Per­len der Vor­ent­schei­dun­gen: Vira­le Schlachten

Mit der übli­chen Ver­spä­tung folgt heu­te noch der Nach­schlag zum ver­gan­ge­nen Super­sams­tag, an dem neben gleich drei natio­na­len Fina­len wei­te­re vier Vor­run­den und Semis über die Büh­ne gin­gen. Begin­nen wir im hohen Nor­den beim islän­di­schen Söng­va­kepp­nin, wo sich im zwei­ten Semi zwei der Favorit:innen auf den Sieg im Fina­le nächs­ten Sams­tag durch­setz­ten. Der eine von ihnen, der fan­tas­ti­sche Daði Freyr, gewinnt gera­de inter­na­tio­nal Momen­tum: sowohl der ein­fluss­rei­che deut­sche Sati­ri­ker und Talk­show-Host Jan Böh­mer­mann als auch der neu­see­län­di­sche Schau­spie­ler Rus­sell Cro­we (sowie der deut­sche ESC-Ver­ant­wort­li­che Tho­mas Schrei­ber) teil­ten heu­te auf Twit­ter den super­lus­ti­gen, herr­lich selbst­iro­ni­schen Video­clip zu ‘Think about Thinks’. So der eng­li­sche Ori­gi­nal­ti­tel des wun­der­bar ein­gän­gi­gen Elek­tro-Pop-Songs (mit euro­vi­si­ons­ge­rech­ter Rückung!), den der lang­haa­ri­ge Hipst­erz­ot­tel im Söng­va­kepp­nin-Semi frei­lich auf­grund der dort gel­ten­den Lan­des­spra­chen­pflicht noch als ‘Gag­na­ma­gnið’ (sinn­ge­mäß: ‘Daten­vo­lu­men’) vor­tra­gen muss­te. Auf den glei­chen Namen hört auch Dad­dy Fires fünf­köp­fi­ge Begleit­band, die ihn, bewaff­net mit klo­bi­gen Mul­ti-Fake-Instru­men­ten, bei sei­ner extrem läs­si­gen Euro­vi­si­ons-Cho­reo­gra­fie unter­stütz­te, wel­cher das Kunst­stück gelang, deren klas­si­sche Ele­men­te gleich­zei­tig ernst und auf die Schip­pe zu nehmen.

Sogar die Wind­ma­schi­ne kommt zum Ein­satz: Dad­dy Fire weiß, wie ESC geht!

Zwei Din­ge könn­ten Daði, der bereits 2017 mit einem nicht min­der gran­dio­sen Bei­trag das Söng­va­kepp­nin rock­te, noch einen Strich durch die Rech­nung machen: sein letzt­jäh­ri­ger, von der Paläs­ti­na­fra­ge inspi­rier­ter Boy­kott­auf­ruf gegen eine Teil­nah­me Islands am Song Con­test in Tel Aviv und, deut­lich wahr­schein­li­cher, sei­ne Kon­kur­ren­tin Íva Marín Adri­chem. Die 22jährige kam in den Nie­der­lan­den zur Welt, ver­brach­te den größ­ten Teil ihrer Kind­heit und Jugend jedoch in Island, dem Geburts­land ihrer Mut­ter. 2018 zog Íva zurück nach Rot­ter­dam, dem Aus­tra­gungs­ort des dies­jäh­ri­gen euro­päi­schen Musik­wett­streits, wo sie klas­si­schen Gesang stu­dier­te. Das macht sich auch in ihrem Bei­trag ‘Ocu­lis Vide­re’ (‘Mit den Augen sehen’) bemerk­bar, der an die unter­ge­gan­gen geglaub­ten Zei­ten von vor drei­ßig Jah­ren erin­nert, als unter der Ägi­de von Enig­ma gre­go­ria­ni­sche Gesän­ge im Pop-Gewand schon ein­mal eine unfass­ba­re Popu­la­ri­tät erfuh­ren. Einen leicht iro­ni­schen Biss erhält der latei­ni­sche Titel des ansons­ten auf islän­disch gesun­ge­nen Pathos-Rie­mens vor dem Hin­ter­grund, dass Íva auf­grund eines ange­bo­re­nen Augen­lei­dens blind ist. Die Wild­card ging an eine hüb­sche Blon­di­ne namens Nína mit einem hüb­schen Pop­schla­ger namens ‘Ekkó’. Muss man sich aber nicht mer­ken, wird für die fina­le Ent­schei­dung kei­ne Rol­le spielen.

Wenn es wei­ßer als weiß wer­den muss: Íva lässt ihre Toga mit Per­sil waschen.

