Die Melodifestivalisierung des Eurovision Song Contest schreitet voran: der neue ausführende ESC-Produzent Martin Österdahl erlaubt beim großen europäischen Liederwettbewerb unter dem Deckmantel der Corona-Krise ab kommendem Jahr den Einsatz von aufgezeichneten Gesangsstimmen, wie er beim schwedischen Vorentscheid schon seit geraumer Zeit üblich ist. Zur Begründung nennt der Nachfolger von Jan Ola Sand die damit verbundene Kostenersparnis, die in Zeiten der noch auf uns zukommenden europaweiten Wirtschaftskrise vielen Ländern, die sonst aussetzen müssten, die weitere Teilnahme ermögliche, weil sie dann mit einer kleineren Delegation anreisen könnten. Zudem erlaube es den Songschreiber:innen, “ihre Arbeit so originalgetreu wie möglich zu präsentieren. Und, noch wichtiger, es stellt sicher, dass der Contest mit der Zeit geht,” so Österdahl heute auf eurovision.tv. Das Playback soll aber auf die Backgroundchöre beschränkt bleiben, die Leadsänger:innen müssen weiterhin live performen. Das Angebot des Teilplaybacks ist optional und sei zunächst auf ein Jahr beschränkt, wobei man nach den bisherigen Erfahrungen mit der EBU wohl jeden Betrag darauf verwetten kann, dass dieser Einschnitt in die Grundfesten des Wettbewerbs genau so “vorläufig” bleiben wird wie die 2015 als “einmalige Ausnahme” erfolgte Zulassung Australiens zum Eurovision Song Contest.
2015 durfte Australien zum 60. Jahrestag des ESC “einmalig” mitmachen. Und dann nochmal, und nochmal, und nochmal, und…
Liest man die Mitteilung auf der offiziellen Website, so klingt es, als sei die Fortführung des Eurovision Song Contest ohne diesen Eingriff nicht mehr garantiert: “Die Lektion, die uns der Frühling 2020 lehrte, lautet, dass wir einen Plan für eine globale Krise brauchen. Wir müssen flexibler sein und die Möglichkeit haben, Änderungen am Format vorzunehmen und daran, wie wir den Event in diesen Zeiten der Herausforderung organisieren,” so Österdahl. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass das von SVT schon lange gepushte schwedische Modell nun ausgerechnet im Zusammenhang mit der Corona-Krise durchgesetzt wird. Schließlich hat sich gerade bei diesem Thema der “freiheitliche” Sonderweg des skandinavischen Landes als letaler Irrtum mit der europaweit höchsten Anzahl an Coronatoten pro Million Einwohner:innen herausgestellt. Und natürlich geht mit Stimmen vom Band das authentische Live-Erlebnis, welches den ESC als Musikshow so besonders und einzigartig machte, komplett flöten. Was sich beim Melodifestivalen seit Jahren beobachten lässt, welches mit Hilfe dieses technischen Tricks fast nur noch einheitlich klingende, perfektionierte Hochglanzware anbietet, die in ihrer absoluten Austauschbarkeit zunehmend zu Tode langweilt. So etwas wie eine eigenständige Persönlichkeit lässt sich in den schwedischen Beiträgen längst schon nicht mehr finden.
Tausend Stimmen im Ohr, aber nur eine Person auf der Bühne: ohne Unterstützung aus der Retorte hätte bei Mariette von ‘Shout’ nicht die Rede sein können.
