Das Wichtigste erstmal vorweg: danke, RTSH! Wohl wissend um die Bedeutung des traditionsreichen albanischen Liederfestivals für das Seelenheil der Fans als erster nationaler Vorentscheid einer jeden Saison und als virtueller Weihnachtsbaum für die Grand-Prix-Familie, scheute der Sender keine Kosten und Mühen, inmitten einer grassierenden Pandemie eine spektakuläre Show über drei Abende zu fabrizieren und uns damit – nach dem Worst Case eines coronabedingt ausgefallenen Eurovision Song Contests – das so bitterlich herbeigesehnte Licht am Ende zwar nicht des Tunnels, aber eben des schlimmsten Jahres der Grand-Prix-Geschichte zu entzünden. Und wie dringend haben wir dieses benötigt! Die äußeren Umstände zwangen die Albaner, kreativ zu werden, die Show aus den geheiligten Hallen des Kongresspalastes mitten im Winter nach draußen auf den Sheshi Italia zu verlegen und die Teilnehmer:innen ihre Beiträge bei frostigen Temperaturen vortragen zu lassen, was sich durch eine lustige Wölkchenbildung beim Singen wunderhübsch visualisierte. Selbst das bislang sakrosankte Orchester fiel der Ansteckungsgefahr zum Opfer, stattdessen griff man aufs Teilplayback zurück. Das Publikum ersetzte man durch moderat dosierten Dosenapplaus. Und zu guter Letzt zeichnete man alle drei Teile des Festivalmarathons auf und sendete diese – bis auf die Moderation des Finales und die Urteilsverkündung – aus der Konserve.
https://youtu.be/vGAFD7mxPpo?t=349
So kurz und knackig wie selten: auf lediglich 2 Stunden 20 bringt es das komplette FiK-Finale 2020.
Und was soll man sagen: es tat der Festlichkeit keinen Abbruch, sondern ließ das Festivali i Këngës in frischem Glanz erstrahlen! Das machte sich schon beim spektakulären (und aus Kostengründen an allen drei Abenden verwendeten) Opening bemerkbar, das mit Kamerafahrten durch die dystopisch menschenleere Hauptstadt zu unheilvoll wabernder Musik, einem stampfenden Aufmarsch des Ku-Klux-Klan, einer Ballettvorführung mit Plexiglastrennscheibe und einer einsamen Opernwalküre im brausenden Sturmwind aufwartete, ergänzt um das standesgemäße Einreiten der Moderatorin Jonida Vokshi hoch zu Ross (beziehungsweise, am Finalabend, in einer Stretchlimousine). Sowie durch ein völlig überraschendes Phänomen: nämlich dem weitestgehenden Einhalten der geplanten Sendezeit, sonst aufgrund chaotischer Planung, technischer Pannen und der unheilvollen Tendenz der Live-Gäste zum endlosen Labern beim FiK – wie auch bei seinem Vorbild, dem italienischen San-Remo-Festival - üblicherweise ein Werk der reinen Fiktion. Einziger Wermutstropfen: schade, dass RTSH den Schwung der Erneuerung nicht auch nutzte, um endlich die überkommene Jury loszuwerden, die sowohl in den Semis als auch im gestrigen Finale erneut völlig unverständliche Entscheidungen traf.
https://youtu.be/EwJwe6Ac4YE
Marcha Bult hat angerufen und will ihre Schulsterpolster zurück: die Siegerin Anxhela Peristeri.
Was allerdings diesmal nicht für die Wahl der Siegerin gelten soll: mit der 34jährigen Sängerin Anxhela Peristeri und ihrer balkanisch flavorisierten Drama-Pop-Perle ‘Karma’ fiel die Wahl auf eine stimmstarke, charismatische Interpretin, die eine hervorragende Show ablieferte. Bereits die ersten Sekunden ihres Auftrittes gingen voll auf die Zwölf: die hochdramatischen Eröffnungsnoten ihres danach erstmal in deutlich ruhigere, fast flehentliche Flötentöne zurückgleitenden Liedes, ihr figurbetontes, paillettenglitzerndes Abendkleid mit den spektakulären Schulterpolstern sowie Anxhelas üppiges Dekolleté heischten gleichermaßen gierig nach Aufmerksamkeit. Nach einer guten Minute krochen dann vier attraktiv bevollbartete Tänzer in, wenn man das so nennen mag, festlich aufgehübschten Latexbodys auf sie zu, deren Badekappen vermuten ließen, dass er hernach noch auf eine (zu Lockdown-Zeiten natürlich illegale) Watersports-Fetischparty gehen sollte. Ihr Erscheinen setzte das Signal zum Aufdrehen der Beats, zu welchen die vier kecken Recken eine ausgesprochen hübsche Hüpf- und Hebefigur-Choreografie inszenierten, inklusive sexy Kamerastarrens. Das Tolle an dem ausgewählten Beitrag ist, dass er voll und ganz das eurovisionäre Klischee der schreienden Frau aus Albanien bedient, dabei aber nicht ins Schrill-Aggressive verfällt wie sonst so oft, sondern wunderbar harmonisch bleibt.
