Für eine sehr klassische, herzzerreißende Balkan-Schmerzensballade entschieden sich die Kroat:innen am vergangenen Samstagabend im Rahmen des klassischen Eurovisionsvorentscheidungsformats Dora und bestätigten damit einmal mehr ihren Ruf als konservative Grand-Prix-Nation. Denn musikalisch könnte das schmalztriefende, geigengesättigte ‘Divlji Vjetre’ (‘Rauer Wind’) mitsamt seiner etwas überraschend an der Stelle, an der man das Lied eigentlich zu Ende wähnt, drangeschraubten Rückung auch im Jahre 1990 angesiedelt sein. Oder 1960. Lyrisch war es vielleicht nicht die geschickteste Wahl für den im Frühlingsmonat Mai in Rotterdam stattfindenden Hauptwettbewerb, denn der in schwarzer Trauerkleidung auftretende Damir Kedžo, einstmals Kirchenchorknabe und später Boyband-Mitglied, greift darin zur Umschreibung seines Trennungsschmerzes zu düsteren Metaphern von die Bäume entlaubenden Herbststürmen und winterlichem Eisregen. Doch auch, wenn die meisten Europäer:innen mangels Kroatischkenntnissen Damirs Worte nicht verstehen, lassen uns die apart anzuschauenden, stets bedrohlich vor dem Platzen stehende Adern auf seinen ausrasierten Schläfen instinktiv die Dramatik der Situation erfassen. Und natürlich möchte man den attraktiven Interpreten umgehend tröstend in die Arme nehmen.
Letzte Anstrengung: Damir und sein Damenchor lassen die Gefühle aufwallen. Traurige und… nicht so traurige.
Seinen Sieg verdankte der Schmalzbarde vor allem den Zuschauer:innen. Die fünf regionalen Jurys bevorzugten einen völlig nichtssagenden, englischsprachigen Popsong, gesungen von einem spröden Schulmädchen namens Mia Negovetić. Glücklicherweise genoss bei der Dora im (hier eingetretenen) Falle des Gleichstandes das Televoting den Vorzug. Was nicht heißen soll, dass mit ‘Divlji Vjetre’ der beste der 16 Dora-Beiträge gewann, sondern lediglich der (deutlich) bessere der beiden Topplatzierten. Zu einem hochgradig spannenden Wettstreit zwischen neu und alt kam es ebenfalls auf den unteren Wertungsrängen. Und auch hier setzte sich die Ältere durch, nämlich die bis zur völligen mimischen Bewegungsunfähigkeit botoxierte und mit einer blondierten Lesbenbürste versehene ehemalige Frontfrau der im gesamten Balkan populären Band Colonia, Indira Levak. Die 46jährige Wuchtbrumme quetschte sich in eine schreiend pinke Korsage und ließ sich zu ihrem leider einen Refrain vermissen lassenden Pop-Stampfer ‘You will never break my Heart’ (kroatische Verse, englische Hookline) unter anderem von zwei ebenfalls neonbunt gekleideten, muskulösen Tänzern begleiten, die den noch aus den Trainingshosen hängenden Schweißtüchern nach zu urteilen direkt vom Bankdrücken kamen. Mmmh, da konnte man die Pheromone förmlich riechen!
Tanz die Pelosi: Indira Levak mit dem neuen Äquivalent zum ausgestreckten Mittelfinger.
Indira feuerte eine Choreografie-Idee nach der anderen ab. Zu den schönsten zählte der Sideways Clap, also das bewusst langsame Applaudieren mit weit nach vorne gestreckten Armen, wie ihn die demokratische Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, letztes Jahr als provokant gemeinte Reaktion auf die umstrittene Ansprache zur Lage der Nation durch den Irren im Weißen Haus erstmalig vorführte. Diese Demonstration von Frauenpower sicherte ihr den dritten Platz in der Gesamtwertung, während ihre deutlich jüngere, rothaarige Nachfolgerin Ivana Lovric, die zwar solo, aber unter dem Bandnamen Colonia performte, sich mit dem achten Rang begnügen musste. Und dass, obschon es sich bei ihrer fabelhaften Disco-Hymne ‘Zidina’ (‘Mauerwerk’) mit ihrer frappierenden Mischung aus hochdramatisch gestrichenen Geigen und geilen Achtzigerjahre-Disco-Soundeffekten ohne jede Frage um das qualitativ hochwertigste Musikstück des Abends handelte. Womöglich nahmen ihr die Zuschauer:innen einen kleinen Lapsus beim Backdrop übel: dorthin projizierte man diverse Spiegelungen von im Takt galant gestikulierenden Frauen, die bei Minute 1:37 jedoch – sicherlich versehentlich – ein Hakenkreuz improvisierten. Ups!
Was macht Helena Paparizou beim kroatischen Vorentscheid? Und wieso nennt sie sich nach der Stadt Köln?
