schwedenschlagers mit, vermochte jedoch dennoch nicht zu zünden. Was nicht nur an der aufs Minimum reduzierten Darbietung gänzlich ohne Begleittänzer:innen (!) lag, sondern auch am Song selbst, der im Direktvergleich mit Lindas Spitzentitel ‘E det fel på mig?’ um gleich mehrere Preisklassen abfällt. Es war, als ob man ein Nutellabrötchen erwartete und mit Nutoka abgespeist wurde. Selbst die dritte im Bunde, Klara Hammarström, schied zu Recht aus. Zwar ließ sie sich zum uptemporären ‘Nobody’ eine angemessene Choreografie zusammenstellen, doch auch hier beschlich einen das ungute Gefühl, alles schon tausend Mal gesehen und gehört zu haben, und wenigstens 950 Mal davon besser.
Schlafen ja, reden nein: Paul Rey überzeugte eher optisch als musikalisch.
Einen erneuten Beweis für ihre Stimmunmündigkeit erbrachten die Schwed:innen dann mittels Weiterwählen der zwei egalsten Beiträge des Abends ins Finale, während die beiden in den Todeskampf der Andra Chansen delegierten Titel zumindest auf optischer Ebene gut unterhielten. Der mit seinem Kochtopfschnitt auf rattenscharfe DFG-Weise sexy aussehende Paul Rey überperformte sich mit einer derartigen Vehemenz durch seine sterbensöde Seichtballade ‘Talking in my Sleep’, dass sich der Verdacht aufdrängte, der nächtliche Redefluss müsse wohl Folge der Falschdosierung seiner Psychopharmaka sein. Oder aber der Einnahme illegalisierter, bewusstseinsstimulierender Substanzen. Die könnte er wiederum von seinem Mitduellanten Leo Méndez bezogen haben, der sich für seinen Latino-Stampfer ‘Vamos Amigos’ Unterstützung in Form des langjährigen Mello-Stammtänzers Alvaro Estrello Zapata holte. Lustigerweise trennen nur fünf Jahre Lebensalter die beiden gebürtigen Chilenen, wiewohl man glauben konnte, einem Vater-Sohn-Duett beizuwohnen, wirkte der ebenfalls extrem überperformende, stark tätowierte und dick muskelbepackte Papí Méndez, der seine Rap-Parts mit arg rauer Stimme beisteuerte, doch deutlich verwitterter als das smoothe Bübchen Alvaro, das die Refrainarbeit übernahm.
Warum das nicht DTG ging? Wegen der ersten fünf Sekunden, in denen ein weißer Europäer für zwei Latinomänner putzen musste. Das greift die hier geltenden Herrschaftsverhältnisse an.
Ja, ärgerlich das Ausscheiden des Schamanensongs in der Ukraine!
Sehr bunter und abwechslungsreicher VE in der Ukraine. Wobei ich schon den Eindruck habe, dass die zugkräftigen Namen aufgrund des letztjährigen Desasters und den absurden vertraglichen Vorgaben an die Künstler dieses Jahr fehlen.
Nachtrag Ukraine, äh Tschechien:
bennyyyy!!!!! du bist der Hammer!
https://www.youtube.com/watch?v=xn9gH4z-EhI
😉
Nachtrag zum Nachtrag.… Viel Action. .. alle wackeln… das kann man mögen… trotzdem weiterhin Durchschnittsware … die Chance verpasst, einen mutigen innovativen Song nach Rotterdam zu schicken. Das hier wird sich im Mittelfeld wiederfinden. Und wenn es schlecht läuft, gibt’s einen blauen Finger. Poop