https://youtu.be/tuNWnrCXC_8
Eine geballte Ladung Fabelhaftigkeit: Eri Rusi, die Herzenssiegerin des Blogbetreibers.
Da ‘Karma’ es auf exakt drei Minuten Liedlänge bringt, besteht Anlass zur Hoffnung, dass der Song diesmal nicht einem entstellenden Remix zum Opfer fallen und – so das alljährliche wohlfeile Stoßgebet aller Albanienfans direkt nach dem FiK – bitte, bitte, bitte in Landessprache bleiben möge! Ein erfreulicherer Saisonauftakt 2021 wäre kaum denkbar gewesen. Außer natürlich, wenn sich die skipetarische Jury für die einzige vorhandene bessere Option entschieden und die sensationelle Trashpop-Wuchtbrumme Era Rusi zur Königin gekrönt hätte. Damit brauchte man jedoch aufgrund der Greisenhaftigkeit dieser Institution ohnehin nicht rechnen. Era, die ihre drallen Rundungen in goldene Schrumpffolie presste, präsentierte mit ‘Zjarri im’ eine rundheraus camptastische Uptemponummer, unterstützt ebenfalls von (hier allerdings gemischtgeschlechtlichen) Tänzer:innen. Warum diese anstelle eines Mund-Nasen-Schutzes Augenmasken trugen, bleibt allerdings ihr Geheimnis und sendet in diesen Zeiten das falsche Signal. Visueller Höhepunkt von Eras Performance: die Stelle, an welcher sie mit ihrem beeindruckend langen Haarzopf im peitschenden Takt des Songs auf die mit Goldpuder bestäubte Trommel eindrosch. Großes Kino! Dennoch reichte es für Frau Rusi unfassbarer Weise noch nicht mal für eine Platzierung unter den im Live-Teil des FiK-Finales verkündeten Top Drei. Schande!
https://youtu.be/jCyX-DCnGFc
Lieber Mirud: nächstes Jahr bitte wiederkommen, mit einem ähnlich guten Song und etwas mehr Selbstvertrauen. Grund genug dafür hast Du.
Wobei man sich fragt, was die Jury bei ihrer Wahl für den Silber- und Bronzerang rauchte: sowohl die völlig nichtssagende Ballade ‘Kush je ti dashuri’ der im schwarzen Trauerflor angetretenen Festina Mejzini als auch das grauenhafte Eröffnungslied des Finales, ‘Kam me t’ba me kajt’, dargeboten von einem chauvinistischen Unsympathen namens Sardi Strugaj, der seine Zeit auf einem Käfig stehend verbrachte, in dem seine bedauernswerte Freundin ihrem schrecklichen Schicksal harrte, fielen die in reich bestückte Kategorie “Bereits vergessen, während das Lied noch läuft”. Hinter den Erwartungen zurück blieb leider der heldenhaft offen schwule Kosovo-Albaner Mirud. Um dessen Gendergrenzen negierende Garderobenwahl gab es rund um das FiK ziemliche Aufregung, Mirud habe nach eigenen Angaben ausgerechnet aus der Gay-Community nicht nur Kritik, sondern gar Morddrohungen erhalten, was einen nun wirklich mit vor ungläubigem Staunen offenem Mund dastehen lässt. Ähnlich übrigens wie Mirud bei seinen Auftritten selbst, wo ihn das Memorieren seiner tapsigen Tanzschritte zu den beatbetonten Parts seines okayen Balkan-Balladen-Dance-Pop-Amalgans ‘Nëse vdes’ (‘Wenn ich sterbe’) so in Beschlag nahm, dass er vor lauter Konzentration vergaß, die Futterluke zu schließen. Das wirkte ein wenig unbeholfen, und auch wenn er im FiK-Finale eine deutlich größere Selbstsicherheit demonstrierte als noch am ersten Abend, so konnte er doch eine gewisse nervöse Kamerascheue nicht vollständig ablegen.
https://youtu.be/pkEi1QAx70M
Ein missglücktes Facelifting oder Ergebnis des Versuchs, sich in der Achterbahn den Lidstrich nachzuziehen? Kastros Anblick irritierte.
