Um dieses Wochenende wenigstens mit einem erfreulichen Ergebnis zu beschließen, habe ich mir das gestrige Finale der Vidbir bis zum Schluss aufgehoben. Dort siegte – und zwar erstmalig in der ukrainischen Vorentscheidungsgeschichte gleichermaßen bei den Anrufer:innen wie bei der dreiköpfigen Jury – die Band Go_A (für das englische Wort Go und das griechische Zeichen Alpha) mit der von einer besonders schlimmen Form des Resting-Bitchface-Syndroms heimgesuchten Frontfrau Kateryna Pavlenko. Ihre in der Landessprache und im slawischen Stil des monotonen Weißen Gesangs, den wir bereits von den letztjährigen polnischen Vertreterinnen Tulia kennen, vorgetragene Elektro-Folk-Nummer über die Nachtigall (‘Solovey’) erzählt die hoch romantische Geschichte eines heimlichen, verbotenen Techtelmechtels im Frühlingshain zwischen der Sängerin und einem gewissen Iwan, das sofort enden muss, sobald die Mutter etwas davon erfährt. Da “der Iwan” nicht nur im Deutschen als Synonym für den Russen steht, liegt es natürlich auf der Hand, in dem Songtext eine subtile Allegorie auf die vertrackte, zwischen Annäherung und Feindschaft pendelnden Situation zwischen der Ukraine und der Föderation zu erkennen, die nicht zuletzt für die Einführung einer Krim-Klausel bei der Vidbir sorgte, nach welcher kein Act mehr am Vorentscheid teilnehmen darf, der Auftritte in Russland oder den annektierten Gebieten tätigte oder plant.
Ärmel wie Panzersperren, Ohrgeschmeide wie Wurfketten: Kateryna wappnet sich gegen die Eroberung durch den Iwan.
Das Thema lässt uns also (verständlicherweise) so schnell nicht los, erfuhr hier aber mit dem Blick auf den kribbelnden Reiz des Verbotenen und die in großen Teilen der Bevölkerung ja durchaus vorhandenen Zuwendung zum großen bösen Nachbarn einen neuen, spannenden Fokus. Insofern konnten Go_A von Glück sprechen, dass die im Rahmenprogramm auftretende Jamala heuer nicht in der Jury saß und ihnen “sehr unangenehme Fragen” stellen konnte. Ihre Funktionsnachfolgerin Tina Karol hatte da wohl weniger Probleme. Die schien es indes zwischen der Jury und dem Vidbir-Zweitplatzierten und Kimono-Model Andriy Khayat zu geben, der androhte, nie mehr mitzumachen, wenn er heuer nicht gewönne. Jedenfalls blickte der ausgesprochen sexy Sänger während der sich wie immer ewig hinziehenden Kommentarphase (kann die EBU da nicht mal eine Regelung erlassen, dass das Herummäkeln durch die Juror:innen nicht länger dauern darf als der Song selbst?) öfters drein, als könne er sich gerade nicht entscheiden, ob er vor Wut weinen oder die Drei eigenhändig erwürgen wolle. Sein ‘Call for Love’ erwies sich als einerseits deutlich eingängiger, damit aber auch irgendwie oberflächlicher als der Vidbir-Siegersong. Dennoch: ich würde seine kostenpflichtige Hotline jederzeit wählen, auch für 2,99 € die Minute.
Ruf! Mich! An! Das Betteln um Punkte geschah bei Andriy nicht gerade subtil.
Eine pompöse, klebrige Ballade steuerte der Ukrainer Volodymir Tkachenko bei, der 2006 Vierter beim Vorentscheid wurde. Vor kurzem ehelichte er die ehemalige Eurovisionsverantwortliche beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Ukraine und legte sich den interessanten Künstlernamen David Axelrod zu. Womit er aber wohl nicht auf den ehemaligen Chefberater des 44. US-Präsidenten Barack Obama rekurrierte, sondern auf einen 2017 verstorbenen, gleichnamigen Komponisten. Fürs Vidbir-Finale kleidete er sich wie fürs Vorsprechen für eine Rolle in Game of Thrones, was seinen ranzigen Soundquark aber auch nicht erträglicher machte. Auf einem ganz und gar ungerechten letzten Platz landete der 24jährige Youtube-Star Yana Oleksandrivna Shemaieva, besser bekannt als Jerry Heil. Sie hätte mal besser nicht auf die Jury gehört: nach deren Kritik an ihrem ausgesprochen grellen Auftritt vor einer quietschbunten Comic-LED-Wand und in Begleitung tanzender Plüschfiguren im Semi nahm sie sich im Finale erheblich zurück – und verblasste in ihrem aus einer alten Steppdecke gewirkten Strampelanzug vollständig. Denn ihre augenzwinkernd satirische Nummer ‘Vegan’, die mit unsterblichen Textzeilen wie “Holy Moly Guacamole” aufwartete, lebte von genau dieser Pop-Art. Also, liebe Kinder: niemals den Rat älterer Menschen beherzigen, die erzählen nur Mist!
