Dora 2020: She’s like the Wind to my Tree

Für eine sehr klas­si­sche, herz­zer­rei­ßen­de Bal­kan-Schmer­zens­bal­la­de ent­schie­den sich die Kroat:innen am ver­gan­ge­nen Sams­tag­abend im Rah­men des klas­si­schen Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dungs­for­mats Dora und bestä­tig­ten damit ein­mal mehr ihren Ruf als kon­ser­va­ti­ve Grand-Prix-Nati­on. Denn musi­ka­lisch könn­te das schmalz­trie­fen­de, gei­gen­ge­sät­tig­te ‘Divlji Vjet­re’ (‘Rau­er Wind’) mit­samt sei­ner etwas über­ra­schend an der Stel­le, an der man das Lied eigent­lich zu Ende wähnt, dran­ge­schraub­ten Rückung auch im Jah­re 1990 ange­sie­delt sein. Oder 1960. Lyrisch war es viel­leicht nicht die geschick­tes­te Wahl für den im Früh­lings­mo­nat Mai in Rot­ter­dam statt­fin­den­den Haupt­wett­be­werb, denn der in schwar­zer Trau­er­klei­dung auf­tre­ten­de Damir Kedžo, einst­mals Kir­chen­chor­kna­be und spä­ter Boy­band-Mit­glied, greift dar­in zur Umschrei­bung sei­nes Tren­nungs­schmer­zes zu düs­te­ren Meta­phern von die Bäu­me ent­lau­ben­den Herbst­stür­men und win­ter­li­chem Eis­re­gen. Doch auch, wenn die meis­ten Europäer:innen man­gels Kroa­tisch­kennt­nis­sen Damirs Wor­te nicht ver­ste­hen, las­sen uns die apart anzu­schau­en­den, stets bedroh­lich vor dem Plat­zen ste­hen­de Adern auf sei­nen aus­ra­sier­ten Schlä­fen instink­tiv die Dra­ma­tik der Situa­ti­on erfas­sen. Und natür­lich möch­te man den attrak­ti­ven Inter­pre­ten umge­hend trös­tend in die Arme nehmen.

Letz­te Anstren­gung: Damir und sein Damen­chor las­sen die Gefüh­le auf­wal­len. Trau­ri­ge und… nicht so traurige.

Sei­nen Sieg ver­dank­te der Schmalz­bar­de vor allem den Zuschauer:innen. Die fünf regio­na­len Jurys bevor­zug­ten einen völ­lig nichts­sa­gen­den, eng­lisch­spra­chi­gen Pop­song, gesun­gen von einem sprö­den Schul­mäd­chen namens Mia Nego­ve­tić. Glück­li­cher­wei­se genoss bei der Dora im (hier ein­ge­tre­te­nen) Fal­le des Gleich­stan­des das Tele­vo­ting den Vor­zug. Was nicht hei­ßen soll, dass mit ‘Divlji Vjet­re’ der bes­te der 16 Dora-Bei­trä­ge gewann, son­dern ledig­lich der (deut­lich) bes­se­re der bei­den Topp­lat­zier­ten. Zu einem hoch­gra­dig span­nen­den Wett­streit zwi­schen neu und alt kam es eben­falls auf den unte­ren Wer­tungs­rän­gen. Und auch hier setz­te sich die Älte­re durch, näm­lich die bis zur völ­li­gen mimi­schen Bewe­gungs­un­fä­hig­keit boto­xier­te und mit einer blon­dier­ten Les­ben­bürs­te ver­se­he­ne ehe­ma­li­ge Front­frau der im gesam­ten Bal­kan popu­lä­ren Band Colo­nia, Indi­ra Levak. Die 46jährige Wucht­brum­me quetsch­te sich in eine schrei­end pin­ke Kor­sa­ge und ließ sich zu ihrem lei­der einen Refrain ver­mis­sen las­sen­den Pop-Stamp­fer ‘You will never break my Heart’ (kroa­ti­sche Ver­se, eng­li­sche Hook­li­ne) unter ande­rem von zwei eben­falls neon­bunt geklei­de­ten, mus­ku­lö­sen Tän­zern beglei­ten, die den noch aus den Trai­nings­ho­sen hän­gen­den Schweiß­tü­chern nach zu urtei­len direkt vom Bank­drü­cken kamen. Mmmh, da konn­te man die Phe­ro­mo­ne förm­lich riechen!

Tanz die Pelo­si: Indi­ra Levak mit dem neu­en Äqui­va­lent zum aus­ge­streck­ten Mittelfinger.

