Fes­ti­val da Can­ção 2020: Un Banc, un Arb­re, une Rue

Das Zweit­bes­te ist immer das Erst­schlech­tes­te. Die­se Lek­ti­on lehr­te uns (mal wie­der) das gest­ri­ge Fina­le des Fes­ti­val da Can­ção, bei dem sich in der Abstim­mung Publi­kum und Jurys nicht eini­gen konn­ten und in Fol­ge des­sen sich die in bei­den Votings ledig­lich Zweit­plat­zier­te Eli­sa Sil­va durch­set­zen konn­te. Mit einer für mei­ne Ohren graus­lich gesun­ge­nen, stein­schwe­ren Bal­la­de namens ‘Medo de Sen­tir’ (‘Angst vor dem Gefühl’), mit denen sich das Urlaubs­land mal wie­der als aus­sichts­rei­cher Bewer­ber für den letz­ten Platz im ESC-Semi­fi­na­le in Stel­lung bringt. Nicht nur, dass das kaum zu ertra­gen­de, depres­si­ve Geflen­ne der aus Madei­ra stam­men­den Künst­le­rin im dies­jäh­ri­gen, sich gera­de zum ein­schlä­fernds­ten Euro­vi­si­ons­jahr­gang seit 1961 ent­wi­ckeln­den Oze­an der Jam­mer­bal­la­den voll­kom­men unter­geht. Im FdC-Fina­le belei­dig­te Eli­sa zudem mit einem Büh­nen­fum­mel aus der Abtei­lung “Fest­li­che Abend­ro­be für die Dame ab Hun­dert”, bestehend aus einer über alle Maßen puf­fi­gen, bei­gen Blu­se und einem boden­lan­gen Rock aus dem­sel­ben auber­gi­ne­far­be­nen Glit­zer­stoff, aus dem auch das Kleid der sie beglei­ten­den Pia­nis­tin genäht war, die Augen des mode­be­wuss­ten Publi­kums. Ohren- und Augen­krebs in nur einem Auf­wasch, ergänzt von dem drin­gen­den Wunsch, sich das Leben neh­men wol­len ange­sichts des gan­zen Elen­des, das muss Por­tu­gal erst mal jemand nachmachen.

Pao­la hat ange­ru­fen und will ihren Kla­mot­ten­ge­schmack zurück: Eli­sa Silva.

Dabei hat­ten sich sowohl die Jurys als auch das Publi­kum jeweils für einen durch­aus wun­der­ba­ren Bei­trag ent­schie­den, nur lei­der nicht für den­sel­ben. Die Juror:innen aus den ein­zeln abge­frag­ten sie­ben Regio­nen Por­tu­gals votier­ten alle­samt für den Thea­ter­stu­den­ten und Sin­ger-Song­wri­ter Fili­pe Sam­ba­do. Bis auf die dünn besie­del­te, süd­li­che Bin­nen­re­gi­on Alen­te­jo und die auto­no­me Insel­grup­pe Madei­ra, die – oh Wun­der – für Frau Sil­va stimm­te. Sam­ba­do plün­der­te für sein Out­fit sowohl die Klei­der­kam­mer eines vik­to­ria­ni­schen Kos­tüm­stü­ckes als auch einen Kron­leuch­ter und gab uns die andro­gy­ne Queen. Mit einer Wach­s­trä­ne unter dem lin­ken Auge woll­te beson­de­re Emp­find­sam­keit demons­trie­ren, aller­dings erweck­te es eher den Ein­druck, als habe ihm jemand noch kurz vor dem Auf­tritt ins Gesicht eja­ku­liert. Ein Chor schwarz ver­han­ge­ner Imker-Wit­wen mit boden­lan­gen Schlei­ern, vom Blog­be­trei­ber lie­be­voll “die Petril­los” getauft, beglei­te­te ihn. Ein rie­si­ger grü­ner Fla­schen­öff­ner bil­de­te den Thron ihrer Hoheit Fili­pe, der beim Auf­ste­hen von sel­bi­gem ein Paar gut durch­trai­nier­ter Bei­ne offen­bar­te. All das opti­sche Spek­ta­kel lenk­te womög­lich ein wenig ab von der musi­ka­li­schen Güte des eher expe­ri­men­tel­len, an die Ver­schro­ben­heit vori­ger Bei­trä­ge wie ‘Tele­mó­veis’ anknüp­fen­den Songs über die ‘Ger­be­ra ama­re­la do Sul’, die ‘Gel­be Ger­be­ra aus dem Süden’, einer lyrisch wohl nur für Portugies:innen dechif­frier­ba­ren Betrach­tung über Kas­ten, Neid und Mar­ty­ri­um. Oder so ähnlich.