Erstaunlicherweise, denn mit seinen Outfits bewies er nun wirklich Mut: im Finale trug er ein pinkfarbenes Bolerojäckchen zu nacktem Oberkörper und einer knallroten, hautengen Hose mit geschwungenen Seitenstreifen. Die ihn allerdings unglücklicherweise vor allem beim Hüftenwackeln aussehen ließen, als habe er einen Arsch wie ein Brauereipferd, obwohl dies gar nicht der Fall ist. Auch die Gesichtsbemalung würde ich vielleicht überdenken. Das gilt gleichermaßen für den Rocker Kastro Zizo. Zwar unterließ er beim FiK wenigstens das Blackfacing, das ihn im Rahmen eines anderen Gigs vor einiger Zeit bereits zu Recht in die Kritik brachte. Dafür aber zeichnete er sich vertikale Linien ins vollbärtige Antlitz, die wohl irgendwie martialisch wirken sollten, tatsächlich jedoch eher den Eindruck erweckten, er sei mit einer renitenten Hauskatze aneinander geraten. Seine rockige Sprechgesangsnummer ‘Vallja e jetës’ erwies sich hingegen als erstaunlich gustationsfähig. Berührend der Auftritt der erst 23jährigen ehemaligen X‑Factor-Teilnehmerin Xhesika Polo, die sich mit ihrer sehr persönlichen, verständlicherweise tieftraurigen Festivalballade ‘Më mbron’ (‘Du beschützt mich’) von ihrer in diesem Jahr verstorbenen Mutter verabschiedete. Auch der deutlich lebensältere Hutträger Viktor Tahiraj, der ein bisschen aussah wie Serhat nach der Chemotherapie, sang eine Ode an (seine?) ‘Nënë’ und schickte ihr, wie Xhesika, nach dem Verklingen des letzten Tons einen stummen Gruß Richtung Himmel.
https://youtu.be/1AX53m93cL8
Erst, wenn man den Hintergrund kennt, packt einen diese sehr persönliche Ballade von Jessica Polo.
Spannend mitzuverfolgen die unterschiedliche Umgehensweise der 18 Finalist:innen mit der Kälte. Einige Künstler:innen, wie beispielsweise die stimmstarke Kamela Islamaj, hüllten sich in wärmendes Strickwerk und klobige Winterstiefel, andere, wie die gelbgewandete Blondine Evi Reçi, die ihr Dekolleté sogar bis knapp auf Nippelhöhe tiefer legte, trotzten dem Frost und gaben der Show den Vorzug. Zu welcher in Evis Fall zwei sehr lose mit neongelber Schnur gefesselte Tänzer gehörten, die in unglaubwürdiger Weise dennoch die volle Zeit brauchten, sich zu befreien. Ebenfalls unempfindlich gegenüber den Außentemperaturen zeigte sich das vom albanischen Sender neben dem noch immer heirate-mich-sofort-niedlichen Eugent Bushpepa als Pausenact gebuchte, bislang weithin unbekannte australische Rock-Quartett Mixed-up Everything. Die vier minipli-langhaarigen, in Shorts (!) und ohne Shirts (!) auftretenden Herren erzählten im Einleitungsgespräch, dass sie nach einer ausgedehnten Sommertour im landschaftlich reizvollen Land der Skipetaren in Folge der coronabedingten Reisebeschränkungen nun vorerst dort gestrandet seien. Das hat sich in diesem Fall gelohnt, würde ich sagen! Bizarrerweise entboten die Australier dann den deutschen Mauerfall-Klassiker ‘Wind of Change’ von den Scorpions. Und weil der Eurovision Song Contest und in Folge das Festivali i Këngës eben auch zuschauende Fans aus Down Under hat, fand sich dieser Auftritt nur wenige Minuten später bereits in ihrer Wikipedia-Bio verewigt. Die wundersamen Wege des World Wide Web!
https://youtu.be/uJD7jEARdWc
Man könnte fast glauben, Evis Gefangene wollen gar nicht fliehen, so halbherzig, wie sie sich von ihren Fesseln befreien.