Kann keinen Beef mit dir haben, denn sie lebt ‘Vegan’: Jerry Heil (Semifinalauftritt).
Gefühlt ein Viertel der vierstündigen (!) Sendezeit bestand aus penetranter Schleichwerbung für diverse nicht verschreibungspflichtige Nahrungsergänzungsmittel sowie den bauernfängerisch als “Energie-Tonikum” vermarkteten Kräuterlikör der deutschen, hierzulande schon beinahe dem Vergessen anheim gefallenen Marke Doppelherz: im Vorspann zur Sendung überschüttete man die Finalteilnehmer:innen nur so mit Pillen und Pröbchen. Und nach ihrer Siegesakklamation drückte man der darob noch verkniffener als sonst schon dreinblickenden Kateryna Pavlenko einen riesigen Präsentkorb mit Produkten aus dem Hause des Flensburger Unternehmens in die Hand. Als absoluter Höhepunkt der Show muss jedoch der Eröffnungsauftritt des mittlerweile augenscheinlich auf Lebenszeit eingesetzten Jury-Präsidenten Andrij Danylko gelten, der in seiner Paraderolle als Verka Serduchka mit einem Medley aus unter anderem ‘Lasha Tumbai’ und ihrer letzten Single ‘Make it rain Champagne’ die Hütte für eine geschlagene Viertelstunde zum Kochen brachte. Besonders hübsch: die mit einer Verballhornung ehemaliger Sowjet-Slogans bedruckten schwarzen T‑Shirts der Hintergrundtänzer, von denen ich unbedingt eins haben muss! Er stünde für eine erneute Eurovisionsteilnahme zur Verfügung, ließ Verka augenzwinkernd wissen, man müsse ihm nur genug dafür bezahlen. Oh ja, bitte!
Abrissparty mit Verka: “Russia goodbye” zündet noch immer so gut wie 2007.
Viel Diskussion, viel Werbung, wenig Lieder: die ukrainische Vidbir 2020.
Vorentscheid UA 2020
Vidbir. Samstag, 22. Februar 2020, aus dem Kulturpalast der Technischen Universität in Kiew, Ukraine. Sechs Teilnehmer:innen. Moderation: Serhiy Prytula.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Krut | 99 | 19,90 % | 14 | 03 |
02 | Jerry Heil | Vegan | 07,00 % | 03 | 06 |
03 | Go_A | Solovey | 25,43 % | 18 | 01 |
04 | David Axelrod | Horizon | 11,30 % | 09 | 05 |
05 | Khayat | Call for Love | 20,93 % | 13 | 02 |
06 | Tvorchi | Bonfire | 15,44 % | 06 | 04 |
Wovon musst du unbedingt eins haben? Von den T‑Shirts oder den Hintergrundtänzern? 😉
Ja.
Go‑A, was für ein geiler Sound! Tut das gut, nach diesem belanglosen Castingshow-Nachwuchsgemüse aus Polen und Slowenien wieder eine echte Band zu sehen.
Aber besonders happy sah Tina Karol bei der Siegerverkündung auch nicht gerade aus. Auf der 1 ihres Stimmzettels stand Go‑A mit Sicherheit nicht…
Nur 2,99/Minute für Khayat? Ich biete 3,99!
Inwiefern stehen auf den Shirts Verballhornungen ehemaliger Sowjet-Slogans?
Soweit ich das erkenne, steht dort “sex труд май”, was wohl so viel bedeutet wie “Sex Arbeit kann”, und es ist bestimmt lustig, wenn man den Witz versteht…
Mir haben schon Tulia letztes Jahr ausnehmend gut gefallen. Der Beitrag von Go_A ist kaum schwächer – daher: I like!
Hat in einem Eurovisionschat ein des russischen mächtiger Mitchatter so erzählt: es habe zu Sowjetzeit Banner mit Losungen wie Brot – Arbeit – Freiheit oder so ähnlich gegeben (genau habe ich es mir leider nicht gemerkt), darauf spielte das wohl an.