Fühlt sich “kon­so­li­diert”: Fili­pe, die Blu­me des Südens.

Das für sei­ne abso­lu­te Ober­fläch­lich­keit berüch­tig­te, ver­gnü­gungs­süch­ti­ge hei­mi­sche Publi­kum erteil­te dem Jury­lieb­ling jedoch mit dem vor­letz­ten Platz im Tele­vo­ting eine schrof­fe Zurück­wei­sung. Es erfreu­te sich statt­des­sen an der zucker­süß-ver­spiel­ten Nied­lich­keit des Kon­kur­renz­bei­trags ‘Pas­se-Par­tout’, der klang, als han­de­le es sich um das Titel­stück eines seit unge­fähr sech­zig Jah­ren und nach nur drei Auf­füh­run­gen vor­zei­tig abge­setz­ten Musi­cals. Dem­entspre­chend auch die Büh­nen­in­sze­nie­rung: die zucker­sü­ße Inter­pre­tin Bár­ba­ra Tino­co, die ihr kana­ri­en­gel­bes Kleid aus dem Semi­fi­na­le gegen ein deut­lich dezen­te­res, grü­nes aus­tausch­te und auch auf den dort noch ver­wen­de­ten, La-La-Land-inspi­rier­ten Back­drop ver­zich­te­te, saß dar­in auf einer Park­bank – und man moch­te im Kopf unwill­kür­lich “On a tous un Banc, un Arb­re, une Rue” anstim­men. Zwei gemischt­ge­schlecht­li­che Pär­chen umkränz­ten sie und lie­fer­ten einen zucker­sü­ßen Syn­chront­anz, wie ihn sich nur ein schwu­ler Cho­reo­graf einer Fern­sehre­vue aus den Anfangs­jah­ren von Peter Fran­ken­feld aus­ge­dacht haben kann. Zuvor ver­jag­ten sie noch den Bár­ba­ra anfangs beglei­ten­den, knuf­fi­gen Gitar­ris­ten, dem die char­mant for­mu­lier­te Absa­ge von Frau Tino­co wohl galt. Und als kerneuropäische:r Zuschauer:in frag­te man sich, wel­che Dro­gen die da in Lis­sa­bon so neh­men, ver­moch­te aber gleich­zei­tig kaum, sich gegen die absur­de Put­zig­keit des Gan­zen zu wehren.

Bár­ba­ra Tino­co: mit der gel­ben Ger­be­ra des Südens jagt sie ihren Ver­eh­rer in die Fri­end Zone.

