Ein ereignisreicher Supersamstag, der letzte der Vorentscheidungssaison 2020, liegt hinter uns, mit Entscheidungen in drei skandinavischen Ländern und in Portugal. Und fast überall kam es zu totalen Katastrophen sowie erneut zum Beweis, dass Jurys elende Wichser sind, die niemand braucht. Den schlimmsten Verlust gab es bei der Uuden Musiikin Kilpailu zu beklagen. Nach zwei eher mäßigen Ergebnissen mit vom Sender vorherbestimmten Interpret:innen hatte sich YLE entschieden, in diesem Jahr wieder einen offenen Vorentscheid mit sechs Teilnehmer:innen zu veranstalten. Und seit der Veröffentlichung aller sechs Beiträge vor geraumer Zeit stand fest, dass Finnland bei dieser UMK nur einen einzigen Job zu erledigen gehabt hätte; nämlich die in sämtlichen internationalen Fan-Polls haushoch führende Erika Vikman und ihre (zugegebenermaßen inszenatorisch ausbaufähige) herausragende feministische Hymne ‘Cicciolina’ nach Rotterdam zu entsenden, in welcher die Interpretin die real existierende ehemalige Pornodarstellerin und italienische Parlamentsabgeordnete Ilona Staller alias Cicciolina für ihre Rolle als Vorkämpferin der lustvollen sexuellen Selbstbestimmung und Selbstermächtigung von Frauen abfeierte.
Da steppt der Bär: Erika Vikmann in Begleitung ihrer beiden Kuschelteddys.
Und die Finn:innen erledigten diesen Job auch anstandslos: mit 99 Punkten führte Vikman im Televoting. Doch die Interpretin ahnte es selbst voraus: “Wäre ich ein Mann, wäre ich ein gefeierter Playboy / Doch die Kommentatoren sind entsetzt: nein, so nicht!” lautete eine ihrer Textzeilen. Denn tatsächlich hat sich in all den Jahren des scheinbaren gesellschaftlichen Fortschritts in diesem Hinblick nichts geändert: Frauen, die über ihre Sexualität selbst bestimmen wollen, stellen eine massive Bedrohung für das Patriarchat dar. Und das schlug in der Form der internationalen Jury brutal zurück, erteilte der Aufmüpfigkeit Vikmans eine klare Absage und brachte es tatsächlich fertig, am Vorabend des internationalen Weltfrauentages in atemberaubender Schamlosigkeit den einzigen Mann unter den sechs Teilnehmer:innen an die Spitze zu manipulieren. Der hört auf den Namen Aksel Kankaanranta, erlangte 2017 Bekanntheit als Silbermedallist in der Castingshow The Voice, sieht aus wie ein introvertierter Bankangestellter und sang – zugegebenermaßen mit einer beeindruckenden Stimme – eine weitere glanzlose Jammerballade. Und das in einem Eurovisionsjahrgang, welcher in Jammerballaden bereits ersäuft. Wie sich mein ehemaliges (lange, lange ist’s her) Grand-Prix-Lieblingsland selbst dermaßen ins Knie schießen und sich an die Speerspitze des reaktionären Rollbacks setzen kann, ist mir unbegreiflich und erfüllt mich mit Trauer und maßloser Wut.
Aksel wirkt unbedrohlich, vor allem aber ernsthaftig. Und verstärkt so die Botschaft: Spaß ist verboten.
Übrigens möge niemand auf die Idee kommen, einzuwenden, dass Aksel vom Publikum doch beinahe eben so viele Punkte erhalten habe wie Frau Vikman. Denn auch hierfür sorgte der verantwortliche finnische Sender YLE sehr gezielt, in dem er im ersten Votingblock zunächst die Ergebnisse der internationalen Jurys reihum abfragte, das Televoting jedoch unterdessen weiter laufen ließ. Das heißt, die finnischen Zuschauer:innen durften auch noch abstimmen, nachdem Kankaanranta öffentlich zum Juryliebling mit guten Chancen auf den Sieg gekürt worden war; übrigens unter Beteiligung von “Saksaa” (Deutschland), das ebenso für den feisten Balladeur stimmte wie die Hälfte aller beteiligten Nationen. Selbstredend voteten nun erst recht alle konservativ-verkniffenen Spassbremsen, die den in ihren Augen frevelhaften Beitrag der selbstbewussten Erika um jeden Preis verhindern wollten, für Aksel. Bis zum Beweis des Gegenteils bin ich der festen Überzeugung, dass er den Löwenanteil seiner Publikumspunkte nach der Bekanntgabe des Jury-Ergebnisses einsammelte. Rätselhaft bleibt mir nach wie vor, wieso YLE ‘Cicciolina’ überhaupt aufstellte, wenn der Sender den Song doch so offensichtlich nicht als finnischen Eurovisionsbeitrag haben wollte. Publikumsverarschung ist noch die mildeste Bezeichnung, die mir für ein solches Verhalten einfällt.
https://www.youtube.com/watch?v=6GphQZbLQhk
Schöne Show, ärgerliches Ergebnis: das UMK 2020.