Eine bemer­kens­wer­te Häu­fung schwar­zer Künstler:innen ließ sich ver­gan­ge­nen Sams­tag im zwei­ten Halb­fi­na­le der ukrai­ni­schen Vid­bir beob­ach­ten, und zwar in den unter­schied­lichs­ten Aus­for­mun­gen. Da gab es die elek­tro­ni­sche Tanz­mu­sik­kom­bo Moon­zoo, die ihren Stil des mono­to­nen Gesangs und moll­las­ti­ger Melo­die­bö­gen über trei­ben­den Beats selbst “Sad Dance” nen­nen, und die sich einen schwar­zen, US-ame­ri­ka­ni­schen Rap­per namens F.M.F. Sure mit­brach­ten. Der aller­dings erst im letz­ten Drit­tel des bis dort­hin nicht rich­tig zün­den­den Songs ‘Maze’ kurz ran durf­te, um etwas drin­gend benö­tig­te Ener­gie in die Dar­bie­tung zu inji­zie­ren. Was dem Gan­zen ein wenig die Anmu­tung einer Neun­zi­ger­jah­re-Euro­dance-Num­mer ver­lieh, nur auf Dow­nern statt auf Ecsta­sy. Zwei­te im Bun­de: das Duo Tvor­chi, bestehend aus dem Ukrai­ner Andrjy Hut­su­lia und dem gebür­ti­gen Nige­ria­ner Jef­fery Ken­ny, die sich wäh­rend des gemein­sa­men Phar­ma­zie-Stu­di­ums ken­nen lern­ten und ein Band­pro­jekt grün­de­ten. Ihre bol­lern­de Mid­tem­po-Umwelt-Bal­la­de ‘Bon­fi­re’ erwies sich in ihrer strik­ten musi­ka­li­schen Unent­schlos­sen­heit als völ­lig unver­dau­lich – und zog fol­ge­rich­tig ins Fina­le wei­ter. Kein Glück war hin­ge­gen dem rein schwar­zen Diven­trio Fo Sho beschie­den, wel­ches (zuge­ge­be­ner­ma­ßen auf sehr hohem hand­werk­li­chen Niveau) exakt jene Art von ame­ri­ka­nisch gepräg­tem RnB-Gebal­le­re prä­sen­tier­te, wegen dem ich seit Jah­ren einen gro­ßen Bogen um sämt­li­che Charts und Main­stream-Sen­der mache.

Wenn das Pau­sen­pro­gramm das Bes­te ist: Ben­ny Cris­to (CZ) live bei der Vidbir.

Das größ­te Inter­es­se kam jedoch frag­los dem Star­gast des Vid­bir‑Semis zuteil: der dies­jäh­ri­ge tsche­chi­sche Ver­tre­ter Ben­ny Cris­to, eben­falls Per­son of Colour, per­form­te dort erst­mals live sei­nen Euro­vi­si­ons­bei­trag ‘Kema­ma’. Und bewies, dass die Self-Empower­ment-Dance-Hyme tat­säch­lich nicht nur aus der Kon­ser­ve zün­det: trotz rela­tiv zurück­ge­nom­me­ner Prä­sen­ta­ti­on mit einer Begleittän­ze­rin, einem DJ und einem kur­zen lus­ti­gen Gefü­ßel mit Letz­te­rem brach­te der cha­ris­ma­ti­sche Ben­ny das Publi­kum aus den Sit­zen hoch und zum Mit­tan­zen. In Rot­ter­dam bekom­men wir aller­dings eine neu abge­misch­te Fas­sung zu hören. Unse­re letz­te Sta­ti­on für heu­te ist das schwe­di­sche Melo­di­fes­ti­valen, wo sich ver­gan­ge­nen Sams­tag in der lang­wei­ligs­ten der vier Vor­run­den die Ten­denz zu über­per­for­ma­ti­ven Künst­lern mit schlech­ten Tat­toos fort­setz­te: erfüll­te in der Woche zuvor noch Leo Mén­dez die­se Rol­le, so über­nahm dies­mal der in rent­ner­bei­ge geklei­de­te Rap­per­kol­le­ge Albin John­sén, der sich auf der Büh­ne haupt­säch­lich in der Erlö­ser­po­se gefiel und uns damit einen län­ge­ren Blick auf aller­lei offen­bar selbst gesto­che­ne Bau­ern­ma­le­rei gewähr­te, wie bei­spiels­wei­se ein rie­si­ges eiter­gel­bes Kreuz auf dem Unter­arm. Wobei sei ner­vö­ses Her­um­ge­hip­pel und der kon­se­quent alle Töne ver­feh­len­de Gesang die Ver­mu­tung auf­kom­men lie­ßen, die­se befän­den sich womög­lich dort, um die Ein­stich­stel­len zu verdecken.

Hat­te offen­bar so gar kei­nen Spaß auf der Büh­ne: der Albin.