Lei­der jedoch ver­sorg­ten die por­tu­gie­si­schen Zuschauer:innen nicht nur Bár­ba­ra mit der wohl­ver­dien­ten Höchst­wer­tung, son­dern auch die schreck­li­che Hun­dert­jäh­ri­ge mit zehn Punk­ten, so dass die­se mit Hil­fe der dia­bo­li­schen Jurys den Sieg steh­len konn­te. Wie viel Unglück muss erst noch gesche­hen, damit die Mensch­heit end­lich ein Ein­se­hen hat und die­ses kran­ke Fol­ter­in­stru­ment ver­bie­tet? Dabei boten sich noch ande­re Titel an im FdC-Fina­le, bei­spiels­wei­se das wun­der­bar ent­spann­te ‘Diz só’ (‘Sag’s ein­fach’) der von den Kap­ver­den stam­men­den, in Lis­sa­bon behei­ma­te­ten Sin­ger-Song­wri­te­rin Kady mit dem viel­leicht inter­es­san­tes­ten Text des Abends über die Fra­ge, was für einen unre­flek­tier­ten, neo­li­be­ra­len Unsinn wir uns tag­ein, tag­aus so ein­re­den las­sen. Ver­bun­den mit locker-flo­cki­ger Bar­mu­sik, zu der man am Strand der Algar­ve sit­zend sei­nen Sun­dow­ner genie­ßen möch­te. Oder ‘Movi­men­to’ von Throes + the Shi­ne, dem Trio mit dem sexy bär­ti­gen Drum­mer, die einen Hauch von Deich­kind in das FdC brach­ten. Auch wenn man ihnen ver­übeln möch­te, dass sie im Semi­fi­na­le das deut­lich bes­se­re ‘Rebel­li­on’ von Blas­ted Mecha­nism aus dem Ren­nen schmis­sen, und zwar nur, weil sie bei Punkt­gleich­heit im Gesamt­ergeb­nis die höhe­re Jury­wer­tung vor­wei­sen konn­ten und das im tra­di­tio­nell zuschauer:innenskeptischen Por­tu­gal mehr zählt. Die Jury ist also auch hier ein Unter­drü­ckungs­in­stru­ment der Mäch­ti­gen gegen das gesell­schaft­li­che Auf­be­geh­ren. Was auch sonst.

Kady: war es Ange­la (Mer­kel), die uns sag­te, man muss töten, um zu überleben?

Des­sen­un­ge­ach­tet lie­fer­te uns das drei­ein­halb­stün­di­ge (!) Fes­ti­val da Can­ção 2020, des­sen Live-Über­tra­gung im Netz der Sen­der RTP infol­ge einer Über­zie­hung der vor­her geplan­ten Sen­de­zeit um weni­ge Minu­ten (!) mit­ten im span­nends­ten Moment des Votings vor­zei­tig abbrach (ich hof­fe, in Lis­sa­bon rol­len dafür Köp­fe!), in sei­nem Pau­sen­pro­gramm den mit Abstand schöns­ten und ver­söhn­lichs­ten Vor­ent­schei­dungs­mo­ment in der Geschich­te des Grand Prix Euro­vi­si­on. Und damit ist weder der Auf­tritt des Vor­jah­res­ver­tre­ters Conan Osí­ris gemeint, der behan­gen mit einem sen­sa­tio­nel­len Gesichts­schmuck und in Beglei­tung sei­nes gebär­den­dol­met­schen­den Tän­zers eine akus­ti­sche Ver­si­on von ‘Tele­mó­veis’ zele­brier­te, noch der zir­ka ein­stün­di­ge Gig einer All­star-Kapel­le, die eine Rei­he von ganz ent­fernt an die Spi­der Mur­phy Gang erin­nern­den, por­tu­gie­si­schen Pop-Klas­si­kern zum Bes­ten gab. Son­dern ein impro­vi­sier­ter Schnell­durch­lauf mit allen acht am FdC-Fina­le betei­lig­ten Acts, die im Green­room zur Akus­tik­gi­tar­re von Bár­ba­ras zurück­ge­wie­se­nem Galan ein Med­ley ihrer Wett­be­werbs­ti­tel anstimm­ten. Und dabei ein:e Jede:r aus vol­ler Brust den voll­stän­di­gen Text der Kon­kur­ren­ten mit­sang. Das hat­te Schön­heit und Grö­ße und weck­te den Wunsch, jede natio­na­le Vor­ent­schei­dung möge doch ein klei­nes biss­chen so sein wie die por­tu­gie­si­sche. Minus das Wer­tungs­de­sas­ter, natürlich.

Grup­pen­sin­gen im Pau­sen­raum: für die­sen inti­men Moment der Gemein­schaft­lich­keit muss man die Portugies:innen lieben.

