Sechs direkt für die gestrige Endrunde gesetzte Teilnehmer:innen, fünf Vorrunden mit jeweils vier Konkurrent:innen, drei Abstimmungsrunden im Finale, zwei Gullfinal-Duellisten und eine Second-Chance-Runde: das bereits 2020 anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der norwegischen Vorentscheidung Melodi Grand Prix (MGP) massiv aufgeblasene Format erfuhr in diesem Jahr eine zusätzliche Ausweitung. Und wofür der ganze Aufwand? In den Vorrunden flogen regelmäßig die wenigen interessanten Acts heraus, seien es der offen schwule Care-Bare-Rapper Big Daddy Karsten oder die Abrissparty feiernden Landeier TuVeia. Bei der vergangenen Montag als Radioshow mit Liveübertragung im Netz veranstalteten Sistesjansen stellte man alle 15 bereits ausgeschiedenen Beiträge nochmals zur Wahl, was einerseits für einen wirklich hochvergnüglichen Wochenstart sorgte. Allerdings vergab man nur an einen von ihnen die begehrte Wildcard für das Finale und ließ so die Fans der anderen 14 Konkurrent:innen gleich ein zweites Mal in tiefer Enttäuschung zurück.
https://www.youtube.com/watch?v=NP6wGs_fJt4
Viel Lärm um Nichts: über zweieinhalb Stunden dauerte das MGP-Finale 2021.
Zumindest durften diesmal die Zuschauer:innen in allen Shows alleine abstimmen, und so nimmt es wenig Wunder, dass sich in dieser Runde der 52jährige Rock-Opi Jørn Lande mit seinem melodischen Metal-Schlager ‘Faith bloody Faith’ durchsetzte. Schließlich sind Hardrockfans für ihre Anrufstärke gefürchtet. Auch im gestrigen Finale konnten sich die kernigen Kerle und ihr hutzeliger Frontmann auf ihre Anhänger:innen verlassen, zumindest in der ersten Abstimmungsrunde. Gemeinsam mit dem Elektro-Blechbläser-Trio Blåsemafian, gegen welches die Hardrocker im ersten Semi noch den Kürzeren zogen, kamen sie weiter ins Silberfinale und trafen dort auf die fix gesetzten Finalisten Keiino und Tix, deren Publikumspremiere ironischerweise ebenfalls im ersten Semi stattfand. Zumindest die restlichen vier Samstagabende hätte sich NRK also im Prinzip komplett schenken können. Strenggenommen sogar alle fünf, denn ins abschließende Goldfinale gelangten dann nur noch die beiden Letztgenannten.
https://youtu.be/2e2T4HLyLk4
Schon ein prachtvoller Anblick: Jorn-Gitarrist Tore Moren, Bassist Sid Ringsby und Drummer Francesco Jovino. Und “God versus God versus Earth versus Life” ist leider eine verdammt gute Hookline.
Und nun galt das noch vom letzten stattgefundenen Eurovision Song Contest in 2019 als damalige Publikumssieger bekannte Popschlager-trifft-Joik-Trio Keiino eigentlich als von vorneherein felsenfest sicherer Favorit, zumal die Veröffentlichung ihres epischen aktuellen Wettbewerbsbeitrags ‘Monument’ vor gut einem Monat von verzückten Grand-Prix-Fans europaweit gefeiert wurde wie die zweite Erscheinung des Erlösers. Allerdings wirkt dieser gegen ihren damaligen Song ‘Spirit in the Sky’ weniger fröhlich und spielerisch, so als hätten die Drei ihren natürlicherweise eher unbeschwerten Stil eigens für die Jurys mit dunkel wabernder Schwermut angereichert, damit ihnen eine derartige Ungerechtigkeit wie in Tel Aviv nicht noch einmal zustößt. Ob es daran lag oder ob die Norweger:innen schlichtweg die Nase voll hatten von guten Platzierungen beim europäischen Gesangswettbewerb? Man weiß es nicht.
Wollten sich selbst ein Denkmal setzen: Keiino.