Nun müssen zwar beim ESC die sogenannten Lead-Dubs (die Zweitsänger:innen, das Beispiel hierfür: Alex Panayi, der 2009 in Moskau die Vokalarbeit bei ‘This is our Night’ praktisch im Alleingang stemmte, während der offizielle Interpret Sakis Rouvas auf einem gigantischen, illuminierten Tacker sportliche Höchstleistungen erbrachte und weitestgehend stumm die Lippen bewegte), auch in Zukunft weiter live singen. Doch dass sich mit unlimitierten Backing Vocals vom Band dennoch selbst die krächzigste Leadstimme gnädig zudecken lässt, ist kein Geheimnis und wurde bereits in den Siebzigerjahren in der ZDF-Hitparade praktiziert. Dass es daneben möglich bleiben soll, die Chorstimmen weiterhin live mit echten Menschen auf der Bühne zu produzieren (oder gar mit den voraufgezeichneten Vocals zu mixen), fällt unter Augenwischerei: welche Delegation würde denn dafür ernsthaft höhere Kosten auf sich nehmen, verbunden mit dem Wettbewerbsnachteil, dass es womöglich schlechter klingt als die durchs Backing Tape aufgepimpte Konkurrenz? Und so stirbt mit dieser Maßnahme eine der Traditionen, die mit Fug und Recht zum innersten Wesenskern des Eurovision Song Contest gezählt werden konnten. Anderseits gehören perpetuelle Änderungen ebenso zum Wesen dieser Show, die sich kaum sechseinhalb Jahrzehnte gehalten hätte, wenn sie sich nicht immer wieder – oft unter großen Schmerzen – dem Zeitgeist angepasst hätte.
Sakis swings, Alex sings: während Rouvas die Bauchmuskeln vibrieren lässt, steuert der Lead-Dub Panayi die Stimme bei.
In den Achtzigern und Neunzigern erwies sich beispielsweise das Orchester als Hemmschuh, beim Song Contest zeitgenössischen Pop präsentieren zu können, der auf dem Einsatz von Synthesizern basierte. Das damalige sture Festhalten an der Tradition sorgte für eine sich von Jahr zu Jahr vergrößernde Diskrepanz zwischen der Musik aus den Charts und den rettungslos altmodischen Klängen, wie sie beim Grand Prix zu hören waren. Mit dem Ergebnis, dass zu Zeiten der irischen Siegesphase Mitte der Neunziger fast niemand mehr zuschaute und die Medien kaum noch Notiz von dem TV-Ereignis nahmen. Erst die vom seinerzeitigen deutschen Delegationsleiter, Jürgen Meier-Beer, mit großem Druck und gegen hinhaltenden Widerstand durchgesetzte Streichung des Orchesters führte zu einem musikalischen Befreiungsschlag und einer Rückkehr des Wettbewerbs in die öffentliche Wahrnehmung. Wo er sich bis heute hält, was aber nicht heißt, dass nicht die Gefahr einer neuerlichen Abspaltung vom realen Popgeschehen bestünde. Ewan Spence von ESC Insight führt in seinem Essay ‘The Right Choice’ am Beispiel dreier Songs – ‘Rain on me’ von Lady Gaga und Ariana Grande, ‘Break my Heart’ von Dua Lipa und ‘Black’ von Dave – aus, wieso solcherart aktuelle Musik beim Eurovision Song Contest nicht vorkommen kann, solange dort Stimmen vom Band verboten sind. Und tatsächlich ist mit den heutigen technischen Möglichkeiten der Gesang einfach ein weiteres, beliebig bearbeitbares, synthetisierbares Instrument, so wie damals die handgeklampfte Rockgitarre. Das mag man bedauern, allerdings führt neue Technik immer auch zu neuer künstlerischer Kreativität.
Die fantastische Netta durfte beim ESC 2018 die spielerisch-kreativen Möglichkeiten ihres kleinen Stimmenzauberkästchens leider noch nicht nutzen. Gewonnen hat sie trotzdem.
