Höchste Zeit für ein Update zum Songcontest der Turkvölker, dem Türkvizyon Şarkı Yarışması, der nach knapp fünfjähriger Pause heuer wieder stattfindet. Und zwar, so verkündete es der für die Organisation zuständige türkische Musiksender TMB vor Kurzem, am Sonntag, dem 20. Dezember 2020 (zur Uhrzeit und den Übertragungskanälen ist noch nichts Näheres bekannt). Ein ursprünglich avisiertes Semifinale scheint damit vom Tisch, was die Vermutung nahelegt, dass nicht mehr all zu viele weitere zu den bis dato verkündeten 19 Partizipant:innen aus dem turksprachigen Kulturraum hinzustoßen werden. Wobei verlässliche Vorhersagen bei diesem traditionell chaotisch organisierten und kommunizierten Wettbewerb praktisch unmöglich sind. Deutschland, eines der ersten Länder, das seine Teilnahme zusagte, wird bekanntlich durch den Kölner Seyran Ismayilkhanov und den von ihm selbst geschriebenen Beitrag ‘Odun’ vertreten. Der Songtitel ist bewusst mehrdeutig: lautet die Google-Übersetzung auf ‘Holz’, so listet Eurovoix ihn unter ‘Feuer’. Seyran zufolge geht es in dem augenzwinkernden Text um einen Flirt mit einer Frau, die sich nicht so recht entscheiden kann. Das verpackt der vielseitige Künstler, den deutsche The-Voice-Zuschauer:innen noch aus dem Jahrgang 2019 kennen dürften, musikalisch passend in einen tanzbaren Popsong mit orientalischen Rockeinflüssen. Auch eine Choreografie hat Seyran schon im Kopf. Für das im Greenbox-Verfahren aufgenommene Präsentationsvideo für die Türkvizyon durfte diese allerdings nicht verwendet werden: hier schrieb TMB eine für alle Teilnehmer:innen einheitliche, statische Performance vor.
Zu hören sein wird der deutsche Türkvizyonsbeitrag erstmals bei der Show in gut zwei Wochen. Zur Überbrückung bis dahin nimmt uns Seyran in seinem neuesten Popschlager ‘Dezember’ auf einen virtuellen Bummel über den Weihnachtsmarkt mit und bringt so ein bisschen Licht und Wärme in diese trüben Tage (Repertoirebeispiel).
Obschon Seyran in Baku geboren wurde und aufwuchs, entschied er sich bewusst, seinen Text auf türkisch zu singen und nicht in seiner Muttersprache, wie dies – wohl aus politischen Gründen – einige seiner Konkurrent:innen tun. Zu denen zählt nicht nur die aserbaidschanische Repräsentantin Aydan İlxaszade, die das Land des Feuers erstmalig im Jahre 2016 bei der Bala Türkvizyion, also dem Kinderwettbewerb, vertreten sollte, der dann aber – wie die erwachsene Ausgabe – ins Wasser fiel. Neben dem Niederländer Elcan Rzayev, der Polin Mishelle und der Schwedin Arghavan befleißigt sich auch die belarussische Sängerin Svetlana Argaval für ihren Song ‘Məni anla’ des aserbaidschanischen Idioms. Der stammt übrigens aus der Feder der mehrfachen Eurofest-Teilnehmerin Gunesh, nicht nur die erste weißrussische Türkvizyonsvertreterin, sondern pikanterweise gleichzeitig die Vorsitzende der diesjährigen Jury. Aber ich bin mir sicher, dass sie über ihre eigene Komposition vollkommen objektiv urteilen kann. Zu den weiteren Dingen, die beim Eurovision Song Contest undenkbar wären, bei der Türkvizyon aber okay sind, gehört das Fehlen eines Vorveröffentlichungsverbotes. So gelangte der moldawische Beitrag 2020, das discotastische ‘Ateş Gibi’ von Pelageya Stefoglo, laut Eurovoix bereits 2018 erstmalig zur öffentlichen Aufführung. Für die Türkvizyon 2020 versprach Stefoglo allerdings eine Überarbeitung, wohl auch aufgrund von Kommentaren in den sozialen Netzwerken, nach denen ihre Aussprache nicht türkisch genug klinge.
https://youtu.be/zIEry4xUbzw
Muss an ihrer Aussprache arbeiten, meinen Einige: Pelageya Stefoglo (Moldawien) mit der Originalfassung ihres Beitrags (Audio).
