Fünf lange Abende hintereinander immer wieder dieselben Canzoni, jedes Mal bis tief in die Nacht hinein, spektakuläre Abendrobe und Auftritte, stundenlange Comedy- und Talkshoweinlagen, adorable alte Diven und hinreißend schöne junge Rapper, gefühlt zehntausend Werbeunterbrechungen und ein absolut bizarres Wertungsverfahren: man muss das San-Remo-Festival wirklich von der ersten bis zur letzten Sekunde lang genießen, um es in all seiner absolut maßlosen, glamourösen, schrecklichen Schönheit richtig wertschätzen zu können! Was auch für die 26 Wettbewerbsbeiträge gilt: spätestens am Finalabend, bei der dritten Wiederholung, hatte man sie sich alle schöngehört und spielte es schon fast keine Rolle mehr, wer nun das traditionsreiche ligurische Liederfestival gewann. Fast, wohlgemerkt, denn tatsächlich trafen die Italiener:innen gestern gegen halb drei in der Nacht unter den drei im Superfinale verbliebenen Bewerber:innen die absolut richtige Wahl und kürten das Glamrock-Quartett Måneskin zu ihren Sieger:innen.
“Leise und nett”, so ihr Songtitel, sind Måneskin nicht. Und das ist auch gut so! (Leider, wie alle Beiträge, nur als Musikvideo, sämtliche Live-Auftritte musste die Rai erneut depublizieren, damit die Plattenfirmen mit der Youtube-Werbung Geld verdienen können. Sterbt, elende Contentwichser!)
Die nach dem dänischen Wort für “Mondschein” benannte römische Band – die Bassistin Victoria De Angelis stammt aus dem skandinavischen Land – verkörperte in ihrer genderfluiden optischen Androgynität aufs Wunderschönste das sich wie ein roter Faden durch alle fünf Abende der Show ziehende Thema der aufbrechenden gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, zu der auch die beiden Moderatoren Amadeus und Fiorello mit ihrer offen präsentierten Bromance; die teilnehmenden Künstler:innen, welche die Unart, alle auftretenden Damen mit Blumen zu bedenken, die Herren aber nicht, so lange selbst auf die Schippe nahmen, bis die Festivalleitung nachbesserte und am Finalabend die floralen Gaben endlich an Alle verteilte; vor allem aber der Stargast Achille Lauro bei, der an jedem der fünf Abende eine fabelhafte, queere Show ablieferte und auf offener Bühne auch schon mal Zungenküsse mit seinen Bandmitgliedern austauschte. Måneskin selbst, die 2017 durch eine Castingshow Bekanntheit erlangten und im Lande bereits eine Reihe von Hits vorweisen können, thematisierten in ‘Zitti e buoni’ (‘Leise und nett’) die Ermahnungen der Erwachsenen und das Gerede, dass ihnen seit der Jugend als Reaktion auf ihre Andersartigkeit begegnet.
Stand mit seinem Rockerschick für ein eher traditionelles Rollenbild von toxischer Maskulinität: der gesperrte Irama.
Freilich war nicht jedem der 26 Kombattant:innen eine progressive Einstellung zueigen: so gab es gegen den ehemaligen Sieger der Sanremo-Nachwuchskategorie, Filippo Maria Fanti alias Irama, aufgrund eines früheren Songtextes Vorwürfe der Transphobie. Irama, der mit ‘La Genesi del tuo Colore’ im Vorfeld als Mitfavorit galt, konnte während der gesamten Woche nicht live auftreten, da einer seiner Teammitglieder positiv auf Covid getestet wurde und er daher in Quarantäne musste. Stattdessen zeigte man – nach Zustimmung aller Konkurrent:innen – die Aufzeichnung von der ersten Probe. Sein Kollege Willie Peyote präsentierte mit dem elektrobeat-flotten und refrainstarken ‘Mai dire mai’ wiederum musikalisch einen der besten Beiträge des Wettbewerbsfeldes, der sich lyrisch allerdings als eher rückwärtsgewandte Anklage gegen den Wandel des Musikbusiness durch Streamingdienste und als teils direkter Angriff auf seine rappenden Mitbewerber las, die “selbst beim Reden Autotune einsetzen” und “aussehen wie Marylin Manson”.
