Melo­di­fes­ti­valen 2020: Nicht das Gel­be vom Ei

Ein Punkt. Ein ein­zi­ges gott­ver­damm­tes Pünkt­chen trenn­te am Ende einer ner­ven­auf­rei­ben­den Abstim­mung beim dies­jäh­ri­gen Melo­di­fes­ti­valen die Sie­ge­rin­nen von der Fan-Favo­ri­tin. Immer­hin war es hier nicht die Schuld der inter­na­tio­na­len Jury: die zeig­te sich näm­lich genau so gespal­ten wie das Publi­kum und bedach­te bei­de Betei­lig­ten mit der exakt glei­chen Stim­men­zahl. So, dass es allei­ne den schwe­di­schen Televoter:innen oblag, für Klar­heit zu sor­gen. Und die ent­schie­den sich mit einem wirk­lich nur hauch­dün­nen Vor­sprung von 0,1% der abge­ge­be­nen Stim­men für The Mamas, den Begleit­chor des Vor­jah­res­ver­tre­ters John Lund­vik, die heu­er, geschrumpft vom Quar­tett zum Trio, selbst ange­tre­ten waren im Kampf um die Fahr­kar­te nach Rot­ter­dam. Sel­bi­ge ergat­ter­ten die drei schwar­zen, stimm- wie figur­ge­wal­ti­gen Diven Lou­lou Lamot­te (wenn das kein fabel­haf­ter Drag-Name ist!), Ash­ley Hay­nes und Dinah Yonas Man­na mit ihrem uplif­ten­den Gos­pel-Pop­song ‘Move’ und einer simp­len, aber vor schie­rer Ener­gie und posi­ti­ver Aus­strah­lung nur so bers­ten­den Büh­nen­show. Und spä­tes­tens, als nach der Tro­phä­en­über­ga­be durch Lund­vik bei der Sie­ger­re­pri­se bei einer der Drei­en die Freu­den­trä­nen flos­sen und ihr vor Gerührt­heit kurz die Stim­me ver­sag­te, muss­te jedem, der ein Herz besitzt, die­ses augen­blick­lich dahin schmelzen.

Three Tons of Fun: die abso­lut ado­rablen Mamas.

Doch lei­der gibt es auch Men­schen ohne Empa­thie, und zwar vor allem unter den Anhänger:innen der unter­le­ge­nen Inter­pre­tin im schwe­di­schen Ele­fan­ten­ren­nen, Johan­na Maria Jans­son ali­as Dot­ter (was im Schwe­di­schen nicht das Eigelb meint, son­dern, etwas spi­ri­tu­el­ler, “Toch­ter” [der Erde]). Die führ­te vor­ab in allen Fan-Polls und galt eben­falls als Favo­ri­tin der Buch­ma­cher. Zu mei­nem völ­li­gen Unver­ständ­nis, wie ich sagen muss, denn ihr (stöhn!) Mid­tem­po-Song ‘Bul­let­pro­of’ plät­scher­te ohne jeg­li­chen Höhe­punkt an den Ohren vor­bei und erwies sich als belie­bi­ge, kom­plett aus­tausch­ba­re Stan­gen­wa­re, wie wir sie beim Mel­lo schon gefühlt fünf­zehn Mil­lio­nen mal zu Gehör beka­men, und zwar meist in deut­lich bes­se­rer Qua­li­tät. So ver­leg­te sich Toch­ter Jans­son aufs Visu­el­le und ver­klei­de­te sich als leben­de Dis­co­ku­gel, um, ziel­ge­rich­tet ange­strahlt von einem Laser, die Augen­lich­ter der Zuschauer:innen in der Friends Are­na in Sol­na zu ver­sen­gen. Das sah in der Tat spek­ta­ku­lär aus und lenk­te anschei­nend erfolg­reich von dem leb­lo­sen Geplod­der ihres Bei­trags ab, deren Hook­li­ne “I’m not Bul­let­pro­of” sich den­noch als sehe­risch hin­sicht­lich ihres Abschnei­dens erwies. Sehr zum Miss­fal­len der Dot­ter-Fans, die ihren Frust anschlie­ßend im Netz ven­ti­lier­ten und bei­spiels­wei­se auf You­tube dem Live-Video der Mamas über tau­send Down­vo­tes bescher­ten. Wie man sieht, gehen schlech­ter Musik­ge­schmack und Herz­lo­sig­keit also Hand in Hand.

Mach­te aus ihren bei­den Mam­mae töd­li­che Strah­len abson­dern­de Atom­re­ak­to­ren: Dotter.