Ebenfalls aus dem Jahre 2018 stammt der bosnische Türkvizyonsbeitrag ‘Džehva’. Die von Armin Muzaferija interpretierte, sterbensschöne Balkanballade, die eine Liebesgeschichte aus der Zeit des ottomanischen Imperiums erzählt, gehört zu den bekanntesten Hits des Künstlers; das aufwändige Musikvideo generierte auf Youtube seither bereits knapp 3 Millionen Views. Wikipedia zufolge wollte Armin, der sich selbst zu den Derwischen zählt, in nämlichem Jahr sogar beim Eurovision Song Contest teilnehmen, was allerdings an der chronischen Finanzknappheit der staatlichen Rundfunkanstalt BHRT scheiterte. Und womöglich an seiner engen Kooperation mit dem konkurrierenden Privatsender Hayat TV. Noch weiter zurück zu reisen in der Zeit plante die ukrainische Türkvizyonsrepräsentantin Natalie Papazoglu, die ursprünglich mit dem Stück ‘Sari Gelin’ anzutreten gedachte, einem traditionellen Volkslied aus dem südlichen Kaukasus. Doch ein solches Unterfangen ist selbst bei der Türkviyzon nicht gestattet. Daher setzt sie jetzt wieder auf das auf gagausisch gesungene Lied ‘Tikenli Yol’, das bereits für die – dann ausgefallene – Türkvizyon 2016 vorgesehen war. Das verbindet sie, wie die Sprache, mit der gagausischen Vertreterin Yulia Arnaut, die ebenfalls bereits 2016 in einem Vorentscheid für den Wettbewerb ausgesucht wurde und nun halt heuer ihr damaliges Lied ‘Kemençä’ singt, was sich laut Eurovoix mit ‘Violinen’ übersetzt. Womit man schon mal über einen Hinweis darauf verfügt, was uns musikalisch von ihrer Seite aus erwarten könnte.
Einmal mehr beweist es sich: niemand leidet so schön wie die Bosnier.
Doch bleiben wir im Balkan: neben Bosnien-Herzegowina ist mit Haris Skarep auch Serbien dabei (beziehungsweise das Sandžak). Für Nordmazedonien geht Cengiz Sipahi an den Start. Sein Song ‘Kal Yanimda’ stammt vom selben Komponisten, der auch die albanische Vertreterin Rovena Stefa mit dem zweisprachigen Beitrag ‘Zjarr’ versorgte. Die Melodifestivalisierung des Liederwettstreits macht also auch vor seinem turksprachigen Ableger keinen Halt. Für das Mutterland tritt das Herrenduo Ertan & İsrafil an. Die beiden gestandenen Mannsbilder begannen Eurovoix zufolge vor zehn Jahren mit Auftritten auf Touristenfähren im Bosporus und veröffentlichten 2017 ihr erstes Album. Deutlich nachgelassen hat die Begeisterung offensichtlich in den Stans, also den russischen Teilrepubliken mit turksprachigen Minoritäten. Jakutien, das auf einer Fläche von fast der Größe der gesamten Europäischen Union knapp eine Million Einwohner:innen versammelt, sagte nach anfänglichem Interesse zwischenzeitlich wieder ab. Auch die im Kaukasus lebende Volksgruppe der Nogaier zeigte TMB die kalte Schulter – angeblich habe man keine Einladung erhalten. Mit dabei ist allerdings wieder das bis dato bei der Türkvizyon recht erfolgreiche Tatarstan. Es schickt diesmal die Sängerin Diliya Ahmetshina, die sich in ihrer orientalisch instrumentierten Ballade ‘Ğafu it, awılım’ bei ihrem Dorf entschuldigt. Für was genau, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.
