Organisierte Eurovisionsfans können manchmal der übelste Menschenschlag auf diesem Planeten sein! Diesen Montag ging das mit 25 Teilnehmer:innen bestückte Semifinale des als albanische Vorentscheidung dienenden, traditionellen Festivali i Këngës über die Antenne. Das fand wegen Corona diesmal nicht im Kongresspalast zu Tirana statt, sondern auf dem mit einer imposanten Freilichtbühne bestückten Platz davor. Richtig: im Freien, mitten im Winter, bei, wie sich an den Dampfschwaden aus den Mündern der Interpret:innen unschwer erkennen ließ, knackiger Kälte! Und auch nicht wie sonst live, sondern als Aufzeichnung schon ein paar Tage vorab. Natürlich trat das Unvermeidliche ein und die Ergebnisse sickerten bereits am Montagabend durch, aller Wahrscheinlichkeit nach, weil ein paar Schnatterinchen des Fanclubs OGAE, die bei der Veranstaltung dabei sein durften, ihre eitlen Plappermäulchen nicht halten konnten. Und natürlich verbreiteten etliche Fanmedien und Twitterer die Namen der Ausgeschiedenen ohne jegliche Spoilerwarnung noch während der laufenden Sendung, wofür sie auf ewig in der Hölle schmoren mögen. Boah, ich hasse solche Gestalten noch um einiges mehr als Juror:innen, und das will etwas heißen! Denn tatsächlich fällte auch die alleine entscheidungsberechtigte FiK-Jury ein himmelschreiendes Fehlurteil und sortierte mit dem supereingängigen Discoschlager ‘Njësoj’ von Enxhi Nasufi einen der an lediglich einer Hand abzählbaren Spitzentitel dieses Jahrgangs aus.
https://youtu.be/fRMJyGCOu3o
Jane Fonda hat angerufen und will ihre Aerobic-Videos aus den Achtzigern zurück: Enxi Nasufi bringt uns nach dem Lockdown-bedingten Bewegungsmangel wieder auf Vordermann.
Dabei hatte sich die aparte Sängerin, die in einem gewagten Bodysuit aus kälteabweisender Teichfolie und einem kuschligen Überwurf im zeitlosen Hahnentrittmuster den frostigen Außentemperaturen trotzte, eigens eine hoch bewegliche Tanztruppe unter Mitwirkung des Neunzigerjahre-Einhitwunders Vanilla Ice mitgebracht, die in neonfarbenen Outfits die guten alte ZDF-Tele-Ski-Gymnastik wieder auferstehen ließ. Ihr Ausscheiden ist nichts weniger als skandalös! Einen Skandal gab es auch um die Teilnahme des – Gott sei Dank – ebenfalls nicht ins Finale weitergezogenen Erik Lloshi. Bei dessen engagiert vorgetragener, düsterer Ballade ‘Jo’ handelte es sich nämlich, wie zahlreiche Fans twitterten, um ein Agitationslied gegen Abtreibung. Was der Sender RTSH auf der Festivalseite bestätigte. Erik präsentiert darin Textzeilen wie (sinngemäß) “Ich bin eine Kreatur in Deinem Körper”, “Lass mich von deinem Blut leben” und “Mach keinen Fehler, sag ja zum Leben”. Wann hat das bitte angefangen, dass sich die die Ultrakonservativen nun auch beim Eurovision Song Contest breitmachen? Und wann wird es endlich aufhören, dass Männer glauben, sie könnten sich in irgendeiner Weise zu einem Thema äußern, das einzig und alleine die betroffene Frau etwas angeht? Bilde ich mir das ein, oder entwickelt sich unsere Gesellschaft gerade mit riesigen Schritten rückwärts?
https://youtu.be/HxhAaW-nnuo
Wolkig der Anzug, gar nicht wolkig in der Aussage: Erik kämpft knallhart für das Patriarchat.
