Das Zweitbeste ist immer das Erstschlechteste. Diese Lektion lehrte uns (mal wieder) das gestrige Finale des Festival da Canção, bei dem sich in der Abstimmung Publikum und Jurys nicht einigen konnten und in Folge dessen sich die in beiden Votings lediglich Zweitplatzierte Elisa Silva durchsetzen konnte. Mit einer für meine Ohren grauslich gesungenen, steinschweren Ballade namens ‘Medo de Sentir’ (‘Angst vor dem Gefühl’), mit denen sich das Urlaubsland mal wieder als aussichtsreicher Bewerber für den letzten Platz im ESC-Semifinale in Stellung bringt. Nicht nur, dass das kaum zu ertragende, depressive Geflenne der aus Madeira stammenden Künstlerin im diesjährigen, sich gerade zum einschläferndsten Eurovisionsjahrgang seit 1961 entwickelnden Ozean der Jammerballaden vollkommen untergeht. Im FdC-Finale beleidigte Elisa zudem mit einem Bühnenfummel aus der Abteilung “Festliche Abendrobe für die Dame ab Hundert”, bestehend aus einer über alle Maßen puffigen, beigen Bluse und einem bodenlangen Rock aus demselben auberginefarbenen Glitzerstoff, aus dem auch das Kleid der sie begleitenden Pianistin genäht war, die Augen des modebewussten Publikums. Ohren- und Augenkrebs in nur einem Aufwasch, ergänzt von dem dringenden Wunsch, sich das Leben nehmen wollen angesichts des ganzen Elendes, das muss Portugal erst mal jemand nachmachen.
Paola hat angerufen und will ihren Klamottengeschmack zurück: Elisa Silva.
Dabei hatten sich sowohl die Jurys als auch das Publikum jeweils für einen durchaus wunderbaren Beitrag entschieden, nur leider nicht für denselben. Die Juror:innen aus den einzeln abgefragten sieben Regionen Portugals votierten allesamt für den Theaterstudenten und Singer-Songwriter Filipe Sambado. Bis auf die dünn besiedelte, südliche Binnenregion Alentejo und die autonome Inselgruppe Madeira, die – oh Wunder – für Frau Silva stimmte. Sambado plünderte für sein Outfit sowohl die Kleiderkammer eines viktorianischen Kostümstückes als auch einen Kronleuchter und gab uns die androgyne Queen. Mit einer Wachsträne unter dem linken Auge wollte besondere Empfindsamkeit demonstrieren, allerdings erweckte es eher den Eindruck, als habe ihm jemand noch kurz vor dem Auftritt ins Gesicht ejakuliert. Ein Chor schwarz verhangener Imker-Witwen mit bodenlangen Schleiern, vom Blogbetreiber liebevoll “die Petrillos” getauft, begleitete ihn. Ein riesiger grüner Flaschenöffner bildete den Thron ihrer Hoheit Filipe, der beim Aufstehen von selbigem ein Paar gut durchtrainierter Beine offenbarte. All das optische Spektakel lenkte womöglich ein wenig ab von der musikalischen Güte des eher experimentellen, an die Verschrobenheit voriger Beiträge wie ‘Telemóveis’ anknüpfenden Songs über die ‘Gerbera amarela do Sul’, die ‘Gelbe Gerbera aus dem Süden’, einer lyrisch wohl nur für Portugies:innen dechiffrierbaren Betrachtung über Kasten, Neid und Martyrium. Oder so ähnlich.
Fühlt sich “konsolidiert”: Filipe, die Blume des Südens.