Vorentscheid AL 2021
Festivali i Këngës 59. Mittwoch, 23. Dezember 2020, vom Italienischen Platz vor dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 18 Teilnehmer:innen. Moderation: Blendi Salaj und Jonida Vokshi.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Sardi Strugaj | Kam me t’ba me kajt | n.b. | 03 |
02 | Xhesika Polo | Më mbron | n.b. | n.b. |
03 | Orgesa Zaimi | Valixhja e kujtimeve | n.b. | n.b. |
04 | Wendi Mancaku | Vesi i shpirti tim | n.b. | n.b. |
05 | Era Rusi | Zjarri im | n.b. | n.b. |
06 | Gjergj Kaçinari | Më jep jetë | n.b. | n.b. |
07 | Rosela Gjylbegu | Vashëzo | n.b. | n.b. |
08 | Devis Xherahu | Peng | n.b. | n.b. |
09 | Mirud | Nëse vdes | n.b. | n.b. |
10 | Gigliola Haveriku | E lirë | n.b. | n.b. |
11 | Viktor Tahiraj | Nënë | n.b. | n.b. |
12 | Kamela Islamaj | Kujtimet s’kanë formë | n.b. | n.b. |
13 | Florent Abrashi | Vajzë | n.b. | n.b. |
14 | Inis Neziri | Pendesë | n.b. | n.b. |
15 | Evi Reçi | Tjerr | n.b. | n.b. |
16 | Anxhela Peristeri | Karma | n.b. | 01 |
17 | Festina Mejzini | Kush je ti dashuri | n.b. | 02 |
18 | Kastro Zizo | Vallja e jetës | n.b. | n.b. |
Kann mich da nur anschließen. In Tirana wurde gestern eine gute Wahl getroffen. Eine starke Stimme, eine tolle Mischung aus Ballade und Tanzmusik und ganz wichtig: Ethnoelemente! Bitte auf Albanisch bleiben!
Nicht gar so viel Neues vom Balkan. Wobei die ersten 15 Sekunden eigentlich viel versprechend waren. Weiter ging’s dann zwar nicht schlecht, doch auch nicht wirklich interessant. Kann trotzdem ins Finale kommen (chancenlos sehe ich es also nicht), muss man sehen, was die anderen abliefern. Die Saison ist ja noch superfrisch.
Pluspunkte gibt’s auf jeden Fall für die tanzenden Derw.…Bademeister und Anxhelas üppig bepflanzten Balkon.
Guten Spätabend aus Offenbach !
Ich schließe mich weitestgehend den bisherigen Kommentaren an. Akzeptable Entscheidung der Shkipetaren, mehr war bei dieser doch sehr antiquierten Jury nicht drin und die Fanfavoritin Iriz fand ich leider ziemlich langweilig.
Klar, “Karma” ist übliches Strickmuster, das auch schon 2005 beim ESC präsentiert hätte werden können. Aber solche Art Songs sind mir meistens willkommen – etwa im Vergleich zu diversen Produktionen überwiegend schwedischer Herkunft.….
Es gibt bereits die offizielle Bestätigung, daß Anxhela (beim Auftritt dann 35 Jahre) in Rotterdam in Albanisch singen wird. Auch an der Performance muß man meines Erachtens gar nicht mehr so viel ändern, das paßt schon ganz gut. Natürlich viel Kitsch, aber sehr profesionell dargeboten.
Ich werte mal mit 6 von 10 Punkten für Albanien.
Grundsätzlich für mich ein begrüßenswerter Sieg. Allerdings habe ich dieses Jahr sehr das Orchester vermisst. Und die Jury war mit Sicherheit gekauft. Ich kann mir die zweite und dritte Platzierung einfach nicht erklären. Und dass Era Rusi ausgerechnet auf dem letzten Platz gelandet sein soll, ist völlig unsinnig.
Sehr erwachsene, tragische Herzschmerz-Ballade mit tollem Balkan-Flair.
Titel, Text und Musik sind sehr reflektiert und durchdacht.
Und Anxhela ist genau die Richtige, um sie überzeugend auf die Bühne zu bringen.
Das kommt bestimmt ins Finale.
Danke Albanien!
Und Eri Rusi kann bitte jedes Jahr das FiK mit Ihrer gute-Laune-Power aufmischen, Sie war letztes Jahr schon eine Wucht.
Ich habe soeben noch einen weiteren Auftritt von Anzhela entdeckt, wo sie allerdings keine Tänzer dabei hatte. Sie ist wie auch ich im Zeichen Aries (also Widder) geboren, sie trug ein Symbol um den Hals.
Der gute Eindruck hat sich bestätigt, das könnte für das Finale reichen. Ob live in Rotterdam oder via Satellit zugespielt – das steht ja bekanntlich noch in den Sternen. Hoffen wir nur das Beste.