‘Russkaja Zhenshhina’ (‘Russische Frauen’) heißt der passend am und zum Internationalen Tag der Frau ausgewählte Song, mit dem die Föderation in Rotterdam ins Rennen geht. Vorangegangen war, wie für das Land üblich, mal wieder eine lange Phase des Schweigens und der Spekulationen, vor allem um die Frage, ob die aktuell wohl bekannteste russische Band der Welt, die letztes Jahr intern bestimmten Little Big, nochmal geschickt würden oder nicht. Selbst bis knapp vor Sendebeginn der sehr kurzfristig am heutigen Abend ins Programm des Ersten Kanals eingeschobenen Nationalen Vorentscheidung ließ der Sender die begierig wartende internationale Fangemeinde im Unklaren, ob das Quartett, das mit dem legendären Video des für den ESC 2020 vorgesehenen Beitrags ‘Uno’ alle Klickzahlenrekorde brach, nur als Stargäste an der Show teilnähmen oder als erneute Bewerber:innen. Zumal die Band pünktlich zum Vorentscheid ihre neue Single ‘Sex Machine’ veröffentlichte, erneut mit dem eigentlichen Star, dem putzigen tanzenden Bärchen.
https://www.youtube.com/watch?v=w5PMVbO5f‑o
Ein bisschen arg verkniffen, der Herr Maitz.
Doch die kam heute Abend nicht einmal zur Aufführung: tatsächlich durften die live im brechend vollen Sendestudio (Corona scheint in Russland dank Sputnik‑V wohl abschließend besiegt!) anwesenden, gleich zu Beginn abgefeierten Little Big nur ihren verhinderten Eurovisionsbeitrag noch einmal bringen und spielten danach keine Rolle mehr für die ursprünglich auf eine Stunde geplante Sendung. Ob nun die Band einfach keine Lust hatte oder den Verantwortlichen des russischen Fernsehens ihre Vorschläge nicht zusagten, bleibt Spekulation. Fakt ist: stattdessen traten drei Acts an, die sich einem reinen Televoting stellen mussten. Was Anlass zur Vermutung gibt, dass der Sender alle drei in der Kürze der Zeit zusammengesammelten Songs als zu schwach für einen möglichen Sieg empfand und daher die Verantwortung dem Publikum zuschieben wollte, denn die letzte russische öffentliche Vorentscheidung liegt nun wirklich schon Äonen zurück. Los ging es mit einem ironisch ‘The Future is bright’ betitelten, extrem düsteren Rocksong des ehemaligen The-Voice-Teilnehmers Therr Maitz, gefolgt von einem aus der gleichen Castingshow stammenden Damenduo namens 2Mashi (zwei Mashas, beide tragen den gleichen Vornamen), die ‘Bitter Words’ servierten.
Wieso singen Tatu jetzt in einem Englisch-Spanisch-Mischmasch? Und wo haben sie die furchtbaren Klamotten her? Fragen über Fragen, und 2Mashi gaben keine Antworten.
Ein kollektives Aufatmen ging durch Eurovisions-Twitter, als der dritte Act zum Vortrag ansetzte: die 1991 in der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan geborene Manizha Dalerovna Khamrayeva musste wegen des dort nach der Unabhängigkeitserklärung tobenden Bürgerkriegs schon als Kleinkind mit ihren Eltern nach Moskau fliehen, wo sie aufwuchs und Psychologie studierte. Die bereits seit ihrem 12. Lebensjahr als Sängerin auftretende Manizha will mit ihrem Eurovisionsbeitrag, einer hektisch-frappierenden Mischung aus Hip-Hop, Folk und Elektro, die klingt wie aus fünf verschiedenen Ideen zusammengedengelt, ihren Geschlechtsgenossinnen ein Denkmal setzen. Sie singt – oder vielmehr schreit – in Russisch (mit ein paar englischen Einsprengseln), was wir nun schon wirklich lange nicht mehr hatten. Dazu überzeugte sie mit einem Kostümwechsel und starkem Selbstbewusstsein. Die wollen wir, war sofort allen in der Fanblase klar, und wir bekamen sie im Laufe des Abends auch.
Starke Frauen kann es nie genug geben, ob aus Russland oder überall her: Manizha.
Bis dahin mussten die Zuschauer:innen allerdings im Rahmenprogramm des Vorentscheids noch ein weiteres Interview mit dem russischen Ralph Siegel, Phillip Kirkorov, über sich ergehen lassen, der eigentlich angereist war, um den von ihm produzierten moldawischen Eurovisionsbeitrag ‘Sugar’ zu promoten. Doch seine unendliche Eitelkeit siegte: die brav neben ihm auf dem Sofa sitzende Natalia Gordienco durfte nicht ein einziges Mal den Mund aufmachen und erst recht nicht ihren Song vorstellen. Stattdessen sang der Maestro eine Discofox-Schlager-Version seines 1995er Eurovisionsbeitrags. Warum? Welche dunklen Staatsgeheimnisse hat der Mann in der Hand, dass man ihm so etwas nicht nur durchgehen lässt, sondern aktiv ermöglicht? Auch Dima Bilan durfte zu seinem Siegertitel ‘Believe’ nochmal im Vollplayback so hart overacten, dass sich die Balken bogen. Die beiden Schrankschwulen sorgten für eine derartig massive Sendezeitüberziehung, dass die Ergebnisverkündung bis nach der ruckartig eingeschobenen Hauptnachrichtensendung warten musste, in welcher Präsident Putin, bekanntlich einer der absoluten Vorkämpfer für Gleichstellungsrechte, dann eine zehnminütige Ansprache zum Weltfrauentag hielt…
Weltfrauentag gut und schön, aber wenn der alte Mann nochmal auf die Bühne will, haben die jungen Hühner zu schweigen: Phillip ‘Vulkan’ Kirkorov.