Fakt ist: sie stimmten mit knapp einhunderttausend Stimmen Vorsprung (!) für den 28jährigen Andreas Haukeland, einen unter dem Tourette-Syndrom leidenden und damit vorbildlich offen umgehenden Sänger mit mittelgescheiteltem, ungewaschen aussehenden Zottelhaar und mit dem eigenen, sich aus seinen krankheitsbdingten Ticks ableitenden Künstlernamen bestickten Kopfband. Der verdiente sein Geld in der Vergangenheit mit lyrisch fragwürdigen Abrissparty-Songs für hormongesteuerte Abiturienten, schwenkte aber nun zu persönlicheren Titeln um und genießt seither im Lande hohe Sympathiewerte. Seinen im Semi noch in Landessprache als ‘Ut av Mørket’ (‘Aus der Dunkelheit’) dargebotenen, autobiografischen Beitrag sang er im Finale auf englisch, und dabei soll es wohl auch in Rotterdam bleiben. Musikalisch kann ich zu ‘Fallen Angel’ nun leider überhaupt kein Urteil abgeben, weil mein Gehör sich nach den ersten drei Sekunden aus Gründen des Selbstschutzes automatisch taub schaltet. Immerhin: mein letzter Platz für 2021 steht schon mal. Hat sich ja gelohnt, NRK!
Roko hat angerufen und will seine Engelsflügel zurück: Tix.
Vorentscheid NO 2021
Melodi Grand Prix. Samstag, 20. Februar 2021, aus der H3 Arena in Fornebu, Norwegen. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Kåre Magnus Bergh, Silje Nordnes und Ronny Brede Aase.# | Interpreten | Songtitel | Bronzefinale | Silberfinale | Anrufe | Platz |
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01 | Atle Pettersen | World on Fire | x | - | - | - |
02 | Raylee | Hero | x | - | - | - |
03 | Stavangerkameratene | Who I am | x | - | - | - |
04 | Kiim | My lonely Voice | x | - | - | |
05 | Blåsemafian + Hazel | Let loose | Q | x | - | |
06 | Emmy | Witch Woods | x | - | - | - |
07 | Tix | Fallen Angel | Q | Q | 380.033 | 01 |
08 | Kaja Rode | Feel again | x | - | - | - |
09 | Rein Alexander | Eyes wide open | x | - | - | - |
10 | ImErika | I can’t escape | x | - | - | - |
11 | Keiino | Monument | Q | Q | 281.043 | 02 |
12 | Jorn | Faith bloody Faith | Q | x | - | - |
Ich finde den letztendlichen Beitrag ganz in Ordnung, aber meine Anrufe würde ich dafür jetzt auch nicht verschwenden. Warum der gute Herr den Beitrag nicht schon im Semi auf Englisch vorstellte, bleibt mir ein Rätsel. Wobei ich das Lied lieber auf Landessprache gehabt hätte. Ich würde aber trotzdem gerne wissen, wie er es schaffen konnte, sich gegen KEiiNO durchzusetzen. War es seine bereits im Artikel angesprochene Bekanntheit? War es seine bisherige Lebensgeschichte, die alle so berührend fanden? Oder wollen die Norweger einfach nicht um den Sieg mitspielen? Es bleibt wohl das größte Mysterium dieser Vorentscheids-Saison.
Naja, sooo scheiße ist die Nummer jetzt nun auch nicht. Aber trotzdem wäre ein Klebenbleiben im semi alles andere als überraschend.
Keiino hätten mit ihrem müden Aufguss ihres Erfolgstitel in Rotterdam übrigens auch nur einen ganz kleinen Blumentopf geholt.
Hallo zusammen, ich wollte schon seit Jahren auf dieser hervorragenden Seite mitkommentieren und nehme nun den. Sehr guten MGP zum Anlass.