Nun bietet mir das wenig Trost, da ich wohl auch altersbedingt die derzeitigen Pop-Charts als reizlosen, gleichförmigen Brei wahrnehme, der mich zu 99% völlig kalt lässt. Und weil ich den Eurovision Song Contest gerade deswegen so schätze, weil dort wenigstens hin und wieder so scheinbar überkommenen Traditionen wie Melodie, Refrain und – in ganz seltenen Glücksmomenten – sogar noch der altehrwürdigen Rückung gefrönt wird. Doch das mag auf jüngere, erst nach der Jahrtausendwende geborene ESC-Fans eventuell ebenso befremdlich wirken wie 1978, zu Hochzeiten der Discowelle, der französische Beitrag ‘Il y aura toujours des Violons’ auf den damals noch jugendlichen Hausherren. Und es wird sich, insofern spielt das Kostenargument schon eine Rolle, in den kommenden, von Wirtschafts- und Klimakrisen geprägten Zeiten zunehmend schwieriger gestalten, die Fortführung einer sündhaft teuren TV-Veranstaltung zu rechtfertigen, während selbst in derzeit noch steinreichen Nationen wie Deutschland immer mehr Einschnitte ins Programm vorgenommen werden, wenn diese nicht am Puls der Zeit bleibt. Und so will ich meine Betrachtung mit zwei Chancen der Neuerung beschließen: vielleicht, wenn wir ganz viel Glück haben, ermöglichen sinkende Kosten dank kleinerer Delegation ja irgendwann die Rückkehr des von mir schmerzlich vermissten Bosnien. Und: mit Backings vom Band sind trotz weiterhin gültiger Sechs-Personen-Regel endlich grandiose Tanz-Choreografien möglich, ohne dass die Stimmen darunter leiden. Hurra!
Hätte mit Backing Vocals vom Band sicher deutlich besser geklungen und ausgesehen: der schweizerische DJ Bobo in Helsinki.
Wieder einmal wurde die Situation von Ihnen sehr gut und passend beschrieben.
Interessanterweise habe ich mir in den vergangenen Tagen schon Gedanken über den Backing-Gesang gemacht und heute schon haben die Genfer die Bombe einschlagen lassen.
Eigentlich begrüße ich die Regel ja, solange sie eine Ausnahme bleibt und dafür sorgt, dass der Wettbewerb ordnungsgemäß durchgeführt werden kann (Thomas Schreiber hat ja schon in ESC-Update bei NDR Blue gesagt, dass eine erneute Absage “tödlich” für den ESC wäre), aber mit Ausnahmen geht die EBU sehr laissez faire um (wie schon mit Down Under beschrieben).
Für mich offenbart diese Regeländerung mal wieder, dass die EBU, wie viele andere Organisationen und Firmen, zuerst handelt, bevor sie wirklich darüber nachdenkt, was sie da jetzt eigentlich tut, wenn man sich überlegt, dass man noch ganze elf Monate Zeit hat (die man nicht mehr brauch, um das Ahoy neu zu mieten oder auf die Suche nach einem neuen Bühnendesign zu gehen, eventuell brauch man nicht mal mehr nen neuen Slogan, für den es ja sicher ne Marketingabteilung oder ein Kreativteam braucht), sich was auszudenken, um den Live-Gesang zu 100% zu ermöglichen. Viele Leute kamen nach der Ankündigung der Regeländerung schon mit dem Vorschlag, auf Backing-Sänger aus den Niederlanden für jedes Land zu setzten. Natürlich, sofern die Beiträge welche brauchen, aber das steht ja auch noch in den Sternen und das wären ja für viele Sänger auch noch extra Kosten.
Ich persönlich habe Angst vor einer permanenten Einführung dieser Regel. Nicht wegen meiner Liebe zum ESC. Mit sowas vergrault man mich nicht, auch wenn ich porentief reinen Live-Gesang natürlich bevorzuge. Aber es gibt genügend andere Fans, die das absolut nicht begrüßen werden und eventuell zukünftig die Veranstaltung meiden. Und der ESC hat sich schon mit der Abschaffung der Sprachenregelung sowie der Live-Musik bei vielen, nennen wir sie mal “Traditionalisten”, keine Freunde gemacht. Vielleicht kann der ESC mit so einer Regel aber auch neue Leute ansprechen, wer weiß? Sind jetzt alles nur Prognosen. Meine prophetischen Fähigkeiten sind sehr schlecht.