Vorentscheid FI 2020
Uuden Musiikin Kilpailu (UMK). Samstag, 7. März 2020, aus dem Mediapolis TV Studio in Tampere, Finnland. 6 Teilnehmer:innen. Moderation: Krista Siegfrids und Mikko Silvennoine.# | Interpret/in | Titel | TV | Jury | Platz |
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01 | Catharina Zülke | Eternity | 24 | 42 | 05 |
02 | Erika Vikman | Cicciolina | 99 | 58 | 02 |
03 | Aksel Kankaanranta | Looking back | 94 | 76 | 01 |
04 | F3M | Bananas | 20 | 64 | 04 |
05 | Sansa | Lover View | 06 | 30 | 06 |
06 | Tika | I let my Heart break | 77 | 50 | 03 |
Ach, wie wahr, wie wahr. Kann man den diesjährigen ESC eigentlich ohne Koffeintabletten überstehen? Schrecklich.
Ja, ich hätte Erika Vikman auch toll gefunden. Wenn sie denn in Rotterdam ebenfalls Finnisch gesungen hätte…
die Inszenierung erinnert mich – mit den rosa Lackklamotten und dem roten Sessel, natürlich nicht musikalisch und ohne Bären – an die genauso geschmacklos gekleidete Kroatin in Opatija 2008 😉
Das ist wirklich ein totales Desaster, es wäre der einzige Song dieses Jahrgangs gewesen, der mich begeistert hätte. Sie wird für immer die Cicciolina der Herzen sein. Was für ein grauenhafter Jahrgang…
Echt eine traurige Entwicklung, nicht nur in Finnland. Aber das war die wirklich schlimmste Entscheidung dieser Saison. Setzen, 6, internationale Jury!
Wer so einen Mist schreibt und Menschen den Tod wünscht, der hat wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun! Mehr ist nicht zu sagen! Pfui
Natürlich wünsche ich niemandem den Tod, noch nicht mal den Juror:innen. Mein diesbezüglicher Satz ist selbstredend als satirische, nicht ernst gemeinte Übertreibung gedacht. Den darf man natürlich dennoch kritisieren, klar. Und ob ich noch alle Latten am Zaun habe, wage ich selbst zu bezweifeln. 🙂
Ich finde die oben genannten Äußerungen, auch wenn sie angeblich Satire sind, absolut unerträglich und vollkommen inakzeptabel. Mir und allen anderen Juroren den Tod zu wünschen überschreitet nicht nur bei weitem die Grenzen des guten Geschmacks sondern stellt m.E. schon den Strafbestand der Beleidigung und Gewaltandrohung dar. Von weiteren Schritten sehe ich derzeit nur ab, um das bizarre Geschreibsel nicht weiter aufzuwerten.
Gruß, Frank (Mitglied der internationalen UMK-Jury 2020)
Also ich kenne persönlich niemanden der noch alle Latten am Zaun hat.
Nachtrag: ich habe die zu Recht beanstandeten Formulierungen nun herausgenommen und entschuldige mich dafür, sofern sie tatsächlich ernst genommen wurden. Sie waren dem Frust des Augenblicks geschuldet und waren weder witzig noch angemessen. Vor allem haben sie den Artikel nicht besser gemacht.
Meine Meinung zu den Jurys als solche und ihren Mitwirkenden bleibt natürlich bestehen.
…und Ilona Staller würde jetzt eine weiße Taube fliegen lassen! 🙂
Dieser Tag wird vermutlich als der Game of Thrones Supersamstag in die ESC-Geschichte eingehen.
Aber ein Gutes hat ja vielleicht auch dieses Debakel, dürfte es doch die in diesem Blog angestossene “Entzieht den Völkern das Stimmrecht!”-Debatte im Keim erstickt haben. 😉
@Frederic – red wedding?
Ansonsten – wie spaßbefreit und verbissen kann man sein, @Frank und @Christian? Vielleicht lieber nur die FAZ lesen.
Das bereits legendäre Jurybashing des Hausherrn sollte man einfach nicht ernst nehmen. Es wird auch nicht wahrer, je öfter es wiederholt wird. Manche brauchen sowas, um sich selbst zu beweisen.
Ich muss mich beim Hausherrn entschuldigen, denn ich habe unbewusst das ganze hier ins Rollen gebracht. Nachdem ich auf der OGAE DE Facebook-Seite gelesen hatte, wie stolz die deutsche Jury darauf ist, Aksel zum ESC geschickt zu haben, konnte ich nicht umhin, meine Kritik vehement mitzuteilen und habe daher auch diesen Beitrag verlinkt.
Konnte ja keiner ahnen, dass die verbissenen Herrn von der OGAE Germany das so verbissen sehen. Daher habe ich heute (kein Witz!) meine Mitgliedschaft in dieser spaßbefreiten Vereinigung gekündigt.