Wenn ein noch absurderes Vorentscheidungssystem existiert als das slowenische, dann das polnische. Wiewohl das Format Szansa na Sukces dem Sender TVP gleich zwei Siege in Folge beim Junior-ESC bescherte. Unter grotesk hohem Blutzoll: gleich 21 junge, aktuelle Künstler:innen stellten sich heuer in drei Vorrunden zum nationalen Vorentscheid zur Wahl. Sie durften dort allerdings nicht ihre eigenen Lieder singen, sondern mussten sich an thematisch vorgegebenen, steinalten Oldies versuchen, die natürlich nicht dem musikalischen Stil der Teilnehmer:innen entsprachen und damit über keinerlei Aussagekraft verfügten. Dennoch bildeten sie die Grundlage für die Auslese: nur die drei Anpassungsfähigsten überlebten das völlig unnötige Blutbad. Und durften im heute Nachmittag ausgestrahlten Finale endlich ihre Wettbewerbstitel vorstellen. Natürlich erst, nachdem man sie nötigte, zuvor einen weiteren ESC-Song zu schänden. Unter zwei ganz okayen und einem völlig entsetzlichen Beitrag setzte sich erwartungsgemäß Letzterer durch, geschuldet unter anderem der Tatsache, dass seine Interpretin Alicja Szemplińska erst vor wenigen Monaten die aktuelle Staffel der Castingshow The Voice gewann. Und wie eigens für dieses Format komponiert klang denn auch ihre siegreiche Ballade ‘Empires’. Denn diese setzte auf die leider sehr zeitgemäße, populistische Losung “wer am lautesten schreit, gewinnt”.
Stumpfste musikalische und textliche Klischees, übertrumpft von einer lauten Stimme: das ist das polnische Imperium.
Die von der Eurovisions-Serientäterin Laurell Barker mitverbrochene, zähe Nummer von der Stange lebt in der Hauptsache von den dezibelstarken, langgezogenen Schlusstönen, bei denen es scheinbar keine Rolle spielte, dass die erst 17jährige Alicja sie röhrte statt sang. Sowohl die dreiköpfige Jury, bestehend aus den ehemaligen polnischen Repräsentant:innen Cleo (mit straffem Croydon-Facelift-Zopf), Gromee (mit altbekanntem Predigerhut) und Michał Szpak (mit hochhackigen weißen Damenstiefeletten), als auch die heimischen SMS-Voter:innen waren sich einig. Das kommt davon, wenn man es zulässt, dass Castingshows das musikalische Urteilsvermögen einer ganzen Generation nachhaltig demolieren. Den Kürzeren zog dabei Kasia Dereń, deren Teilnahme an The Voice schon sechs Jahre zurück liegt und deren 15 Minuten des Ruhms daher schon längst verblassten. Auch sie schrie sich mit ohrenbetäubender Lautstärke und ohne jegliches stimmliches Feingefühl durch ihre musikalisch mäßige Uptemponummer ‘Count on me’, ursprünglich noch gelistet in der polnischen Fassung als ‘Ufaj mi’ und unter Beteiligung eines Texters mit dem großartigen Namen Mateusz Krautwurst entstanden. Mein Plazet hätte sie indes alleine schon deswegen nicht erhalten, weil sie in der Auftaktrunde den deutschen Grand-Prix-Klassiker ‘Satellite’ dahinmetzelte.
Furchtbarer Fummel, schrille Stimme: Kasia blieb blass.
Den undankbaren zweiten Platz ersang sich Albert Černý, letztes Jahr mit seiner Band Lake Malawi beim Song Contest noch für Tschechien am Start. Seine flockig-hipsterige Elektronummer ‘Lucy’ konnte mit der Einprägsamkeit von ‘Friend of a Friend’ natürlich nicht mithalten, war aber fraglos das mit Abstand beste Angebot des Nachmittags. Oder, lassen Sie es mich anders formulieren: das einzige popmusikalisch relevante, in dem Sinne, dass es auch außerhalb des ESC bestehen könnte. Was Černý überhaupt bei Szansa na Sukces zu suchen hatte? Nun, er stammt gebürtig aus dem direkt an der Grenze liegenden Stahl-Städtchen Třinec, dessen Einwohner:innen sich mehrheitlich zum Nachbarstaat zugehörig fühlen, und besuchte dort als Kind die polnische Grundschule. Auch wenn ihn der Sender TVP daher zum Ehrenbürger ernannte und am ausdrücklich nur für Landsleute zugelassenen Vorentscheid teilnehmen ließ, nahmen ihm unsere überwiegend nationalistisch gestimmten Nachbarn diese Vorgeschichte wohl übel. Dumm gelaufen, denn im Gegensatz zur Voice-Quetsche Alicja, deren Tagesruhm außerhalb Polens nichts gilt und die im ESC-Finale allenfalls die Jurys überzeugen wird, hätte Albert für das Land zumindest ein Ergebnis in der linken Tabellenhälfte ersingen können.
Oder gab es Punkteabzug für Alberts schlimme Schamhaarfrisur? Das könnte ich zumindest nachvollziehen.
Und wir können uns in Sachen ESC so langsam, wie es schon zu befürchten stand, wieder auf ein grauenvolles Balladenjahr einstellen. Ich möchte sterben.
Vorentscheid PL 2020
Szansa na Sukces. Sonntag, 23. Februar 2020, aus Warschau, Polen. Drei Teilnehmer:innen. Moderation: Artur Orzech.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
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01 | Albert Černý mit Lake Malawi | Lucy | 03 | 03 | 02 |
02 | Alicja Szemplińska | Empires | 05 | 05 | 01 |
03 | Kasia Dereń | Count on me | 01 | 01 | 03 |
Dinge, die man nicht braucht: Raumspray mit Hühnersuppenduft. Bananendosen. Diätwasser. Fußpilz. Den polnischen ESC-Beitrag 2020.
Grauenhaft, also typisch Barker.
Albert muss schnellstmöglich zum Friseur, sonst wird das nix mit dem Bel Ami Vertrag.