Dazu passte auch der pompöse Eröffnungsact, bei dem zu bedrohlich wabernder Musik eine Kohorte weißgekleideter Fahnenträger mit FiK-59-Wimpeln durch das verwaiste Tirana stampfte – die Gesichter vollständig verhüllt von stilisierten Corona-Masken und Spitzhüten, so als wohnten wir einem Aufmarsch des Ku Klux Klan bei! Die Pandemie zeigte sich omnipräsent: es gab ein Covid-Ballett, für einen ausführlichen Talk zum Thema holte RTSH zwischen den Beiträgen den albanischen Dr. Drosten auf die Bühne. Und auch der ausgeschiedene Sprechgesangsinterpret Franc Koruni präsentierte sich zum Auftakt seines Auftritts vorbildlich mit schwarzem Mund-Nasen-Schutz. Den er jedoch nach wenigen Sekunden auf den Bühnenboden schleuderte und achtlos dort liegenließ. Rüde! Anders der langhaarzottelige Rocker Kastro Zizo, der für seine Show die Tradition des Trickkleids wiederbelebte: er kam in schwarzen Lederstiefeln und Jeans, über welche er jedoch einen roten Damenrock trug. Dessen er sich im Verlauf seiner Nummer elegant entledigte, ihn am Ende seiner drei Minuten aber ganz ordentlich wieder aufhob und mitnahm. So geht das! Unklar ist, ob es sich bei dem Kleiderweitwurf um eine Solidaritätsaktion mit dem offen schwulen Mirud handelte, der für seine Barbara-Dex-Award-würdigen Outfits – ein extrem campes Torerokostüm mit dem tiefsten Männerbrustdekolleté aller Zeiten und Länder am ersten Abend und ein extrem tuffiges Abendkleid aus der Bianca-Shomburg-Kollektion am zweiten – nicht nur giftige Kommentare, sondern sogar Morddrohungen kassierte.
https://youtu.be/yJfuvnF8laY
Dem Gesicht nach zu urteilen kam Mirud offenbar direkt von einer Bukkake-Party im Fort Knox.
Und nun ist mein Herz natürlich voller Liebe und Hochachtung für einen so mutigen Mann wie Mirud, der es als öffentlich sichtbarer Homo sicher schwer hat auf dem Balkan. Dennoch gehört mit zur Wahrheit, dass der schöne Kosovo-Albaner in dem hauteng anliegenden Stierkämpferoutfit beim etwas angestrengt wirkenden Hüftenschwingen aussah wie eine Presswurst in Geschenkfolie. Und in die Kamera schaute wie ein Rehkitz, zwei Sekunden, bevor es auf der Landstraße des Nachts überfahren wird. Immerhin schaffte er es mit all dem optischen Aufhebens, ein wenig von der musikalischen Belanglosigkeit seines Songs ‘Nëse vdes’ abzulenken, mit dem er dennoch ins heutige Finale einzog. Im Gegensatz zum FiK-Kollegen und Mehrfachtäter Klint Çollaku, der zwar bei jedem seiner zahlreichen FiK-Teilnahmen etwas hotter aussieht als im Vorjahr, nur leider trotz ausgesprochen dramatischen Vortrags und Zähnefletschens musikalisch nie so recht überzeugen kann mit seinem ewiggleichen, mittelseichten Poprock. Schenken konnte man sich diesmal das zweite FiK-Finale, das aus den selben 25 Liedern bestand wie der erste Abend, aber in todesöden Unplugged-Fassungen. Die jedoch kaum den Reiz des Handgemachten entfalten konnten, da man in diesem Jahr wegen Covid komplett auf das Orchester verzichtete.
https://youtu.be/VxiBNYrzHJs?t=770
Beginnt als düstere Dystopie, wird aber spätestens mit dem Einzug der Moderatoren hoch zu Ross wieder glamourös: das komplette FiK-Semi 2020.