Das für seine absolute Oberflächlichkeit berüchtigte, vergnügungssüchtige heimische Publikum erteilte dem Juryliebling jedoch mit dem vorletzten Platz im Televoting eine schroffe Zurückweisung. Es erfreute sich stattdessen an der zuckersüß-verspielten Niedlichkeit des Konkurrenzbeitrags ‘Passe-Partout’, der klang, als handele es sich um das Titelstück eines seit ungefähr sechzig Jahren und nach nur drei Aufführungen vorzeitig abgesetzten Musicals. Dementsprechend auch die Bühneninszenierung: die zuckersüße Interpretin Bárbara Tinoco, die ihr kanariengelbes Kleid aus dem Semifinale gegen ein deutlich dezenteres, grünes austauschte und auch auf den dort noch verwendeten, La-La-Land-inspirierten Backdrop verzichtete, saß darin auf einer Parkbank – und man mochte im Kopf unwillkürlich “On a tous un Banc, un Arbre, une Rue” anstimmen. Zwei gemischtgeschlechtliche Pärchen umkränzten sie und lieferten einen zuckersüßen Synchrontanz, wie ihn sich nur ein schwuler Choreograf einer Fernsehrevue aus den Anfangsjahren von Peter Frankenfeld ausgedacht haben kann. Zuvor verjagten sie noch den Bárbara anfangs begleitenden, knuffigen Gitarristen, dem die charmant formulierte Absage von Frau Tinoco wohl galt. Und als kerneuropäische:r Zuschauer:in fragte man sich, welche Drogen die da in Lissabon so nehmen, vermochte aber gleichzeitig kaum, sich gegen die absurde Putzigkeit des Ganzen zu wehren.
Bárbara Tinoco: mit der gelben Gerbera des Südens jagt sie ihren Verehrer in die Friend Zone.
Leider jedoch versorgten die portugiesischen Zuschauer:innen nicht nur Bárbara mit der wohlverdienten Höchstwertung, sondern auch die schreckliche Hundertjährige mit zehn Punkten, so dass diese mit Hilfe der diabolischen Jurys den Sieg stehlen konnte. Wie viel Unglück muss erst noch geschehen, damit die Menschheit endlich ein Einsehen hat und dieses kranke Folterinstrument verbietet? Dabei boten sich noch andere Titel an im FdC-Finale, beispielsweise das wunderbar entspannte ‘Diz só’ (‘Sag’s einfach’) der von den Kapverden stammenden, in Lissabon beheimateten Singer-Songwriterin Kady mit dem vielleicht interessantesten Text des Abends über die Frage, was für einen unreflektierten, neoliberalen Unsinn wir uns tagein, tagaus so einreden lassen. Verbunden mit locker-flockiger Barmusik, zu der man am Strand der Algarve sitzend seinen Sundowner genießen möchte. Oder ‘Movimento’ von Throes + the Shine, dem Trio mit dem sexy bärtigen Drummer, die einen Hauch von Deichkind in das FdC brachten. Auch wenn man ihnen verübeln möchte, dass sie im Semifinale das deutlich bessere ‘Rebellion’ von Blasted Mechanism aus dem Rennen schmissen, und zwar nur, weil sie bei Punktgleichheit im Gesamtergebnis die höhere Jurywertung vorweisen konnten und das im traditionell zuschauer:innenskeptischen Portugal mehr zählt. Die Jury ist also auch hier ein Unterdrückungsinstrument der Mächtigen gegen das gesellschaftliche Aufbegehren. Was auch sonst.
Kady: war es Angela (Merkel), die uns sagte, man muss töten, um zu überleben?
Dessenungeachtet lieferte uns das dreieinhalbstündige (!) Festival da Canção 2020, dessen Live-Übertragung im Netz der Sender RTP infolge einer Überziehung der vorher geplanten Sendezeit um wenige Minuten (!) mitten im spannendsten Moment des Votings vorzeitig abbrach (ich hoffe, in Lissabon rollen dafür Köpfe!), in seinem Pausenprogramm den mit Abstand schönsten und versöhnlichsten Vorentscheidungsmoment in der Geschichte des Grand Prix Eurovision. Und damit ist weder der Auftritt des Vorjahresvertreters Conan Osíris gemeint, der behangen mit einem sensationellen Gesichtsschmuck und in Begleitung seines gebärdendolmetschenden Tänzers eine akustische Version von ‘Telemóveis’ zelebrierte, noch der zirka einstündige Gig einer Allstar-Kapelle, die eine Reihe von ganz entfernt an die Spider Murphy Gang erinnernden, portugiesischen Pop-Klassikern zum Besten gab. Sondern ein improvisierter Schnelldurchlauf mit allen acht am FdC-Finale beteiligten Acts, die im Greenroom zur Akustikgitarre von Bárbaras zurückgewiesenem Galan ein Medley ihrer Wettbewerbstitel anstimmten. Und dabei ein:e Jede:r aus voller Brust den vollständigen Text der Konkurrenten mitsang. Das hatte Schönheit und Größe und weckte den Wunsch, jede nationale Vorentscheidung möge doch ein kleines bisschen so sein wie die portugiesische. Minus das Wertungsdesaster, natürlich.