Klar, man darf nicht leugnen, dass der Wettbewerb in den vergangenen 15 Jahren immer mehr zum Show-Contest verkommt. Aber im Geiste geht es immer noch um die Lieder. Der ESC will doch keine austauschbare Casting-Show sein!
Die Thematik könnte man mit einem Hustensaft vergleichen. Er schmeckt nicht immer gut, manchmal sogar ziemlich scheußlich. Aber wenn man dadurch wieder gesund wird, soll es dem Kranken doch recht sein. Und der Grand Prix muss wieder gesund werden!
Ganz zu Ende gedacht käme der ESC vielleicht sogar zu seinen Wurzeln als Autorenwettbewerb zurück. Warum sollen Lead-Vocals noch live sein (oder überhaupt nötig sein?), auch da gibt es genug Musikrichtungen die kaum abbildbar sind. Wenn es am Ende nur um das Werk geht wird wieder der Autor geehrt und nicht die aufführende Person. Das wäre eine große Umgewöhnung zu heute, aber vielleicht auch eine Chance – wenn sich die Länder auch trauen und nicht alle einen David-Guetta-Abzug schicken.
Ich bin auch alt genug um das noch aktuelle Format zu bevorzugen (dass nicht mehr alle Sänger auf die Bühne müssen war schon ein Fehler), aber mit Traditionalisten kann eine Show die in Jahrzehnten plant keine Zukunft sichern. Daher ist Veränderung gut, auch wenn es schmerzt.
Mal alle Details beiseite gelassen – auf kurz oder lang muss sich die EBU entscheiden, ob der ESC ein internationaler Wettbewerb sein möchte, der einen großen künstlerischen Aspekt bedient oder eine weitere internationale Musikshow, in der es in erster Linie um Charttauglichkeit geht, also wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen.
Die aufgezeichneten Backingvocals als solches finde ich persönlich jetzt nicht soooo schlimm, siehe JESC, trotzdem besteht natürlich die Gefahr, dass der ESC damit ein sehe zentrales Element verliert.
Warum musste auch wieder ein Schwede an die Macht? Langsam wird’s doch offensichtlich fischig, dass der ESC zu einem internationalen Melodifestivalen “verkommen” soll. Das ist über alle Maßen unfair!
So langsam wünsche ich mir die Türkvizyon zurück…
Ob ZDF-Hitparade oder Melodifestivalen… es passt für mich nicht zum ESC. Auch ich habe mir schon gedacht, dass mit dieser Regeländerung wohl kaum eine Delegation ernsthaft mehr Geld für vier bis fünf weitere Hotelzimmer ausgibt. Die Begründung zur Regel überzeugt mich nicht. Die EBU macht sich nicht zum ersten Mal lächerlich. Es sei nicht möglich, eine Ausnahme bezüglich der Wiederverwertbarkeit der für 2020 ausgewählten Titel zu machen, aber Gesang vom Band? Kein Problem!
Ich weiß nicht, ob der Vergleich mit dem Orchester gut ist. Gut, da gibt es einige Totalausfälle (u. a. der berüchtigte italienische Saxophonist), aber wenn man sich mal Länder wie Albanien oder Italien anschaut, das sind Profis. Ich war ja anfangs sehr besorgt wegen dem Fanfavoriten Me tana, aber da waren meine Befürchtungen schlimmer, als letztendlich tatsächlich war.
Gut live singen zu können, wird immer weniger gewertschätzt. Irgendwann scheint es wohl wichtiger zu sein, auf der Bühne einen Sänger schauspielern zu können und eine Inszenierung zu tragen.
Ich weiß nicht, was mich bei der ganzen Sache mehr aufregt:
Die verlogenen Rechtfertigungsversuche von Herrn Österdahl oder die Degradierung der Chorsänger zu Sprechpuppen.
Eurovision Entertainment Contest wäre langsam ein ehrlicherer Name für den Bewerb.