Abseits der bei­den prak­tisch gleich­auf lie­gen­den Oben­ge­nann­ten tra­ten unter­des­sen erheb­li­che Unter­schie­de in den Wer­tun­gen der inter­na­tio­na­len Juror:innen und der hei­mi­schen TV-Zuschauer:innen zuta­ge. So bei­spiels­wei­se beim Schau­spie­ler und ehe­ma­li­gen Boy­band-Mit­glied Felix Sand­man, der bereits 2017 als Teil des Jung­män­ner­tri­os FO&O sowie 2018 solo am Mel­lo teil­nahm und dies­mal mit frisch blon­dier­ter Kurz­haar­fri­sur den Titel ‘Boys with Emo­ti­ons’ bei­steu­er­te. Der befass­te sich mit den schäd­li­chen Fol­gen der noch immer tief in unse­rer Gesell­schaft ver­wur­zel­ten toxi­schen Männ­lich­keit und konn­te bei den Jurys immer­hin den drit­ten Platz errin­gen. Die doch eigent­lich immer für gesell­schaft­lich fort­schritt­lich gehal­te­nen Schwed:innen hin­ge­gen wie­sen ihm eben­falls Rang 3 zu, aller­dings vom Tabel­len­en­de aus gese­hen. Es scheint, dass der Rück­fall in die ver­staub­ten Leit­kul­tur­bil­der der Fünf­zi­ger­jah­re auch vor Skan­di­na­vi­en kei­nen Halt macht, und das ist ein beängs­ti­gen­des Zeichen.

Jungs dür­fen also auch in Schwe­den kei­ne Gefüh­le zei­gen. Jetzt brau­che ich eine Umar­mung, Felix.

Umge­kehrt ver­lief es beim letzt­jäh­ri­gen Ver­tre­ter Est­lands, dem sub­stanz­lo­sen Schön­ling Vic­tor Cro­ne. Der kas­sier­te für sein ster­bens­lang­wei­li­ges ‘Trou­bled Waters’, einen ver­wäs­ser­ten Abklatsch und prä­zi­se Fol­ge­schä­den­be­schrei­bung sei­nes Euro­vi­si­ons­bei­trags ‘Storm’, von den Jurys zu Recht nur 19 Punk­te und damit den letz­ten Platz. Den er sich aller­dings mit dem Lati­no-Papí Leo­pol­do Mén­dez und sei­nem stimm­lich kata­stro­phal ver­geig­ten, musi­ka­lisch schaum­ge­brems­ten Som­mer­son­ne-und-Strand-Schla­ger ‘Vamos Ami­go’ tei­len muss­te. Beim optisch ziem­lich abge­wrack­ten Mén­dez und sei­nem jugend­li­chen Lieb­ha­ber Duett­part­ner Alva­ro Est­rel­la zeig­ten sich die Televoter:innen einig mit den Juror:innen, ver­mut­lich aus ras­sis­ti­schen Grün­den; schließ­lich feg­te zum Auf­takt der als Strand­bar­par­ty insze­nier­ten Dar­bie­tung ein wei­ßer (schwe­di­scher?) Tän­zer für die bei­den gebür­ti­gen Chi­le­nen die Büh­ne: eine Umkeh­rung der noch immer gel­ten­den Herr­schafts­ver­hält­nis­se, nach wel­chen die­je­ni­gen mit der dunk­le­ren Haut­far­be die die­nen­den Jobs zu erle­di­gen haben. Doch zurück zu Herrn Cro­ne: der blei­che Jeff-Col­by-Abklatsch (die Älte­ren erin­nern sich) mit der öli­gen Aus­strah­lung kas­sier­te bei den Zuschaue­rin­nen dop­pelt so viel Zustim­mung wie bei den Jurys. Urgh.

Vaya­mos Com­pa­ñe­ros: die ech­ten Lati­nos Mén­dez und Alva­ro lie­ßen die deut­schen Kopis­ten von Mar­quess (Vor­ent­scheid 2008) ver­gleichs­wei­se authen­tisch aussehen.

Noch kras­ser fiel das Miss­ver­hält­nis bei der ewi­gen Mel­lo-Aspi­ran­tin Mari­et­te Hans­son aus, die für ihre völ­li­ge ega­le Num­mer ‘Shout it out’ kläg­li­che 9 Punk­te vom Publi­kum erhielt, aber 42 von den Jurys. Wofür, bleibt ein Rät­sel, denn das ein­zig Memo­rable ihrer drei Minu­ten waren die Mis­he­ard Lyrics ihrer Text­zei­le “Starts to sound like Lice” – kein Wun­der bei der ver­filz­ten Fri­sur! Einig­keit hin­ge­gen herrsch­te in der Ableh­nung des ehe­ma­li­gen schwe­di­schen Euro­vi­si­ons­ver­tre­ters Robin Beng­ts­son, der sich im Vor­stel­lungs­clip zu sei­nem Mel­lo-Auf­tritt mit ‘Take a Chan­ce’ erneut als ekel­haft selbst­ver­lieb­ter Schnö­sel prä­sen­tier­te und mit sei­nem offen­bar gefärb­ten Voll­bart zuneh­mend aus­sieht wie Klaas Heu­er-Umlauf nach drei durch­ge­koks­ten Näch­ten. Das merkt man natür­lich auch an der Stim­me: Beng­ts­son röhr­te sei­nen belang­lo­sen Bei­trag kom­plett an die Wand. Anis Don Demi­na hin­ge­gen bewies mit sei­nem ener­gie­ge­la­de­nen Bal­ler­mann­hit ‘Vem e som oss’ (‘Wer ist wie wir’) ein­mal mehr, dass die Schwed:innen sich ihrer eige­nen Spra­che schä­men: die von dem mensch­li­chen Hüpf­ball Anis in einem glanz­sei­de­nen Trai­nings­an­zug vor­ge­turn­te Num­mer, in wel­cher er sei­ne Geschich­te als kon­tro­ver­ser Medi­en­star aufs Korn nahm, schaff­te es als ein­zi­ger hei­mat­sprach­li­cher Mel­lo-Bei­trag nicht übers Mit­tel­feld hin­aus. Schade!

