Trotz der in diesem Jahr coronabedingt deutlich reduzierten Zahl an nationalen Vorentscheidungen ballte es sich am gestrigen langen Supersamstag dank der mangelnden Abstimmungsbereitschaft der einzelnen Rundfunkstationen mal wieder gewaltig: neben drei Finalrunden gingen ebenso viele Halbfinale über die Bühne, für deren Aufarbeitung ich mich daher schwerpunktmäßig auf die ausgeschiedenen Titel beschränken muss. Den Auftakt machte das zweite Semi der Eesti Laul, mit welcher der Sender bei der ersten Runde noch hilfreich auf den Donnerstag ausgewichen war. Warum nicht auch mit dieser, ETV? Die erfreulichste Mitteilung zuerst: kein Weiterkommen gab es für die Rockband Alabama Watchdog und ihren gleichnamigen, transphoben und covidiotischen Titel, mit dem sie die Bühne zur Verbreitung ihrer alternativen Fakten und Verschwörungstheorien nutzten. Gerüchteweise soll die Jury sie favorisiert haben. Insofern beruhigend, dass wenigstens die Eurovisionsfans bei der Abstimmung einen stabilen Schutzwall gegen die Infiltrierung des Events durch ultrarechte Ideologien bildeten, wo schon die nationalen Sender bei der Vorauswahl der Beiträge versagen.
Schade hingegen um die junge Indie-Pop-Ikone Helena Põldmaa alias Heleza. Ihr selbstgeschriebenes Stück mit dem merkwürdigen Titel ‘6’ punktete in der Studiofassung mit wunderlichen Lyrics in französisch und estnisch, einem entspannten Vibe und einem interessanten Videoclip mit viel nackter Haut und Honig. Für ihren Eesti-Laul-Auftritt griff die schöne Helena hingegen auf ein lila Kleid zurück, das in einer ähnlichen Form schon einst Charlotte Perrelli bei einem Pausenfüller-Auftritt im Melodifestivalen entstellte und in dem sie aussah wie eine singende Etagere. Im Zweikampf der Ukus unterlag mit Uku Haasma leider der falsche, konnte sein ebenso entspannter Alternative-Song ‘Kaos’ doch mit einem beim Song Contest völlig unüblichen Fadeout punkten. Und mit dem Modegeschmack seines Sängers, der eine Tingeltangel-Bob-Frisur mit einem Kreissägen-Strohhut und einer aufmerksamkeitsstarken, enganliegenden Jeans mit kribbelbunten Mustern kombinierte. An seiner Stelle konnte sich ungerechterweise das Sinnbild des überprivilegierten, weißen heterosexuellen Cis-Mannes, Uku Suviste, als ‘The lucky One’ über den Finaleinzug freuen. Warum nur, warum?
Oh Tannenbaum / Oh Tannenbaum / Heleza ist / kaum anzuschau’n.
Hasmaa ’n Euro? Der sympathische der beiden estnischen Ukus (Ukue? Uki?) mit charakteristischer Coronafrise.
Dem aktuell in den Eurovisionsvorentscheidungen omnipräsenten Trend zu härteren Klängen wollte man sich scheinbar auch in Schweden nicht verschließen und räumte in der gestrigen dritten Vorrunde des Melodifestivalen einen Startplatz für die Rockband Mustasch frei. Leider erwies sich jedoch der namensgebende Backenbart des Frontmanns Ralf Gyllenhammar noch als das Erwähnenswerteste am gesamten Auftritt. Der Song ‘Contagious’, ein schwächlicher Schlager im Tarnfleck, flog zu Recht heraus. Bis in die Andra Chansen schaffte es hingegen der als Latino-Stampfer getarnte schwächliche Schwedenschlager ‘Baila baila’ des vielfachen Backgroundtänzers Alvaro Estrella, der so himmelschreiende Textzeilen servierte wie “Viva Love forever, you and me together” und dem hierfür der Marquess-Preis für lieblos zusammengeschusterte Sommerhit-Scheiße mit skrupellos schlechten Lyrics verliehen sein soll. Hoffen wir mal, dass der bevorstehende Abgang des Mello-Meisters Christer Björkman die Chance bietet, dass der schwedische Vorentscheid sich freimachen kann von den immergleichen Baukastenbeiträgen aus der Klischeekiste. An der Zeit wäre es!
Ein bisschen Aroma, ein bisschen Paloma, ein bisschen Chi-Chi: man kann diesen gefälschten Fließbanddreck wirklich nicht mehr ertragen.