Okay, Boomer: Willie Peyote hat etwas gegen moderne Techniken.
Die Nutzung der Stimmenbearbeitungssoftware insbesondere durch die Sprechgesangskünstler gehörte tatsächlich zu den Auffälligkeiten dieses Jahrgangs. Prominentes Beispiel: der bis zum Hals zutätowierte, aber stets ordentlich sämtliche Requisiten wieder aufräumende Rapper Fedez, der die frühere italienische Eurovisionsrepräsentantin Francesca Michielin bei einem musikalisch eher konventionellen (und kommerziell mit # 2 der heimischen Singlecharts sehr erfolgreichen) Balladenduett begleitete. Besser mal darauf zurückgegriffen hätte hingegen wohl sein Kollege Emanuele Caso alias Random, der sein ‘Torno a te’ völlig ungefiltert und mit absolut hinreißender Hingabe hinauskrähte, dabei jedoch von Auftritt zu Auftritt ohrenzermürbend schiefer sang und schließlich nicht unverdient Letzter wurde. Wenigstens steigerte er sich optisch und trat am Finalabend in einem augenbetäubenden, silberglitzernd-neonbunten Anzug an, der seines Gleichen sucht. Insgesamt wirkte Randoms Performance dermaßen hilflos, aber von Herzen kommend, dass mir die Muttermilch einschoss und ich ihn auf der Stelle adoptieren wollte.
Scheitern in Würde: in meinem Herzen wird Random stets einen Platz finden.
Eins der Dinge, die San Remo stets einen besonderen Flair verleihen, ist die dortige Wertschätzung steinalter Schlagerdiven. So verwöhnte man uns im Rahmenprogramm mit Legenden wie Gigliola Cinquetti, der etwas angsteinflößenden Loredana Bertè oder der auch mit 87 Jahren nach wie vor absolut vergötterungswürdigen Ornella Vanoni. Die teilte sich beim San-Remo-Festival von 1966, wo alle Lieder noch von jeweils zwei Sänger:innen interpretiert wurden, ihren Song mit der zehn Jahre jüngeren Orietta Berti, welche sich heuer mit der nostalgischen Ballade ‘Quando ti sei innamorato’ gar im Wettbewerb wiederfand und ihre zwölfte San-Remo-Teilnahme zelebrierte. Und an jedem Abend mit einem anderen, paillettenbestickten Hausanzug zum unschlagbaren Glamour-Faktor beitrug. Als Ornellas legitime Nachfolgerin in Sachen göttinnenhafter Ausstrahlung und Grazie erwies sich Malika Ayane, die mit ‘Ti piaci così’ zwar nicht den Pop neu erfand, aber so geschickt mit der (unfassbar aufdringlichen) Kamera spielte, dass man vor dem Bildschirm gelegentlich das Atmen vergaß.
Viva la Mamma: die Berti.
Unterhaltsame Bühnenshows lieferten die Politacts ab, so die Steampunkband Extraliscio, die sowohl einen Gastsänger mit Cro-Maske als auch einen in die Jahre gekommenen Bryan-Ferry-Imitatoren aufboten und die mit ‘Bianca luce nera’ einen interessanten Stilmix aus Klezmer- und traditioneller Tanzmusik der Lombardei des 19. Jahrhunderts im Popgewand kredenzten. Großartig! Lo Stato Sociale griffen für ihren ‘Combat Pop’ in die Trickkiste und lenkten mit Kostümwechseln im Sekundentakt und einem Bassisten in einer schwebenden Box von ihrem eher mäßigen Song ab. Den umgekehrten Weg ging Max Gazzè, dessen angebliche Trifluoperazina Monstery Band aus ein paar Pappfiguren bestand und der sich beim ersten Auftritt als Leonardo da Vinci verkleidete, im Finale hingegen, wo alle anderen beim Outfit noch eine Schippe drauflegten, einfach als Max Gazzè kam. Er nahm in dem psychedelisch-poppigen ‘Il Farmacista’ (‘Der Apotheker’) die Unsitte auf die Schippe, jede Stimmungsschwankung oder durch gesellschaftliche Zwänge empfundene “Imperfektion” medikamentös behandeln zu wollen, statt etwas an den Ursachen zu ändern.