Kusch­lig: Den Domi­na im saug­fä­hi­gen Strampelanzug.

Punkt­lan­dung mit exakt zwei Stun­den Sen­de­zeit: das kom­plet­te Mel­lo-Fina­le 2020.

Vor­ent­scheid SE 2020

Melo­di­fes­ti­valen. Sams­tag, 7. März 2020, aus der Friends Are­na in Stock­holm, Schwe­den. 12 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Lina Hed­lund, David Sun­din, Lin­nea Henriksson.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­tingJuryPlatz
01Vic­tor CroneTrou­bled Waters381909
02Paul ReyTal­king in my Sleep333506
03The MamasMove726501
04Mohom­bi MoupondoWin­ners062012
05Han­na FermBra­ve692504
06Leo Mén­dez + Álva­ro EstrellaVamos Ami­gos211911
07Dot­terBul­let­pro­of716502
08Robin Beng­ts­sonTake a Chance283508
09Mari­et­te HanssonShout it out094210
10Felix Sand­manBoys with Emotions145307
11Anna Ber­gen­dahlKing­dom come614603
12Anis Don DeminaVem e som oss424005

6 Comments

  • Ich habe die schwe­di­schen Wett­be­werbs­bei­trä­ge ges­tern Abend das ers­te mal gehört und ich muss sagen, dass ich nicht ganz ver­ste­hen kann, was die Fans am Melo­di­fes­ti­valen so anturnt. Wenn das näm­lich alles war, was Schwe­den zu bie­ten hat, dann kann ich mir nur erklä­ren, dass ich da auf einen geküns­tel­ten Hype rein­ge­fal­len bin. Die ein­zi­gen Lie­der, die mich mit­ge­ris­sen haben, waren jene von Dot­ter und Felix. Ich bin mir sicher, dass es da schon deut­lich stär­ke­re Jahr­gän­ge gibt, obwohl ich das Mel­lo nur von Zeit zu Zeit ver­fol­ge. Es wird dem Hype defi­ni­tiv nicht gerecht. Was die Mamas angeht: sie waren nicht mein Favo­rit aber ich wün­sche ihnen den­noch viel Glück. Lei­der hast du recht, es gibt Fans, die sich übel danebenbenehmen.

  • …..und Anna mit ihrem Tiger zün­delt gera­de Zuhau­se in den vier Wän­den ihres König­reichs . Sie schreit und heult dabei “This is My Life”. 

    Ansons­ten war es ges­tern Abend in Schwe­den recht langweilig!
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    In Finn­land dann auch – da mei­ne Hoff­nung auf ein unschul­di­ges Blu­men Mäd­chen zer­stört wurden!
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    ….und in Por­tu­gal ja sowieso!

  • Es soll ja sogar Fans geben, die man­chen Juro­ren den Tod gewünscht haben … 😉

    Klar war Lund­viks Über­ga­be des Pokals (oder wat das fürn Ding war) an die Mamas ein schö­ner Moment – da kei­ne Sym­pa­thie zu füh­len obliegt den Sozio­pa­then unter uns. Das macht “Move” aber auch nicht wirk­lich besser.

  • Ich habe das Mel­lo ges­tern nicht ver­folgt, kam aber zur Sie­ger­eh­rung recht­zei­tig in den Stream. Muss­te drei­mal die Augen zusam­men­knei­fen bevor ich begriff, dass tat­säch­lich die­se drei voll­fet­ten Wach­teln mit ihrem Pseu­do­gos­pel­ge­kreisch gewon­nen hat­ten. Alles, aber auch alles ande­re wäre mir da lie­ber gewe­sen – sogar der schlei­mi­ge Exi­les­te. Bit­te jetzt das Semi­aus – dann hät­te ich Satisfaktion.

  • Wir ler­nen schwe­disch dekli­nie­ren: Euro­vi­sio­när gilt Mam­mas statt Mammae…

  • Scheint ja ein über­aus span­nen­des Voting gewe­sen zu sein. Um vie­le Län­gen span­nen­der als der Sie­ger­ti­tel, der eher vor­vor­gest­rig, ein wenig auf­ge­pimpt wirkt. Auch die Zweit­plat­zier­te wäre nicht der gro­ße Griff gewe­sen. Lei­der kann man dafür nicht mal den viel­sa­gen­den Begriff “inter­es­sant” verwenden.

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