Ein Punkt. Ein einziges gottverdammtes Pünktchen trennte am Ende einer nervenaufreibenden Abstimmung beim diesjährigen Melodifestivalen die Siegerinnen von der Fan-Favoritin. Immerhin war es hier nicht die Schuld der internationalen Jury: die zeigte sich nämlich genau so gespalten wie das Publikum und bedachte beide Beteiligten mit der exakt gleichen Stimmenzahl. So, dass es alleine den schwedischen Televoter:innen oblag, für Klarheit zu sorgen. Und die entschieden sich mit einem wirklich nur hauchdünnen Vorsprung von 0,1% der abgegebenen Stimmen für The Mamas, den Begleitchor des Vorjahresvertreters John Lundvik, die heuer, geschrumpft vom Quartett zum Trio, selbst angetreten waren im Kampf um die Fahrkarte nach Rotterdam. Selbige ergatterten die drei schwarzen, stimm- wie figurgewaltigen Diven Loulou Lamotte (wenn das kein fabelhafter Drag-Name ist!), Ashley Haynes und Dinah Yonas Manna mit ihrem upliftenden Gospel-Popsong ‘Move’ und einer simplen, aber vor schierer Energie und positiver Ausstrahlung nur so berstenden Bühnenshow. Und spätestens, als nach der Trophäenübergabe durch Lundvik bei der Siegerreprise bei einer der Dreien die Freudentränen flossen und ihr vor Gerührtheit kurz die Stimme versagte, musste jedem, der ein Herz besitzt, dieses augenblicklich dahin schmelzen.
Three Tons of Fun: die absolut adorablen Mamas.
Doch leider gibt es auch Menschen ohne Empathie, und zwar vor allem unter den Anhänger:innen der unterlegenen Interpretin im schwedischen Elefantenrennen, Johanna Maria Jansson alias Dotter (was im Schwedischen nicht das Eigelb meint, sondern, etwas spiritueller, “Tochter” [der Erde]). Die führte vorab in allen Fan-Polls und galt ebenfalls als Favoritin der Buchmacher. Zu meinem völligen Unverständnis, wie ich sagen muss, denn ihr (stöhn!) Midtempo-Song ‘Bulletproof’ plätscherte ohne jeglichen Höhepunkt an den Ohren vorbei und erwies sich als beliebige, komplett austauschbare Stangenware, wie wir sie beim Mello schon gefühlt fünfzehn Millionen mal zu Gehör bekamen, und zwar meist in deutlich besserer Qualität. So verlegte sich Tochter Jansson aufs Visuelle und verkleidete sich als lebende Discokugel, um, zielgerichtet angestrahlt von einem Laser, die Augenlichter der Zuschauer:innen in der Friends Arena in Solna zu versengen. Das sah in der Tat spektakulär aus und lenkte anscheinend erfolgreich von dem leblosen Geplodder ihres Beitrags ab, deren Hookline “I’m not Bulletproof” sich dennoch als seherisch hinsichtlich ihres Abschneidens erwies. Sehr zum Missfallen der Dotter-Fans, die ihren Frust anschließend im Netz ventilierten und beispielsweise auf Youtube dem Live-Video der Mamas über tausend Downvotes bescherten. Wie man sieht, gehen schlechter Musikgeschmack und Herzlosigkeit also Hand in Hand.
Machte aus ihren beiden Mammae tödliche Strahlen absondernde Atomreaktoren: Dotter.
Abseits der beiden praktisch gleichauf liegenden Obengenannten traten unterdessen erhebliche Unterschiede in den Wertungen der internationalen Juror:innen und der heimischen TV-Zuschauer:innen zutage. So beispielsweise beim Schauspieler und ehemaligen Boyband-Mitglied Felix Sandman, der bereits 2017 als Teil des Jungmännertrios FO&O sowie 2018 solo am Mello teilnahm und diesmal mit frisch blondierter Kurzhaarfrisur den Titel ‘Boys with Emotions’ beisteuerte. Der befasste sich mit den schädlichen Folgen der noch immer tief in unserer Gesellschaft verwurzelten toxischen Männlichkeit und konnte bei den Jurys immerhin den dritten Platz erringen. Die doch eigentlich immer für gesellschaftlich fortschrittlich gehaltenen Schwed:innen hingegen wiesen ihm ebenfalls Rang 3 zu, allerdings vom Tabellenende aus gesehen. Es scheint, dass der Rückfall in die verstaubten Leitkulturbilder der Fünfzigerjahre auch vor Skandinavien keinen Halt macht, und das ist ein beängstigendes Zeichen.