Er mixt dir einen magischen Trunk: Max Gazzè.
Der Preis für die beste Showeinlage muss jedoch an das sizilianische Singer-Songwriter-Duo Colapesca (Lorenzo Urciullo) und Dimartino (Antonio Di Martino) gehen, die in an jedem Abend in einer anderen Pastellfarbe aufeinander abgestimmten Anzügen die meiste Zeit etwas unbeholfen über die Bühne tapsten wie Crockett & Tubbs beim Karaōke-Abend – nur, um uns kurz vor Ende mit einem jedes Mal aufs Neuerliche völlig überraschend auftauchenden Rollergirl zu erquicken, die eine herrliche Achtzigerjahre-Tanzchoreografie hinlegte. Sie schafften es mit ihrer zuckerwatteleichten und supereingängigen ‘Musica leggerissima’, auch dank der kriminell schlechten Bewertung durch die demoskopische Jury und das (warum?) erstmals abstimmungsberechtigte Orchester, gerade so nicht ins Superfinale, in dem sich Måneskin gegen das bereits erwähnte Balladenpärchen (gegen welches sie in der Erstabstimmung übrigens noch den Kürzeren zogen) und den ehemaligen Grand-Prix-Vertreter und Juryliebling Ermal Meta durchsetzen konnte.
Starkes Bartgame, wie alle Herren: Colapesce & Dimartino (plus alle weiteren Sanremo-Titel als Playlist).
Wie immer fand neben dem Hauptkampf der 26 Campioni auch ein acht Beiträge umfassender Nachwuchswettbewerb der Nuove Proposti statt, und es blutet mir das Herz, dass wir deren drei Erstplatzierte nicht ebenfalls zum Eurovision Song Contest schicken können, und sei es für San Marino, die Schweiz und Malta. Was die (im übrigen auch optisch sehr überzeugenden) Herren Folcast, Davide Shorty und vor allem Luca Gaudiano hier hinlegten, erwies sich nämlich durch die Bank als hervorragend, um nicht zu sagen: besser als die Lieder der Alteingesessenen. Lucas Akklamation sorgte für den vielleicht schönsten Moment des fünftägigen Show-Marathons: die aufrichtige Sympathie und Liebe, die ihm der Zweitplatzierte Shorty im Moment seines Triumphes zuteil werden ließ, und Gaudianos Freudentränen ließen wohl kein Herz ungerührt.
Me gusta: Folcast.
Vorentscheid IT 2021
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 6. Februar 2021, aus dem Teatro Ariston in San Remo. 26 Teilnehmer:innen. Moderation: Amadeus, Rosario Fiorello.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Orch. | Presse | Televote | Platz |
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01 | Ghemon | Momento perfetto | 25 | 10 | 19 | 01,13% | 21 |
02 | Gaia Gozzi | Cuore amaro | 12 | 12 | 20 | 01,12% | 19 |
03 | Irama | La Genesi del tuo Colore | 03 | 13 | 08 | 07,74% | 05 |
04 | Gio Evan | Arnica | 21 | 24 | 24 | 01,01% | 23 |
05 | Ermal Meta | Un Milione di Cose da Dirti | 01 | 01 | 05 | 08,48% | 18,21 % | 03 |
06 | Fulminacci | Santa Marinella | 13 | 15 | 16 | 01,74% | 16 |
07 | Francesco Renga | Quando trovo te | 10 | 19 | 22 | 01,12% | 22 |
08 | Extraliscio + Davide Toffolo | Bianca luce nera | 19 | 03 | 18 | 02,29% | 12 |
09 | Colapesce + Dimartino | Musica leggerissima | 17 | 14 | 01 | 08,10% | 04 |
10 | Malika Ayane | Ti piaci così | 04 | 16 | 09 | 01,13% | 15 |
11 | Francesca Michielin + Fedez | Chiamami per nome | 07 | 21 | 11 | 16,02% | 28,26 % | 02 |
12 | Willie Peyote | Mai dire mai (La Locura) | 09 | 04 | 03 | 05,86% | 06 |
13 | Orietta Berti | Quando ti sei innamorato | 22 | 02 | 12 | 04,05% | 09 |