Trig­ger­war­nung: das kom­plet­te FdC-Fina­le ist wirk­lich nur etwas für Men­schen mit sta­bi­ler Psy­che oder zum Run­ter­kom­men, wenn man die dopa­min­sti­mu­lie­ren­den Sub­stan­zen über­do­siert haben sollte.

Vor­ent­scheid PT 2020

Fes­ti­val da Can­ção. Sams­tag, 7. März 2020, aus dem Coli­seu Comend­ador Ron­dão Almei­da in Elvas, Por­tu­gal. Acht Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Filome­na Cautela.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tingJuryPlatz
01Fili­pe SambadoGer­be­ra ama­re­la do Sul047603
02Jim­my PAben­son­ha­do064905
03Tomás LuziaMais real que o Amor082406
04Eli­sa RodriguesNão vol­tes mais033708
05Throes & the ShineMovi­men­to054607
06KadyDiz só075204
07Eli­sa SilvaMedo de Sentir105501
08Bár­ba­ra TinocoPas­se-Par­tout124602

6 Comments

  • Seit dem ich letz­tes Jahr zum ers­ten mal das FdC geschaut habe und am Ende 10 Minu­ten Gän­se­haut hat­te ob der mensch­li­chen Wär­me und der Gelas­sen­heit, die die­ses Fes­ti­val aus­strah­len, ist es mein aller­liebs­ter VE gewor­den. Da kön­nen eigent­lich Jury und / oder Anru­fer auch Arsch und Fried­rich zum Sie­ger küren, es wäre mir auch bei­na­he egal…

  • Bin abso­lut bei Tho­mas – beim FdC kann einem der Sie­ger tat­säch­lich herz­lich egal sein, da man ja weiss, dass es so oder so ein irgend­wie schö­ner Bei­trag sein wird. Wenn Eli­sa es schafft, ihren Auf­tritt in Rot­ter­dam etwas zugäng­li­cher und/oder geschmacks­si­che­rer zu gestal­ten (auch ich habe die sym­pa­thi­sche Sän­ge­rin mit Beat­les-Pul­li auf der Büh­ne kaum wie­der­erkannt), gibt es viel­leicht auch Hoff­nung aufs Finale. 

    Und wel­cher “Vor­ent­scheid” wür­de sei­nen Vor­jah­res­sie­ger der­ma­ßen fei­ern, nach­dem der beim ESC den dritt­letz­ten Platz im Semi­fi­na­le ein­fuhr? Viel­leicht liegt hier der fei­ne Unter­schied zwi­schen einem Vor­ent­scheid und einem Festival.
    Dar­um träu­me ich davon, dass man in Deutsch­land irgend­wann doch mal umdenkt und mit mei­net­we­gen gerin­gem Etat ein deut­sches Fes­ti­val auf die Bei­ne stellt, bei dem es dann statt ver­meint­li­cher Erfolgs­for­meln tat­säch­lich um Musik geht.

  • Ist eigent­lich irgend­je­man­dem auf­ge­fal­len, dass die 20er-Jah­re-Diseu­se am Beginn des Lie­des eine gel­be Ger­be­ra (sic) in den Hän­den zwir­belt, um sie dann acht­los weg­zu­wer­fen ? Wenn das mal kei­ne Bild­spra­che war…
    Natür­lich wäre Fili­pe mit Abstand die bes­te Wahl gewe­sen, aber länd­li­che Dumm­brat­zen, denen man ein Tele­fon in die Hand gab haben das zu ver­hin­den gewusst. Jetzt also eine Hun­dert­jäh­ri­ge für die nächs­te Toi­let­ten­pau­se (kann man denn über­haupt so viel sau­fen, wie man die­ses Jahr pin­keln gehen möchte ?)

  • *seufz* .…. Por­tu­gal halt. Nur, dass der Sie­ger­ti­tel noch depri­mie­ren­der ist als durch­schnitt­lich eh schon. Irgend­wie hat die­ses Volk eine laten­te Todessehnsucht.

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