Nan­cy Pelo­si applau­diert. © Fox News

Indi­ra feu­er­te eine Cho­reo­gra­fie-Idee nach der ande­ren ab. Zu den schöns­ten zähl­te der Side­ways Clap, also das bewusst lang­sa­me Applau­die­ren mit weit nach vor­ne gestreck­ten Armen, wie ihn die demo­kra­ti­sche Spre­che­rin des US-Reprä­sen­tan­ten­hau­ses, Nan­cy Pelo­si, letz­tes Jahr als pro­vo­kant gemein­te Reak­ti­on auf die umstrit­te­ne Anspra­che zur Lage der Nati­on durch den Irren im Wei­ßen Haus erst­ma­lig vor­führ­te. Die­se Demons­tra­ti­on von Frau­en­power sicher­te ihr den drit­ten Platz in der Gesamt­wer­tung, wäh­rend ihre deut­lich jün­ge­re, rot­haa­ri­ge Nach­fol­ge­rin Iva­na Lovric, die zwar solo, aber unter dem Band­na­men Colo­nia per­form­te, sich mit dem ach­ten Rang begnü­gen muss­te. Und dass, obschon es sich bei ihrer fabel­haf­ten Dis­co-Hym­ne ‘Zidi­na’ (‘Mau­er­werk’) mit ihrer frap­pie­ren­den Mischung aus hoch­dra­ma­tisch gestri­che­nen Gei­gen und gei­len Acht­zi­ger­jah­re-Dis­co-Sound­ef­fek­ten ohne jede Fra­ge um das qua­li­ta­tiv hoch­wer­tigs­te Musik­stück des Abends han­del­te. Womög­lich nah­men ihr die Zuschauer:innen einen klei­nen Lap­sus beim Back­drop übel: dort­hin pro­ji­zier­te man diver­se Spie­ge­lun­gen von im Takt galant ges­ti­ku­lie­ren­den Frau­en, die bei Minu­te 1:37 jedoch – sicher­lich ver­se­hent­lich – ein Haken­kreuz impro­vi­sier­ten. Ups!

Was macht Hele­na Papa­riz­ou beim kroa­ti­schen Vor­ent­scheid? Und wie­so nennt sie sich nach der Stadt Köln?

Lore­na Bućan, die letz­tes Jahr noch mit der gran­dio­sen Dis­co-Pas­ti­che ‘Tower of Baby­lon’ begeis­ter­te, ließ sich heu­er lei­der eine völ­lig nutz­lo­se, nir­gend­wo­hin füh­ren­de Krampf­bal­la­de namens ‘Drow­ning’ andre­hen und ertrank damit fol­ge­rich­tig. Wie wenig mehr­heits­fä­hig Rap beim Grand Prix auch 40 Jah­re nach sei­ner Erfin­dung noch immer ist, demons­trier­te das optisch durch­aus über­zeu­gen­de Her­ren­trio Loren­zo, Dino Purić & Reper iz sobe, wel­ches in ihrem musi­ka­lisch völ­lig unaus­ge­go­re­nen, wir­ren Mach­werk ‘Vra­ti se iz Irs­ke’ (‘Komm zurück aus Irland’) gleich meh­re­re Tem­pi­wech­sel unter­brach­te. Dabei ist schon ein ein­zi­ger davon ein kla­res Aus­schluss­kri­te­ri­um. Die bizarrs­te Vor­füh­rung lie­fer­te unter­des­sen die Künst­le­rin Doro­tea Zov­ko ali­as Aklea Neon mit dem spi­ri­tu­el­len Eth­no-Dance-Stück ‘Zovi ja Mama’ (‘Nenn sie Mama’) ab. Sie brach­te sich drei chan­ten­de, leder­be­wams­te Mit­strei­te­rin­nen mit sowie einen her­ren­dutt­tra­gen­den DJ / Gärt­ner, der den Damen eine Aus­wahl ver­schie­de­ner Topf­pflan­zen (!) anrei­chen durf­te. Mit die­sen han­tier­ten Doro­tea und ihre Scha­ma­nin­nen, als han­de­le es um wert­vol­le Opfer­ga­ben, wobei es sich mir lei­der nicht ganz erschloss, wel­che Rol­le sie in ihrem ritu­el­len Tanz spiel­ten. Frag­los ging es jedoch um die Anru­fung von Mut­ter Natur und unse­re Ver­bin­dung mit allen leben­den Orga­nis­men, sei­en es nun Men­schen, Tie­re, Ficus ben­ja­mi­nae oder Zauberpilze.

We’­re not sepe­ra­te”: Aklea Neon trug ihren Teil bei zur wahr­nehm­ba­ren Wel­le an spi­ri­tu­el­len Bei­trä­gen in den Vor­ent­schei­dun­gen des ehe­ma­li­gen Ost­eu­ro­pas. Unse­re Brü­der und Schwes­tern im Osten sind uns da in Sachen Ret­tung der Mensch­heit weit voraus.

