Noch nachzureichen gilt es den gestern veröffentlichten georgischen Beitrag zum Eurovision Song Contest 2020. Das Kaukasusland hatte bereits am Silvesterabend 2019 im Rahmen der Castingshow Sakartvelos Varskvlavi den kernigen Tornike Kipiani zu seinem Vertreter bestimmt. Dessen bisheriges Repertoire erweckte zunächst die Hoffnung auf etwas sehr Lautes, sehr Düsteres. Doch, leider: seine nun vorgestellte Rocknummer ‘Take me as I am’ fiel vergleichsweise zahm und melodisch aus, der Georgier hält sich mit dem für ihn sonst charakteristischen Anschreien ziemlich zurück und überlässt gar zwei engelsgleichen Frauenstimmen Teile des Refrains. Was nicht heißen soll, dass der Song nicht noch immer positiv herausstäche aus der beigen, auf Sicherheit komponierten Midtempo-Kacke, mit der die meisten Konkurrenten das Feld überschwemmen. Dessenungeachtet entzündete sich in den sozialen Medien eine Debatte über den relativ übersichtlichen Text seines Beitrags, in dem Tornike sich beklagt, von seiner Angebeteten nicht zurückgeliebt zu werden, weil diese andere Qualitäten von ihm erwarte als die von ihm mitgebrachten. So könne er weder reden wie ein Engländer noch riechen wie ein Franzose, sich nicht kleiden wie ein Italiener oder gar tanzen wie ein Spanier. In Bezug auf die Deutschen sind dem Georgier die Klischees allerdings ein bisschen durcheinander geraten: “why do you want me to play like a German,” fragt er. Seit wann gehört das zu unseren hervorragendsten Eigenschaften?
Tornike: ein Angry Caucasian Male, den nur mal jemand fest in den Arm nehmen müsste. Also, ich hülfe da gerne!
Was also sehr offensichtlich als Angriff auf die Big Five gedacht ist, die fünf stets fix fürs Finale gesetzten Bruttozahlerländer, zumal man ihm eine gewisse lustvolle Verachtung beim Aussprechen dieser Nationalitäten anhört, wird von einigen Fans als Musterbeispiel toxischer Maskulinität interpretiert. Denn lässt man den Aspekt der ausgewählten Länder mal beiseite, kann man den Text auch als typisches männliches Lamento lesen, darüber, dass die Gefühle von der Auserwählten nicht erwidert werden. Und das, obwohl Tornike nach eigenem Ausweis keine Qualitäten mitbringt, die eine Gegenliebe rechtfertigten, welche er dennoch in einem aggressiven Tonfall einfordert. Ein klassischer Fall männlicher Überheblichkeit also? Ich halte das für ausgemachten Humbug, schließlich knüpft der Georgier inhaltlich an einen meiner Lieblingsschlager von Drafi Deutscher an, der in ‘Nimm mich so wie ich bin’ schon 1966 die merkwürdige (und ihrerseits egoistische) Eigenheit vieler Frauen anklagte, ihre Männer auf Biegen und Brechen nach ihren Vorstellungen ändern zu wollen, und konstatierte hinsichtlich seiner kritisierten Eigenschaften: “Ich seh’ all meine Fehler ein, doch anders kann ich nicht sein”. Eine Aussage, wie ich sie in Auseinandersetzungen auch oft aus dem Mund meines Vaters hörte und die mir ein persönliches Mantra geworden ist. Daher darf man mich in diesem Disput vorbehaltlos zum Team Tornike rechnen.
Etwas gefälliger im Vortrag, aber inhaltsgleich vom Sentiment: Drafi Deutscher.
Now do you want me to vote like a russian guy?
Puh, ne mittelprächtige Ballade mit schauderhaftem Text
Zumindest bietet der Text in seiner Einfachheit eine Menge an Interpretationsmöglichkeiten. Und wenn man die Kommentare unter dem Video liest, dann wird die ausgiebig genutzt.
Georgien ist gerade in einer besonderen Situation, man löst sich (mehr oder weniger friedlich) von Russland und sucht die Nähe von Europa um dann festzustellen, dass man sich dort recht wenig um das Land ganz am Rand des Kontinents interessiert. Daher auch die Selbstzweifel, ob man sich noch mehr an die europäischen Standards anpassen, oder doch bleiben soll, wie man ist. Es ist also an uns zu sagen, Je t’aime ich liebe dich Georgien.
Das mit den Deutschen und spielen habe ich auf Fußball bezogen, wobei da nach der letzten WM das eigentlich falsch ist,
Ah, das macht Sinn mit dem Fußball. Soweit hab ich als komplett sportuninteressierter Homo wieder nicht gedacht. Aber noch mehr Sinn macht deine andere Erläuterung, danke dafür. Diesbezüglich lassen wir Westeuropäer:innen ja gerade etliche der Ex-Sowjet-Staaten im Stich. Und Tornike, um auf ihn wieder zurückzukommen, bräuchte sich gar nicht zu ändern, um ein Je t’aime von mir zu bekommen. 🙂
Könnte Titelsong bei Pegida-Kundgebungen und ähnlichen in den jeweiligen Ländern werden. Müsste man halt jeweils länderspezifisch anpassen.
Das wird man doch wohl mal sagen dürfen, Mensch!