Lorena Bućan, die letztes Jahr noch mit der grandiosen Disco-Pastiche ‘Tower of Babylon’ begeisterte, ließ sich heuer leider eine völlig nutzlose, nirgendwohin führende Krampfballade namens ‘Drowning’ andrehen und ertrank damit folgerichtig. Wie wenig mehrheitsfähig Rap beim Grand Prix auch 40 Jahre nach seiner Erfindung noch immer ist, demonstrierte das optisch durchaus überzeugende Herrentrio Lorenzo, Dino Purić & Reper iz sobe, welches in ihrem musikalisch völlig unausgegorenen, wirren Machwerk ‘Vrati se iz Irske’ (‘Komm zurück aus Irland’) gleich mehrere Tempiwechsel unterbrachte. Dabei ist schon ein einziger davon ein klares Ausschlusskriterium. Die bizarrste Vorführung lieferte unterdessen die Künstlerin Dorotea Zovko alias Aklea Neon mit dem spirituellen Ethno-Dance-Stück ‘Zovi ja Mama’ (‘Nenn sie Mama’) ab. Sie brachte sich drei chantende, lederbewamste Mitstreiterinnen mit sowie einen herrendutttragenden DJ / Gärtner, der den Damen eine Auswahl verschiedener Topfpflanzen (!) anreichen durfte. Mit diesen hantierten Dorotea und ihre Schamaninnen, als handele es um wertvolle Opfergaben, wobei es sich mir leider nicht ganz erschloss, welche Rolle sie in ihrem rituellen Tanz spielten. Fraglos ging es jedoch um die Anrufung von Mutter Natur und unsere Verbindung mit allen lebenden Organismen, seien es nun Menschen, Tiere, Ficus benjaminae oder Zauberpilze.
“We’re not seperate”: Aklea Neon trug ihren Teil bei zur wahrnehmbaren Welle an spirituellen Beiträgen in den Vorentscheidungen des ehemaligen Osteuropas. Unsere Brüder und Schwestern im Osten sind uns da in Sachen Rettung der Menschheit weit voraus.
Einen im Jahre 2020 zugegebenermaßen etwas altmodischen, dennoch natürlich fabelhaften Mix aus Folklore und stampfenden Dance-Beats, wie er mir beim Eurovision Song Contest die fantastische Millenniumsdekade so sehr versüßte und mich gewissermaßen anfixte, brachten Alen Vitasović und Božidarka Matija Čerina mit ‘Da se ne zatare’ (‘Damit es nicht vergessen geht’) zu Gehör. Vier Backings in stilechten Trachten verstärkten das Duo, dessen männlicher Part klar als stimmliche und performatorische Schwachstelle des dennoch mitreißenden Gesamtpakets benannt werden muss. Eine mitsingfreundliche “Na na nana na ne na”-Einlage und heiße Ziganfiedeln werteten den Ethno-Schlager auf. Exakt solche Beiträge sind für mich der Grund, mir wie ein Süchtiger alle möglichen nationale Vorentscheidungen reinzuziehen, denn wie (und vor allem wo) sonst soll ich an meinen dringend benötigten Stoff kommen?
Genau das will und brauche ich vom Balkan: Diakrit-Namen und stampfende Ethnoschlager! Danke, Alen & Božidarka!
Eine Sternstunde in Sachen Car-Crash bescherte uns die 76jährige Jazzsängerin Zdenka Kovačiček, die in ihrem Heimatland auf eine mehr als fünfzigjährige Karriere zurückzublicken vermag. Sie versuchte, ihre ausgesprochen zähe Nummer ‘Love, Love, Love’ mit einer Fülle von sie umwirbelnden Standardtanz-Pärchen, vor allem aber einigen unvermittelten, Kaliopi-artigen Schreien aufzupeppen und scheiterte dabei kläglich. Jedes. Einzelne. Mal. Mehr als ein heiseres Krächzen, ja, man möchte sagen, Gurgeln, ließ sich ihrer fülligen Kehle nicht mehr entlocken. Es war tragisch! Dennoch wählten sie Jury und vor allem das Publikum auf einen erstaunlichen sechsten Platz, wohl aus alter Verbundenheit.
Zdenka Kovačiček: schnell, erschießt es jemand, es quält sich doch nur noch!