Einen im Jah­re 2020 zuge­ge­be­ner­ma­ßen etwas alt­mo­di­schen, den­noch natür­lich fabel­haf­ten Mix aus Folk­lo­re und stamp­fen­den Dance-Beats, wie er mir beim Euro­vi­si­on Song Con­test die fan­tas­ti­sche Mill­en­ni­ums­de­ka­de so sehr ver­süß­te und mich gewis­ser­ma­ßen anfix­te, brach­ten Alen Vita­so­vić und Boži­dar­ka Mati­ja Čeri­na mit ‘Da se ne zata­re’ (‘Damit es nicht ver­ges­sen geht’) zu Gehör. Vier Backings in stil­ech­ten Trach­ten ver­stärk­ten das Duo, des­sen männ­li­cher Part klar als stimm­li­che und per­for­ma­to­ri­sche Schwach­stel­le des den­noch mit­rei­ßen­den Gesamt­pa­kets benannt wer­den muss. Eine mit­singfreund­li­che “Na na nana na ne na”-Ein­la­ge und hei­ße Zigan­fie­deln wer­te­ten den Eth­no-Schla­ger auf. Exakt sol­che Bei­trä­ge sind für mich der Grund, mir wie ein Süch­ti­ger alle mög­li­chen natio­na­le Vor­ent­schei­dun­gen rein­zu­zie­hen, denn wie (und vor allem wo) sonst soll ich an mei­nen drin­gend benö­tig­ten Stoff kommen?

Genau das will und brau­che ich vom Bal­kan: Dia­krit-Namen und stamp­fen­de Eth­no­schla­ger! Dan­ke, Alen & Božidarka!

Eine Stern­stun­de in Sachen Car-Crash bescher­te uns die 76jährige Jazz­sän­ge­rin Zden­ka Kovačiček, die in ihrem Hei­mat­land auf eine mehr als fünf­zig­jäh­ri­ge Kar­rie­re zurück­zu­bli­cken ver­mag. Sie ver­such­te, ihre aus­ge­spro­chen zähe Num­mer ‘Love, Love, Love’ mit einer Fül­le von sie umwir­beln­den Stan­dard­tanz-Pär­chen, vor allem aber eini­gen unver­mit­tel­ten, Kali­o­pi-arti­gen Schrei­en auf­zu­pep­pen und schei­ter­te dabei kläg­lich. Jedes. Ein­zel­ne. Mal. Mehr als ein hei­se­res Kräch­zen, ja, man möch­te sagen, Gur­geln, ließ sich ihrer fül­li­gen Keh­le nicht mehr ent­lo­cken. Es war tra­gisch! Den­noch wähl­ten sie Jury und vor allem das Publi­kum auf einen erstaun­li­chen sechs­ten Platz, wohl aus alter Verbundenheit.

Zden­ka Kovačiček: schnell, erschießt es jemand, es quält sich doch nur noch!

Stel­len­wei­se ein klein wenig schief klang es auch bei der Folk­bar­din Elis Lovrić, wor­über sich in ihrem Fall frei­lich eher hin­weg­se­hen ließ. Denn sie sang sowohl das Intro als auch das Out­ro ihres selbst­ver­fass­ten Bei­trags ‘Juš­to’ (‘Rich­tig’) aca­pel­la. Und auch in den vom Play­back unter­leg­ten Tei­len har­mo­nier­te es nicht immer hun­dert­pro­zen­tig mit ihrem vier­köp­fi­gen Begleit­chor. Ver­ständ­li­cher­wei­se, denn die zwei Frau­en und zwei Män­ner umtanz­ten die mit einer lus­ti­gen Anten­nen­fri­sur optisch klar als Haupt­fi­gur gekenn­zeich­ne­te Inter­pre­tin bar­fü­ßig, wäh­rend Elis als Ein­zi­ge hoch­ha­cki­ge Stie­fel trug. Da wür­de ich mich aus Grün­den des Selbst­schut­zes auch eher auf mei­ne Schrit­te kon­zen­trie­ren als auf den Begleit­ge­sang. Neben dem Dora-Gewin­ner Damir Kedžo schmalz­te sich auch der wun­der­hübsch anzu­schau­en­de Bojan Jam­brošić die See­le aus dem Leib. Ihm wur­de jedoch, neben sei­ner etwas zu kon­ven­tio­nel­len Kitsch­bal­la­de ‘Više od Riječi’ (‘Mehr als Wor­te’), sein Wel­pen­blick zum Ver­häng­nis. Dem sah man die Ver­zweif­lung an, mit wel­cher der ehe­ma­li­ge Sie­ger der aller­ers­ten Staf­fel der kroa­ti­schen Aus­ga­be von DSDS im Jah­re 2009 hier ver­such­te, sei­ne seit gerau­mer Zeit dahin­wel­ken­de Kar­rie­re wie­der auf­zu­fri­schen. Es miss­lang: mit dem elf­ten Platz ver­sack­te er im Mittelfeld.