Umso erfreulicher mutet die mit knapp 40% des Televotings klare Bestätigung des Publikums für die Sängerin an, die sich einem Portrait des Calvert Journals zufolge seit Jahren offen für die Rechte von Frauen, Minderheiten, Flüchtlingen und der LGTBQ-Community einsetzt. Als Schülerin selbst Bullying ausgesetzt, macht sie in ihrer Musik beispielsweise den Rassismus deutlich, dem Menschen aus den zentralasiatischen Republiken im europäisch geprägten Russland ausgesetzt sind. “Das Erwachen von nativen Völkern und Minoritäten ist zum popkulturellen Trend geworden. Aber wir müssen dafür sorgen, dass dieser Trend die Normen verändert,” so Manizha. Denn (nicht nur) in Russland träfe noch immer “alles Neue auf Ablehnung. Freiheit und Selbstbestimmung haben hier keine Tradition. Weil sie mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt sind, finden es Viele schwierig, positiv mit etwas umzugehen, das nicht ins bestehende System passt”. Doch wenn man die anfängliche Angst überwände und die Dinge anspräche, würden irgendwann “die Mauern einstürzen,” so die Hoffnung der Dreißigjährigen.
In diesem Lied überwindet Manizha die Ablehnung durch die Dorfbevölkerung mit der Kraft des Gesangs.
Und tatsächlich spricht Manizha, wenn man einer auf Twitter geposteten Übersetzung glauben darf, all diese ihr am Herzen liegenden Themen auch in ihrem ESC-Song an. “Du bist schon über Dreißig, wo bleiben die Kinder? / Du bist hübsch, aber du musst abnehmen / Du musst kürzere Kleidung tragen / Du musst längere Kleidung tragen,” nimmt sie beispielsweise einige der Litaneien aufs Korn, die sich Frauen tagtäglich ungefragt anhören müssen. Doch “jede russische Frau muss wissen / sie ist stark genug, um gegen die Wand zu springen,” spricht sie ihren Leidensgenossinnen Mut zu. Und fragt zugleich nach gegenseitiger Unterstützung: “Wie schaffe ich es alleine durch ein brennendes Feld? Mädels, wer reicht mir die Hand”? Es steckt eine Menge in dem Song, und so verwundert auch dessen manchmal ans Verwirrende grenzende musikalische Reichhaltigkeit wenig. Jedenfalls erstaunt die Nummer, je länger man sich mit ihr beschäftigt, um so mehr. Gerade weil man sie, zumindest als ignoranter Westler, am Allerwenigsten aus Russland erwartet. Aber das macht sie natürlich um so erfreulicher.
Triggerwarnung: in diesem absolut sehenswerten Video geht es um Gewalt in der Familie, auch eines von Manizhas Themen.
Vorentscheid RU 2021
Evrovidenie – Nacionalnyj Otbor. Montag, 8. März 2021, aus dem Mosfilm-Studio in Moskau. Drei Teilnehmer:innen. Moderation: Yana Churikova. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz |
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01 | Therr Maitz | Future is bright | 24,6% | 03 |
02 | 2Mashi | Bitter Words | 35,7% | 02 |
03 | Manizha | Russkaja Zhenshhina | 39,7% | 01 |
Ich hätte gerne bitte noch die Adresse von Kirkorovs plastischem Chirurgen. Er sieht ja unfassbar „frisch“ aus. Nicht erwähnen muss ich wohl, dass mir die Discoversion seines ESC-Songs hunderttausendmal besser gefällt als der ausgewählte Song…
Uh, Ah, MC Hammer auf russisch.…schade das es doch nicht Little Big geworden ist…
Geiles Video!
Die Weltfrauentags-Hymne ist aber auch ganz unterhaltsam, besonders die zweite Hälfte.
Nur das Audio gehört, liest da eine was aus einem Buch vor, untermalt von modernen Ethno-Humtata-Klängen. Danke übrigens für die Erklärung des Textes. Knackpunkt nur: Nichts gegen Songs mit Botschaft, aber wenn man mir das alles erst erklären muss, zündet es einfach nicht. Da lob ich mir doch ein “I don’t feel hate, I just feel sorry”, weil ich da gleich weiß worum’s geht. Gut, englisch ist natürlich auch hilfreicher als russisch.
Und um ehrlich zu sein: In diesem Jahr berufen sich viele Beiträge auf traditionelle Wurzeln, auf Klänge nationaler Identität bzw. aus zumindest Teilen des Landes (wenn so groß wie z.B. Russland). Ist ja im Prinzip auch ganz nett und vollkommen in Ordnung. Aber aufgrund der Fülle in diesem Jahr schleift sich das bei mir irgendwie ab. Das klingt für mich in dieser Dimension einfach nur noch bemüht, wie ein Kultur-Holzhammer, der ESC als Grand Prix der Volksmusik.
Den Siegerbeitrag finde ich toll und freue mich sehr für Manizha – aber schade, dass 2Mashi mit diesem englisch/spanischen Beitrag angetreten sind. Eigentlich finde ich die beiden super, aber gerade auf englisch war das irgendwie nichts.