14 | Arisa | Potevi fare di più | 11 | 05 | 07 | 03,29% | 10 |
15 | Bugo | E invece sì | 24 | 23 | 23 | 00,90% | 24 |
16 | Måneskin | Zitti e buoni | 15 | 06 | 02 | 13,02% | 53,53 % | 01 |
17 | Madame | Voce | 20 | 18 | 10 | 05,37% | 09 |
18 | La Rappresentante di Lista | Amare | 14 | 09 | 04 | 02,68% | 11 |
19 | Annalisa Scarrone | Dieci | 02 | 07 | 17 | 04,72% | 07 |
20 | Coma_Cose | Fiamme negli Occhi | 18 | 26 | 13 | 02,67% | 20 |
21 | Lo Stato Sociale | Combat Pop | 08 | 11 | 15 | 01,79% | 13 |
22 | Random | Torno a te | 23 | 25 | 26 | 00,45% | 26 |
23 | Max Gazzè | Il Farmacista | 16 | 08 | 14 | 00,66% | 17 |
24 | Noemi | Glicine | 05 | 17 | 06 | 01,60% | 14 |
25 | Fasma | Parlami | 06 | 20 | 21 | 01,69% | 18 |
26 | Antonio Aiello | Oro | 26 | 22 | 25 | 01,38% | 25 |
Maneskin ist überhaupt nicht mein Geschmack. Außer der offensiven Queerness gefällt mir daran leider nichts. Teilen kann ich die Begeisterung für die unfassbar attraktive und talentierte Malika Ayane. Aber kein Wort über die anderen Diven Arisa und Noemi? Trotz etwas konventioneller Songs haben mir die beiden am besten gefallen.
Ich bin sehr glücklich mit der Wahl. So rockig war der ESC schon viele Jahre (Georgien und Montenegro war in 2016 die letze Rock-Doppelpaarung). Mit Ermal Meta und seiner Herzen gehenden Ballade hätte ich aber auch gut leben können. Überhaupt nicht überzeugen konnten mich das dann doch noch im Finale gelandete Duo aus dem schlimmen Autogtuneten Febreze (oder so ähnlich) und der tapferen Francesca (ich liebte ihren Beitrag 2016 bis sie auf die dämliche Idee kam, den Refrain auf Englisch singen zu müssen…ich glaube, dass hat sie damals die verdiente Top10-Platzierung gekostet). Ich hätte ja lieber Arisa oder La Rappresentante im Finale gesehen. Aber unterm Strich…Brava Italia…jedes Jahr klingt ihr anders und ich glaube, deshalb liebt Europa Euch so.
Super Wahl! Vor allem aber eine tolle Leistung von der RAI, wie sie durch viele bunte Lichter und eine große Bühne mit verteiltem Orchester den Eindruck erweckten, es sei eine ganz normale große Show; man hatte zum ersten Mal seit knapp einem Jahr nicht den Eindruck, dass irgend etwas anders als sonst oder dass das Auditorium leer war. Dazu die wie immer chicen Klamotten und klassisch farbenfrohe italienische Werbung und man fühlte sich eine schönere, buntere Welt versetzt. Grazie a tutti!
Kann man schon mal machen. Nicht, dass es nicht noch besser ginge, aber das soll jetzt keine Gemeckere sein. Unterm Strich gefällt mir aber Finnland besser und denke auch, die werden besser abschneiden.
Der Auftritt im Sanremo Finale war klasse, die Probeschnipsel aus der ersten Woche in Rotterdam der Hammer!
Die haben eine irre Chemie in der Band, und die können sie auch nach außen transportieren.
Das wird einer der legendärsten ESC Momente ever nächsten Samstag im Finale.
und jetzt üben wir alle schon mal für Mailand 2022 die Personalpronomen:
Sono fuori di testa, ma diverso da loro!
E tu sei fuori di testa, ma diversa da loro!
Siamo fuori di testa, ma diversi da loro!
Ah, und den Sanremo Auftritt gibt es wieder auf Vimeo:
Auch die fantastische Retronummer “musica leggerissima” mit einem tollen tiefgründigen Text:
ciao e rimani in salute!