Stellenweise ein klein wenig schief klang es auch bei der Folkbardin Elis Lovrić, worüber sich in ihrem Fall freilich eher hinwegsehen ließ. Denn sie sang sowohl das Intro als auch das Outro ihres selbstverfassten Beitrags ‘Jušto’ (‘Richtig’) acapella. Und auch in den vom Playback unterlegten Teilen harmonierte es nicht immer hundertprozentig mit ihrem vierköpfigen Begleitchor. Verständlicherweise, denn die zwei Frauen und zwei Männer umtanzten die mit einer lustigen Antennenfrisur optisch klar als Hauptfigur gekennzeichnete Interpretin barfüßig, während Elis als Einzige hochhackige Stiefel trug. Da würde ich mich aus Gründen des Selbstschutzes auch eher auf meine Schritte konzentrieren als auf den Begleitgesang. Neben dem Dora-Gewinner Damir Kedžo schmalzte sich auch der wunderhübsch anzuschauende Bojan Jambrošić die Seele aus dem Leib. Ihm wurde jedoch, neben seiner etwas zu konventionellen Kitschballade ‘Više od Riječi’ (‘Mehr als Worte’), sein Welpenblick zum Verhängnis. Dem sah man die Verzweiflung an, mit welcher der ehemalige Sieger der allerersten Staffel der kroatischen Ausgabe von DSDS im Jahre 2009 hier versuchte, seine seit geraumer Zeit dahinwelkende Karriere wieder aufzufrischen. Es misslang: mit dem elften Platz versackte er im Mittelfeld.
Tinky Winkys Mutter, Elis Lovrić.
Vorentscheid HR 2020
Dora. Samstag, 29. Februar 2020, aus dem Marino-Cvetković-Sportkomplex in Opatija. 16 Teilnehmer:innen. Moderation: Jelena Glišić, Iva Šulentić und Mirko Fodor.# | Interpreten | Songtitel | Anrufe | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Elis Lovrić | Jušto | 646 | 44 | 13 |
02 | Bojan Jambrošić | Više od Riječi | 1.206 | 27 | 11 |
03 | Edi Abazi | Coming home | 1.353 | 26 | 14 |
04 | Zdenka Kovačićek | Love, Love, Love | 2.157 | 39 | 06 |
05 | Alen Vitasović + B. Matija Čerina | Da se ne zatare | 2.329 | 21 | 05 |
06 | Đana | One | 1.487 | 42 | 07 |
07 | Aklea Neon | Zovi ju mama | 1.765 | 52 | 04 |
08 | Nikola Marjanović | Let’s forgive | 820 | 44 | 12 |
09 | Lorenzo + Dino Purić & Reper iz sobe | Vrati se iz Irske | 947 | 20 | 16 |
10 | Marin Jurić Čivro | Naivno | 1.086 | 27 | 15 |
11 | Lorena Bućan | Drowning | 1.853 | 43 | 05 |
12 | Indira Levak | You will never break my Heart | 5.541 | 64 | 03 |
13 | Jure Brkljača | Hajde nazovi me! | 1.011 | 40 | 10 |
14 | Colonia | Zidina | 1.041 | 44 | 08 |
15 | Mia Negovetić | When it comes to you | 11.595 | 78 | 02 |
16 | Damir Kedžo | Divlji Vjetre | 11.855 | 69 | 01 |
Hallo Oliver,
danke für diesen tollen und wie immer treffend-amüsanten Bericht 😉 Als bekennender Kroatien-Fan (und von 2007 – 2010 immerhin auch stets in Opatija anwesend) habe ich auf diesen Bericht natürlich gewartet. Lustig zu lesen sind deine Kommentare immer, insofern: es gibt hier manchmal viel zu wenig Feedback, aber du wirst wissen dass das Verhältnis von Kommentatoren zu stillen Lesern ja eine große Schere beinhalten wird.
Ansonsten: ich bin vielleicht altmodisch, bin mit dem kroatischen Ergebnis aber zufrieden. Auch wenn mein Stream gerade im spannenden Moment zusammen gebrochen ist bin ich froh, dass es nicht die (einzige des Abends!) in Schweden gekaufte Stangenware geworden ist, auch wenn die kleine Mia das durchaus gut rüber gebracht hat.
Gruß Andreas
Jo mei, singen könnens ja schon immer sehr gut beim ESC, die Kroaten!
Dann hat der Schön-hör-Virus natürlich leichteres Spiel
Leider kann ich allgemein weder die Begeisterung des Hausherrns für Balkanesisches Liedgut noch die für wie *Sicherheitsmänner von Geldtransporten aussehende Sänger teilen.
Lieber ist mir da die wie im Kasernenstil stampfende Indira mit ihrem herben Charme. Macht Laune was ich da sehe UND höre.
*ich gebe zu, mir steckte eine andere Bezeichnung für ihn auf den Fingerkuppen, die einen Vertreter eher der gegensätzlichen Seite des Gesetzes beschreiben würde 😉
Eintreiber für Moskau-Inkasso? 😉 Ich steh halt auf böse Buben!
Indira war in der Tat super und ja, sie wäre die bessere Wahl gewesen.
Ja, Indira ist mit der Knaller der Saison. Natürlich wird ihr niemals jemand das Herz brechen können. Bevor dieser Jemand das könnte, hat sie ihm schon die Beine gebrochen. Ach was, alle vier Extremitäten. Auf einen Schlag.