https://youtu.be/zM0Gl6zkVfg
Höre ich da etwa eine Kvinnabösken? (Tatarstan, Audio)
Für einen unangenehmen politischen Beiklang sorgte unterdessen eine auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Veröffentlichung auf der offiziellen Wettbewerbswebseite turkvizyon.tv. Dort posteten die Veranstalter bereits Mitte November 2020 unter der Überschrift ‘Inşallah’ (‘So Gott will’) und ohne weitere Erklärung das Türkvizyonslogo für 2021, in dem als Austragungsort der Name Şuşa (deutsche Schreibweise: Schuscha) steht. Die in der Region Bergkarabach liegende Stadt, die noch um 1916 über rund 44.000 Einwohner:innen verfügte, davon jeweils zirka die Hälfte Armenier:innen und Aserbaidschaner:innen, und in der zuletzt noch knapp 4.000 Menschen lebten, gehörte bis vor einigen Wochen noch zur völkerrechtlich umstrittenen, unter armenischem Einfluss stehenden De-Facto-Republik Arzach, bevor sie im Zuge des blutigen Krieges um Bergkarabach wieder an Aserbaidschan fiel. Da kaum anzunehmen ist, dass der Wettbewerb nächstes Jahr tatsächlich in der hochgradig instabilen Region ausgetragen werden soll, ist das Posting von TMB wohl vor allem als Solidaritätsbekundung mit dem Régime in Baku zu werten. Angesichts der Gräuel und der vielen Toten dieses von Europa kaum beachteten Krieges eher unschön, aber bei einer derartig politisch grundierten Veranstaltung wie der Türkvizyon wohl unvermeidlich.
Türkvizyon 2020
4. Song Contest des türkischen Kulturraumes. Sonntag, 20.12.2020, ab 14:00 Uhr MEZ aus Istanbul, Türkei. 26 Teilnehmer:innen. Moderation: Esra Balamir und Refik Sarıöz.# | Land / Republik | Teil von | Interpret:in | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Albanien | AL | Ilire Ismajli | Përsëri | 171 | 19 |
02 | Stawropol (Nogaier) | RU | Janna Musaeva | Munayma | 159 | 24 |
03 | Baschkortostan | RU | Ziliya Bahtieva | Halkyma | 174 | 17 |
04 | Bosnien | BA | Armin Muzaferiya | Džehva | 194 | 03 |
05 | Nordzypern | CY | Çağıl İşgüzar | Acitir hep Hayallerim | 171 | 21 |
06 | Nordmazedonien | MK | Cengiz Sipahi | Kal Yanimda | 171 | 20 |
07 | Tuwa | RS | Oorzhak Omak Çopanoviç | Bayla la Talgam | 176 | 15 |
08 | Aserbaidschan | AZ | Aydan Ilxaszade | Can Can Qardaş Can | 193 | 05 |
09 | Polen | PL | Mishelle | Doğma Yerlər | 172 | 18 |
10 | Tatarstan | RU | Diliya Ahmetşına | Ğafu it, awılım | 191 | 06 |
11 | Deutschland | DE | Seyran Ismayilkhanov | Odun | 190 | 08 |
12 | Irak | IQ | Sarmad Mahmood | Kelebek | 150 | 26 |
13 | Gagausien | MD | Yulia Arnaut | Kemençä | 185 | 10 |
14 | Chakassien | RU | Darya Taçeeva | Ot-çalında | 181 | 11 |
15 | Ukraine | UA | Natalya Papazoğlu | Tikenli yol | 226 | 01 |
16 | Sandžak | RS | Haris Skarep | Doživotno osuđen | 178 | 13 |
17 | Kirgisistan | KG | Ayganysh Abdieva | Jüpiter | 176 | 16 |
18 | Belarus | BY | Svetlana Agarval | Məni anla | 166 | 23 |
19 | Russland | RU | Olga Shimanskaya | Hadi gel | 186 | 09 |
20 | Rumänien | RO | Sunai Giolakai | Niye? | 167 | 22 |
21 | Kasachstan | KZ | Almaz Kopzhasar | Kim ol | 159 | 25 |
22 | Moldawien | MD | Pelageya Stefoglu | Ateş gibi | 191 | 07 |
23 | Sascha (Jakutien) | RU | Umsuura | Mokhsoğollor | 204 | 02 |
24 | Tjumen | RU | Adilya Tuşakova | Havalarda | 193 | 04 |
25 | Türkei | TR | Ertan & İsrafil | Ne Yaptıysam Olmadı | 179 | 12 |
26 | Uiguren | KZ | Sada Ensembel | Sevgiyi besle | 178 | 14 |
Klingt nach einem herrlichen Trash-Festivül allererster Güte! Danke für die Songvorstellungen, insbesonders der Disko-Klopper aus Moldawien macht Spaß!