Erholen wir uns daher abschließend bei dem nationalen Vorentscheid, bei dem man sich der seriellen Seichtigkeit noch immer vorbildhaft verschließt und sich stattdessen der landestypischen Lust an der spröden Fadheit der eigenen Kultur hingibt: dem Festival da Canção nämlich, dessen erstes Semifinale den gestrigen Abend beschloss und die von Favoritenstürzen und Endzeit-Metal erhitzten Gemüter sanft wieder herunterkühlte. Hier galt es unter anderem, den Verlust der 30jährigen, zeitweilig in Berlin lebenden Singer-Songwriterin Sofia Marques zu beklagen, die unter dem Künstlerinnennamen mema. antrat und mit ‘Clara como Água’ (‘Klar wie Wasser’) ein sperriges, ganz sanft elektrifiziertes Indie-Geplinker präsentierte. Schade drum, nicht zwingend wegen des Liedes, sondern vielmehr wegen der zwei anmutigen schwarzen Tänzer, die barfüßig und in mit dem selben Rohrschachmuster wie das Outfit der Sängerin bedruckten Pyjamas zu den Liedklängen vogueten, dass das Auge sich kaum sattsehen konnte an dem Anblick. Schön!
Kaltes klares Wasser ist was ich brauche nach dieser Nummer: mema.
Schön auch auf seine Art das ebenfalls ausgeschiedene schwungvolle Folkliedchen ‘Girassol’ (‘Sonnenblume’) aus der Feder des 21jährigen Newcomers Miguel Marôco. Den wollte man schon während des Auftritts am liebsten liebevoll in den Arm nehmen, weil er sich so ein bisschen verkrampft hinter seiner Gitarre verschanzte, so als müsse er sich gegen die aufdringliche Kamera schützen. Und während man sich am thematisch passenden Sonnenblumenmuster seines Hemdes und an seiner formschönen Brust- und Gesichtsbehaarung delektierte, kroch das zunächst total unauffällig im Hintergrund dahinplätschernde Liedlein langsam, aber stetig in die Gehörgänge. Weniger schön hingegen der Carcrash, den die schwangere Singer-Songwriterin Ian mit ‘Mundo’ hinlegte. Deren vom ersten bis zum letzten Ton komplett schiefen Gesangskünste sorgten nämlich für exakt die Schmerzen, die sie mit den gigantischen Echsenstacheln auf ihrem schwarzen PVC-Gewand visualisierte. Absicht? Zufall? Egal, für sie hieß es zu Recht: Feierabend.
Gleichzeitig irre spröde und total süß: Miguel Marôco.
Schade nur, dass der portugiesische Sender RTP durch die Terminierung des FdC den Supersamstags-Stress zusätzlich erhöhte: früher mal, wo alles besser war, fand das traditionsreiche Festival fanfreundlich am Sonntag statt und nicht am Samstag, wo ohnehin schon alle Anderen auf Sendung gehen. Immerhin sorgte der (übliche) späte Showbeginn um 22 Uhr für etwas zeitliche Entzerrung. Zum Schluss noch ein Lob an RTP: gerade im Kontrast zu dem unverantwortlichen Superspreader-Event der Eesti Laul gestaltete man in Lissabon die Greenroom-Interviews vorbildlich, nämlich mit maskentragenden, weit auseinander sitzenden Künstler:innen und Mikros mit Griffverlängerungen zur Einhaltung der Mindestabstände. Danke dafür!
Ein Hingucker: Ians Nefelibata-Perücke.
Schade,Miguel Marocos Song wäre schon als ESC Beitrag geeignet gewesen.
uiuiui, da war aber einer fleissig am super-saturday?.
War doch interessant. Eine riesen-überraschung in norwegen, eine super-überzeugende und fabelhaft aussehende laperelli, ein immerhin hübscher, schmalzbelockter dafür schnarchiger spanier, melodifestival-weichgespülter hardrock aus finnland und zum abschluss einschläferndes aus portugal. Esc-herz, was willst du mehr.
Danke für deine wie immer extremst unterhaltsamen artikel.
Diese Zusammenfassung spricht mir aus der Seele, vor allem da ich den Abend mit Portugal und einem schönen Glas Wein auf dem Sofa abschließen konnte.
Schade um Miguel, aber die noch schöneren melancholischen Augen gibt ja im Finale nochmal.