Jungs dürfen also auch in Schweden keine Gefühle zeigen. Jetzt brauche ich eine Umarmung, Felix.
Umgekehrt verlief es beim letztjährigen Vertreter Estlands, dem substanzlosen Schönling Victor Crone. Der kassierte für sein sterbenslangweiliges ‘Troubled Waters’, einen verwässerten Abklatsch und präzise Folgeschädenbeschreibung seines Eurovisionsbeitrags ‘Storm’, von den Jurys zu Recht nur 19 Punkte und damit den letzten Platz. Den er sich allerdings mit dem Latino-Papí Leopoldo Méndez und seinem stimmlich katastrophal vergeigten, musikalisch schaumgebremsten Sommersonne-und-Strand-Schlager ‘Vamos Amigo’ teilen musste. Beim optisch ziemlich abgewrackten Méndez und seinem jugendlichen Liebhaber Duettpartner Alvaro Estrella zeigten sich die Televoter:innen einig mit den Juror:innen, vermutlich aus rassistischen Gründen; schließlich fegte zum Auftakt der als Strandbarparty inszenierten Darbietung ein weißer (schwedischer?) Tänzer für die beiden gebürtigen Chilenen die Bühne: eine Umkehrung der noch immer geltenden Herrschaftsverhältnisse, nach welchen diejenigen mit der dunkleren Hautfarbe die dienenden Jobs zu erledigen haben. Doch zurück zu Herrn Crone: der bleiche Jeff-Colby-Abklatsch (die Älteren erinnern sich) mit der öligen Ausstrahlung kassierte bei den Zuschauerinnen doppelt so viel Zustimmung wie bei den Jurys. Urgh.
Vayamos Compañeros: die echten Latinos Méndez und Alvaro ließen die deutschen Kopisten von Marquess (Vorentscheid 2008) vergleichsweise authentisch aussehen.
Noch krasser fiel das Missverhältnis bei der ewigen Mello-Aspirantin Mariette Hansson aus, die für ihre völlige egale Nummer ‘Shout it out’ klägliche 9 Punkte vom Publikum erhielt, aber 42 von den Jurys. Wofür, bleibt ein Rätsel, denn das einzig Memorable ihrer drei Minuten waren die Misheard Lyrics ihrer Textzeile “Starts to sound like Lice” – kein Wunder bei der verfilzten Frisur! Einigkeit hingegen herrschte in der Ablehnung des ehemaligen schwedischen Eurovisionsvertreters Robin Bengtsson, der sich im Vorstellungsclip zu seinem Mello-Auftritt mit ‘Take a Chance’ erneut als ekelhaft selbstverliebter Schnösel präsentierte und mit seinem offenbar gefärbten Vollbart zunehmend aussieht wie Klaas Heuer-Umlauf nach drei durchgekoksten Nächten. Das merkt man natürlich auch an der Stimme: Bengtsson röhrte seinen belanglosen Beitrag komplett an die Wand. Anis Don Demina hingegen bewies mit seinem energiegeladenen Ballermannhit ‘Vem e som oss’ (‘Wer ist wie wir’) einmal mehr, dass die Schwed:innen sich ihrer eigenen Sprache schämen: die von dem menschlichen Hüpfball Anis in einem glanzseidenen Trainingsanzug vorgeturnte Nummer, in welcher er seine Geschichte als kontroverser Medienstar aufs Korn nahm, schaffte es als einziger heimatsprachlicher Mello-Beitrag nicht übers Mittelfeld hinaus. Schade!