Gruppensingen im Pausenraum: für diesen intimen Moment der Gemeinschaftlichkeit muss man die Portugies:innen lieben.
Triggerwarnung: das komplette FdC-Finale ist wirklich nur etwas für Menschen mit stabiler Psyche oder zum Runterkommen, wenn man die dopaminstimulierenden Substanzen überdosiert haben sollte.
Vorentscheid PT 2020
Festival da Canção. Samstag, 7. März 2020, aus dem Coliseu Comendador Rondão Almeida in Elvas, Portugal. Acht Teilnehmer:innen. Moderation: Filomena Cautela.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
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01 | Filipe Sambado | Gerbera amarela do Sul | 04 | 76 | 03 |
02 | Jimmy P | Abensonhado | 06 | 49 | 05 |
03 | Tomás Luzia | Mais real que o Amor | 08 | 24 | 06 |
04 | Elisa Rodrigues | Não voltes mais | 03 | 37 | 08 |
05 | Throes & the Shine | Movimento | 05 | 46 | 07 |
06 | Kady | Diz só | 07 | 52 | 04 |
07 | Elisa Silva | Medo de Sentir | 10 | 55 | 01 |
08 | Bárbara Tinoco | Passe-Partout | 12 | 46 | 02 |
Abwärtsgeht’s mit diesem verstaubten ESC – Jahrgang
Seit dem ich letztes Jahr zum ersten mal das FdC geschaut habe und am Ende 10 Minuten Gänsehaut hatte ob der menschlichen Wärme und der Gelassenheit, die dieses Festival ausstrahlen, ist es mein allerliebster VE geworden. Da können eigentlich Jury und / oder Anrufer auch Arsch und Friedrich zum Sieger küren, es wäre mir auch beinahe egal…
Bin absolut bei Thomas – beim FdC kann einem der Sieger tatsächlich herzlich egal sein, da man ja weiss, dass es so oder so ein irgendwie schöner Beitrag sein wird. Wenn Elisa es schafft, ihren Auftritt in Rotterdam etwas zugänglicher und/oder geschmackssicherer zu gestalten (auch ich habe die sympathische Sängerin mit Beatles-Pulli auf der Bühne kaum wiedererkannt), gibt es vielleicht auch Hoffnung aufs Finale.
Und welcher “Vorentscheid” würde seinen Vorjahressieger dermaßen feiern, nachdem der beim ESC den drittletzten Platz im Semifinale einfuhr? Vielleicht liegt hier der feine Unterschied zwischen einem Vorentscheid und einem Festival.
Darum träume ich davon, dass man in Deutschland irgendwann doch mal umdenkt und mit meinetwegen geringem Etat ein deutsches Festival auf die Beine stellt, bei dem es dann statt vermeintlicher Erfolgsformeln tatsächlich um Musik geht.
Ist eigentlich irgendjemandem aufgefallen, dass die 20er-Jahre-Diseuse am Beginn des Liedes eine gelbe Gerbera (sic) in den Händen zwirbelt, um sie dann achtlos wegzuwerfen ? Wenn das mal keine Bildsprache war…
Natürlich wäre Filipe mit Abstand die beste Wahl gewesen, aber ländliche Dummbratzen, denen man ein Telefon in die Hand gab haben das zu verhinden gewusst. Jetzt also eine Hundertjährige für die nächste Toilettenpause (kann man denn überhaupt so viel saufen, wie man dieses Jahr pinkeln gehen möchte ?)
Anscheinend konzentriert sich Portugal auch dieses Jahr wieder auf den Barbara Dex Award.
*seufz* .…. Portugal halt. Nur, dass der Siegertitel noch deprimierender ist als durchschnittlich eh schon. Irgendwie hat dieses Volk eine latente Todessehnsucht.