@ESClucas98: die Sache ist leider sehr einfach. TIX ist schon seit mehreren Jahren einer der erfolgreichsten nationalen Acts in Norwegen und hatte dort schon 4 Nr1-Hits. Das wäre ungefähr so als würden sich bei uns Apache207 oder Bausa in einen Vorentscheid stellen, da würde deren Fanbasis dann auch dafür sorgen, dass sie gewinnen (Gott bewahre), während der Rest der Republik es nicht verstehen würde.
Ich für meinen Teil fand übrigens die norwegische Version sogar sehr gut, vor allem wenn man seinen Hintergrund (Tourett) mit einbezieht. Durch die englische Holzhammer-Übersetzung ist aber jegliche Originalität verloren gegangen. Der Betreiber dieser Website hört es nicht gerne, aber wenn es eine Landessprachenbonus Pflicht gäbe, wäre der Beitrag bei meinen Favoriten dabei, so bleibt nur ein schales 90er-Jahre Boyband-Poplied übrig, dass für alle Nicht-Norweger, die ihn nicht kennen einfach nur affig vorgetragen wird.
Noch ein Wort an den Seiteninhaber: Seit Jahren liebe ich diese Seite. Du schreibst mit einer teilweisen umwerfenden Ironie genau das was ich denke, auch über die vielen vergangenen ESCs, so dass ich manchmal Tränen vor Lachen in den Augen habe. Und auch wenn ich manchmal anderer Meinung bin (Geschmäcker sind halt verschieden) kann ich nur sagen…weiter so.???
Was den Siegertitel angeht: Nette Show, kann man sich angucken. Was das Hören des norwegischen Beitrags angeht, finde ich ihn eher vergessenswert. Oder sagen wir mal, es stört jetzt nicht, aber man braucht es auch nicht.
Keiino wäre mir lieber gewesen. Vor allem, weil ein Auf Wiederwichsen mit Tom Hugo ganz in meinem Sinne gewesen wäre.
@Gerd Geomax
Ja genau. Mein Kommentar war ein typischer Fall von “Zuerst geschrieben und dann erst recherchiert”. Scheinbar hat der gute Andreas seine Fans über Instagram nochmal richtig schön mobilisiert, um für ihn zu stimmen. Und das sind in Norwegen in der Tat sehr viele. Und ich denke mal, dass die Wahl von TIX in Norwegen für wenig böses Blut gesorgt hat. Halt nur in Rest-Europa. Und das ist das Fatale daran. Auch wenn ich nach wie vor nicht ausschließen möchte, dass Potenzial da ist, das Halbfinale zu überstehen.
Was für eine Schande! Für mich waren bis gestern Keiino Anwärter auf den internationalen Sieg. Ich verzeihe nicht, dass diese Gruppe mit dem (schmacht) bildschönen Tom Hugo (den ich ganz sicher nicht auf dem Bettvorleger erfrieren lassen würde) kaltgestellt wurde. Der vierte Sieg Norwegens wird wohl noch warten müssen. Kleiner Trost: Die Litauer haben es verdient, auch mal zu gewinnen.
Na Gott sei Dank, dann ist ja ein Hassbeitrag von mir weniger in Rotterdam. Fallen Angel finde ich zwar nicht so wahnsinnig besonders, aber das Lied habe ich tausendmal lieber als Keiinos pathetische, glattgebügelte Möchtegernhymne! Ich bedanke mich bei den norwegischen Zuschauern für diese Wahl!
PS: Das Juryergebnis von Spirit In The Sky fand ich vollkommen gerechtfertigt.
Was soll ich sagen: Ich finde “Fallen Angel” super, es gefällt mir richtig gut und ja: die Performance ist “drüber”, aber was soll’s. “Monument” hingegen ist mir zu kühl, zu konstruiert, berührt mich null. Ich bin mit TIX sehr happy.
Ich glaube, der Formatradio-Schlonz ist nicht die schlechteste Wahl gewesen. Und Keiino hätte ich grade in diesem Jahr bei all den Wiederkehrern des letzten Jahres nicht auch noch unbedingt gebraucht.
Gerne später nochmal mit einem weniger verkopften Titel.