Kuschlig: Den Domina im saugfähigen Strampelanzug.
https://youtu.be/OdsieaXjQU0
Punktlandung mit exakt zwei Stunden Sendezeit: das komplette Mello-Finale 2020.
Vorentscheid SE 2020
Melodifestivalen. Samstag, 7. März 2020, aus der Friends Arena in Stockholm, Schweden. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Lina Hedlund, David Sundin, Linnea Henriksson.# | Interpreten | Songtitel | Televoting | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Victor Crone | Troubled Waters | 38 | 19 | 09 |
02 | Paul Rey | Talking in my Sleep | 33 | 35 | 06 |
03 | The Mamas | Move | 72 | 65 | 01 |
04 | Mohombi Moupondo | Winners | 06 | 20 | 12 |
05 | Hanna Ferm | Brave | 69 | 25 | 04 |
06 | Leo Méndez + Álvaro Estrella | Vamos Amigos | 21 | 19 | 11 |
07 | Dotter | Bulletproof | 71 | 65 | 02 |
08 | Robin Bengtsson | Take a Chance | 28 | 35 | 08 |
09 | Mariette Hansson | Shout it out | 09 | 42 | 10 |
10 | Felix Sandman | Boys with Emotions | 14 | 53 | 07 |
11 | Anna Bergendahl | Kingdom come | 61 | 46 | 03 |
12 | Anis Don Demina | Vem e som oss | 42 | 40 | 05 |
Ich habe die schwedischen Wettbewerbsbeiträge gestern Abend das erste mal gehört und ich muss sagen, dass ich nicht ganz verstehen kann, was die Fans am Melodifestivalen so anturnt. Wenn das nämlich alles war, was Schweden zu bieten hat, dann kann ich mir nur erklären, dass ich da auf einen gekünstelten Hype reingefallen bin. Die einzigen Lieder, die mich mitgerissen haben, waren jene von Dotter und Felix. Ich bin mir sicher, dass es da schon deutlich stärkere Jahrgänge gibt, obwohl ich das Mello nur von Zeit zu Zeit verfolge. Es wird dem Hype definitiv nicht gerecht. Was die Mamas angeht: sie waren nicht mein Favorit aber ich wünsche ihnen dennoch viel Glück. Leider hast du recht, es gibt Fans, die sich übel danebenbenehmen.
…..und Anna mit ihrem Tiger zündelt gerade Zuhause in den vier Wänden ihres Königreichs . Sie schreit und heult dabei “This is My Life”.
Ansonsten war es gestern Abend in Schweden recht langweilig!
-
In Finnland dann auch – da meine Hoffnung auf ein unschuldiges Blumen Mädchen zerstört wurden!
—-
—-
—
….und in Portugal ja sowieso!
Es soll ja sogar Fans geben, die manchen Juroren den Tod gewünscht haben … 😉
Klar war Lundviks Übergabe des Pokals (oder wat das fürn Ding war) an die Mamas ein schöner Moment – da keine Sympathie zu fühlen obliegt den Soziopathen unter uns. Das macht “Move” aber auch nicht wirklich besser.
Ich habe das Mello gestern nicht verfolgt, kam aber zur Siegerehrung rechtzeitig in den Stream. Musste dreimal die Augen zusammenkneifen bevor ich begriff, dass tatsächlich diese drei vollfetten Wachteln mit ihrem Pseudogospelgekreisch gewonnen hatten. Alles, aber auch alles andere wäre mir da lieber gewesen – sogar der schleimige Exileste. Bitte jetzt das Semiaus – dann hätte ich Satisfaktion.
Wir lernen schwedisch deklinieren: Eurovisionär gilt Mammas statt Mammae…
Scheint ja ein überaus spannendes Voting gewesen zu sein. Um viele Längen spannender als der Siegertitel, der eher vorvorgestrig, ein wenig aufgepimpt wirkt. Auch die Zweitplatzierte wäre nicht der große Griff gewesen. Leider kann man dafür nicht mal den vielsagenden Begriff “interessant” verwenden.