Tin­ky Win­kys Mut­ter, Elis Lovrić.

Vor­ent­scheid HR 2020

Dora. Sams­tag, 29. Febru­ar 2020, aus dem Mari­no-Cvet­ko­vić-Sport­kom­plex in Opa­ti­ja. 16 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Jele­na Glišić, Iva Šulen­tić und Mir­ko Fodor.
#Inter­pre­tenSong­ti­telAnru­feJuryPlatz
01Elis LovrićJuš­to6464413
02Bojan Jam­brošićViše od Riječi1.2062711
03Edi Aba­ziComing home1.3532614
04Zden­ka KovačićekLove, Love, Love2.1573906
05Alen Vita­so­vić + B. Mati­ja ČerinaDa se ne zatare2.3292105
06ĐanaOne1.4874207
07Aklea NeonZovi ju mama1.7655204
08Niko­la MarjanovićLet’s for­gi­ve8204412
09Loren­zo + Dino Purić & Reper iz sobeVra­ti se iz Irske9472016
10Marin Jurić ČivroNaiv­no1.0862715
11Lore­na BućanDrow­ning1.8534305
12Indi­ra LevakYou will never break my Heart5.5416403
13Jure BrkljačaHaj­de nazo­vi me!1.0114010
14Colo­niaZidi­na1.0414408
15Mia Nego­ve­tićWhen it comes to you11.5957802
16Damir KedžoDivlji Vjet­re11.8556901

5 Comments

  • Hal­lo Oliver,
    dan­ke für die­sen tol­len und wie immer tref­fend-amü­san­ten Bericht 😉 Als beken­nen­der Kroa­ti­en-Fan (und von 2007 – 2010 immer­hin auch stets in Opa­ti­ja anwe­send) habe ich auf die­sen Bericht natür­lich gewar­tet. Lus­tig zu lesen sind dei­ne Kom­men­ta­re immer, inso­fern: es gibt hier manch­mal viel zu wenig Feed­back, aber du wirst wis­sen dass das Ver­hält­nis von Kom­men­ta­to­ren zu stil­len Lesern ja eine gro­ße Sche­re beinhal­ten wird.
    Ansons­ten: ich bin viel­leicht alt­mo­disch, bin mit dem kroa­ti­schen Ergeb­nis aber zufrie­den. Auch wenn mein Stream gera­de im span­nen­den Moment zusam­men gebro­chen ist bin ich froh, dass es nicht die (ein­zi­ge des Abends!) in Schwe­den gekauf­te Stan­gen­wa­re gewor­den ist, auch wenn die klei­ne Mia das durch­aus gut rüber gebracht hat.
    Gruß Andreas

  • Jo mei, sin­gen kön­nens ja schon immer sehr gut beim ESC, die Kroaten!
    Dann hat der Schön-hör-Virus natür­lich leich­te­res Spiel

  • Lei­der kann ich all­ge­mein weder die Begeis­te­rung des Haus­herrns für Bal­ka­ne­si­sches Lied­gut noch die für wie *Sicher­heits­män­ner von Geld­trans­por­ten aus­se­hen­de Sän­ger teilen.
    Lie­ber ist mir da die wie im Kaser­nen­stil stamp­fen­de Indi­ra mit ihrem her­ben Charme. Macht Lau­ne was ich da sehe UND höre.

    *ich gebe zu, mir steck­te eine ande­re Bezeich­nung für ihn auf den Fin­ger­kup­pen, die einen Ver­tre­ter eher der gegen­sätz­li­chen Sei­te des Geset­zes beschrei­ben würde 😉

  • Ein­trei­ber für Mos­kau-Inkas­so? 😉 Ich steh halt auf böse Buben!
    Indi­ra war in der Tat super und ja, sie wäre die bes­se­re Wahl gewesen.

  • Ja, Indi­ra ist mit der Knal­ler der Sai­son. Natür­lich wird ihr nie­mals jemand das Herz bre­chen kön­nen. Bevor die­ser Jemand das könn­te, hat sie ihm schon die Bei­ne gebro­chen. Ach was, alle vier Extre­mi­tä­ten. Auf einen Schlag.

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