Er schei­ter­te eben­so wie die die Gewin­ne­rin des P4-Radio-Nach­wuchs­prei­ses, Aman­da Aasa, obwohl die­se einen gan­zen hüb­schen, tanz­ba­ren Pop­schla­ger vor­wei­sen konn­te. Doch zum Final­ein­zug fehl­te ihr das “M” im Namen (DTF ging es für Mohom­bi und Mari­et­ta), und für die Trost­run­de Andra Chan­sen brauch­te man dies­mal einen irgend­wie schrä­gen Titel. So wie die bereits seit 1995 bestehen­de Dans­band Drän­gar­na (Knech­te), deren mus­kel­be­pack­ter, schä­del­ra­sier­ter Front­mann, ohne ihm irgend­et­was unter­stel­len zu wol­len, ein biss­chen so aus­sah, als kön­ne er Mit­glied in einer Odin­brü­der­schaft sein, und die mit ‘Piga & Dräng’ (‘Mäd­chen & Jun­ge’) eine ziem­lich ver­wäs­ser­te Mix­tur aus zwei Tei­len ‘They can­not stop the Spring’ und einem Teil ‘Cot­ton Eye Joe’ dar­bo­ten. Oder wie der dicke DJ Anis don Demi­na, bekannt gewor­den 2017 durch eine viral gegan­ge­ne You­tube-Kon­tro­ver­se mit einem schwe­di­schen Rea­li­ty­show-Teil­neh­mer. Der flum­mi­te, vor einer por­ta­blen LED-Wand ste­hend, auf der sein bis­he­ri­ger Wer­de­gang in Schrift und Bild nach­er­zählt wur­de, im lila­far­be­nen (!) Glanz-Nicki-Trai­nings­an­zug zum upt­em­po­rä­ren ‘Vem e som oss’ (‘Wer ist wie wir?’) über die Büh­ne wie Jac­ques Hou­dek zu sei­nen bes­ten Zei­ten. Wobei es sich als Vor­teil erwies, dass der Gesang zu 98% vom Band stamm­te und Anis nur gele­gent­lich ein, zwei Wor­te dar­über­rapp­te. Mach­te aber Spaß, zuzuschauen!

Hat­te offen­bar viel Spaß auf der Büh­ne: “Schla­ger ist dicker als Blut” lau­te­te Anis Slo­gan. Und da schlie­ße ich mich doch vor­be­halt­los an!

8 Comments

  • Vem e som oss heißt nicht „wer mag uns“ – genau so wenig wie ‘Gag­na­ma­gnið’ die Men­ge heißt. Der Titel heißt übri­gens Think about things.
    Der brei­ten Mas­se wur­de Anis als Mr. Sax im Mel­fest bei Samir & Vik­tors „Shuf­fla“ bekannt

  • Das sind die Über­set­zun­gen, die Goog­le mir lie­fert. Da ich nicht glau­be, dass der eng­li­sche Song­ti­tel deckungs­gleich mit dem islän­di­schen ist: wer von mei­nen Lesern kann Islän­disch und löst es auf?

  • Ocu­lis (Abla­tiv, hier instrumenti)
    vide­re (sehen, Infinitiv)
    Also nicht “das Auge sieht”, son­dern “mit den Augen sehen”)

    Sor­ry für die Klug­schei­ße­rei, aber wenn ich schon mal mein Latein aus­pa­cken kann.…

  • Dan­ke, kor­ri­giert! (Wobei ich den inhalt­li­chen Unter­schied für ver­nach­läs­sig­bar bzw. die Goog­le-Über­set­zung für nahe genug dran halte.)

  • So, ich hab mich jetzt bezüg­lich ‘Gag­na­ma­gnið’ bei einer Islän­de­rin erkun­digt: es heißt so etwas wie “das Daten­vo­lu­men”. Der islän­di­sche und der eng­li­sche Text haben nicht das Gerings­te mit­ein­an­der zu tun, der Song wur­de ursprüng­lich auf eng­lisch geschrie­ben und die islän­di­sche Fas­sung macht inhalt­lich nicht all zu viel Sinn.

    Kann noch jemand des Schwe­di­schen mäch­ti­gen klä­ren, was “Vem e som oss” heißt? Danke!

  • Lus­tig, der Text von Ocu­lis Vide­re ist ähn­lich apo­ka­lyp­tisch wie der von Hat­a­ri letz­tes Jahr.
    Und auch Dadi star­tet sehr apo­ka­lyp­tisch bei sei­nem Songtext.
    Was wis­sen die Islän­der, dass wir nicht wissen?
    @Andi
    Der gan­ze latei­ni­sche Teil bei lyricstranslate.com ins ita­lie­ni­sche lautet:
    “Ich wer­de für die­je­ni­gen da sein, die mit Augen schau­en wollen.”

    Fin­de ich jetzt sinn­ge­mäß bes­ser als die dor­ti­ge Über­set­zung ins deutsche:
    “Die Augen sehen was sie wollen”

    Der hop­peln­de schwe­di­sche Hari­bär erin­nert mich auch an Doug Hef­fer­n­an von King of Queens 😉

  • Daði Freyr ist mit Song und Per­for­mance ziem­lich abitur­ball­si­cher , mehr auch nicht.
    Gedan­ken soll­te er sich wohl eher über das Daten­vo­lu­men machen, das er mit sei­nem Clip im Inter­net verpulvert.
    Vem e som oss bedeu­tet übri­gens Wer ist wie wir.

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